Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3). Judith Kilnar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Kilnar
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Год издания: 0
isbn: 9783964640079
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wie das Unmögliche möglich geworden war. Mein Körper hatte sich über die Gesetze der Natur der Augenschönen hinweggesetzt, und zwar nicht im positiven Sinne. Es war unvorstellbar, aber mein unsterblicher Körper hatte sich allem Anschein nach eine Krankheit eingefangen, die er nicht sofort und im Verborgenen hatte beseitigen können.

      »Oh doch, Lucy, du bist ganz sicher krank, erzähl mir keine Lügen. Du hast nicht einmal genügend Kraft, einen einfachen Bogen anzuheben, geschweige denn, normal zu laufen.«

      Ich wollte ihr ins Wort fallen, doch sie hatte sich gerade erst in Rage geredet.

      »Zudem hast du dich eben übergeben. Übergeben, Lucy, ist dir das klar? Ich weiß nicht, was oder wie du dir … vermutlich auf eurer Reise … etwas eingefangen hast, aber eines ist klar: Du bist krank und brauchst wie jeder Kranke Ruhe, anstatt dich hier im Wald abzumühen.« Sie richtete sich auf und blickte zurück auf den Weg, der zur Wiese führte.

      Ich blieb stumm. Was sollte ich denn auch sagen?

      »Ich werde sofort Tatjana verständigen, damit sie dich vom Training befreit.« Ihre Brauen waren besorgt zusammengezogen, und sie hob gespielt streng den Zeigefinger. »Wehe, du rührst dich vom Fleck.«

      Ich wollte bitter auflachen. Als ob ich das gekonnt hätte!

      Doch es kam nur ein grässliches Krächzen über meine Lippen. Über Caitlins Gesicht huschte ein mitleidiger Ausdruck, bevor sie ihre Omunalisuhr hervorzog und in einem gelben Leuchten verschwand. Ein intensiver Duft nach Zitrone wehte mir entgegen. Gab es etwa einen Gott der Zitronen?

      Die Seele ist das einzig Unantastbare –

      nur Liebe kann sie zerstören.

      (Omun, Augenschöner)

      Kapitel 3

      Ich klammerte mich an den Baum und schloss die Augen. Fast sofort wollten mich meine Gedanken in die altbekannte Richtung ziehen. Sie beabsichtigten, meine Verzweiflung aufkommen zu lassen und mich in dem wilden Strudel aus Leere und unerfüllten Hoffnungen alleinzulassen. Doch ich kämpfte mit allen Mitteln dagegen an, sträubte mich gegen die Kapitulation und suchte nach einem Punkt, der mir Halt bot.

      Ein Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. Das eines lachenden Mädchens, fast schon einer jungen Frau. Sie hatte mir früher in genau diesen Momenten beigestanden, auch wenn es mir bei Weitem nie so schlecht gegangen war wie jetzt. Tränen traten mir in die Augen, und ich versuchte nur halbherzig, sie wegzublinzeln. Trauer tat weh, doch sie war so viel besser als die Alternative, nämlich der unweigerliche Schmerz, den das Loch trotz allem nicht ersticken konnte, in das ich unversehens zu fallen drohte.

      Stattdessen kramte ich in meinem Kopf nach Erinnerungen. Erinnerungen an meine Zeit als Tochter des Dukes und der Duchesse de Mintrus im England des 17. Jahrhunderts. Rückblickend betrachtet, erschien mir mein damaliges Leben nahezu unbeschwert, das ich auf unserem Landsitz verbracht hatte, gemeinsam mit meiner großen Schwester Evie.

      Doch es fiel mir schwer, nach Bildern zu stöbern. Sie waren verschwommen, unscharf. Entsetzt stellte ich fest, dass ich mich an immer weniger erinnern konnte. Ich hatte sogar schon fast vergessen, wie ihre Stimme klang, und musste mich anstrengen, um sie mir ins Gedächtnis zurückzurufen, den mädchenhaften und aufgeregten Klang. Und dann erinnerte ich mich an ihre Augen, die so viel Klugheit ausgestrahlt hatten. Ich wusste auch noch, wie sie einmal auf dem Markt ein neues Parfum entdeckt hatte, von dem ich meinte, es würde nach Brombeeren duften. Evie hatte von da an nur noch dieses Parfum benutzt, und wir hatten uns immer über den Verkäufer kringelig gelacht. Der junge Händler war jedes Mal vor Aufregung rot angelaufen, wenn er Evie auf dem Marktplatz erspäht hatte.

      Wehmütig dachte ich weiter über den Markt nach. Ich sah, wenn auch etwas undeutlich, wie sich die Stände aneinanderdrängten. Ich hatte das wahllose Gedränge immer geliebt, die lauten Rufe der Händler, die ihre Ware anpriesen. Oder die Gaukler oder Wandermusiker, die, wo auch immer sie Platz fanden, ihre Kunst vorführten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Auf den Märkten war das Gold meiner Augen selten aufgefallen, keiner hatte genug Zeit für einen zweiten, genaueren Blick, und somit musste ich keine Angst vor betretenen Musterungen haben. Auch deshalb hatte ich jeden einzelnen Besuch des Gedränges geliebt, so selten sie auch gewesen waren. Angestrengt verzog ich das Gesicht, um weitere Erinnerungen zutage zu fördern, doch es wollte nichts mehr kommen.

      Resigniert erinnerte ich mich an Rose’ Worte, kurz nachdem ich in die Schleifen gekommen war. Sie hatte mir von dem Erinnerungsbrunnen erzählt. Er hielt die Erinnerungen eines jeden Augenschöns frisch, um sie vor dem unbarmherzigen Vergessen der Zeit zu schützen, das ich gerade am eigenen Leib spürte. Ich musste mich unbedingt bei Rose danach erkundigen, um weitere Gedächtnislücken zu verhindern.

      Durch ein leises Knacken aufgeschreckt, schlug ich die Augen auf und blickte in Caitlins blitzendes Gelb.

      »Da bin ich wieder«, rief diese und trat zurück, während sie mir einen Arm hinhielt. »Ich habe mit Tatjana geredet. Es hat überhaupt nicht lange gedauert, sie zu überzeugen. Anscheinend hast du schon gestern einen kränklichen Eindruck gemacht, und Rosalie hat sich wohl bereits bei ihr gemeldet. Du hast dich also schon öfters übergeben?«

      Ich ignorierte die Frage und klammerte mich stattdessen an ihren Arm wie eine Ertrinkende. Vorsichtig wagte ich abermals ein paar Schritte und ließ Caitlin schließlich los.

      Sie folgte meinen kurzen Schritten aus dem Wald und plapperte unermüdlich weiter. »Tatjana meinte, es wäre das Beste, wenn wir dich in das Krankenzimmer im Verwaltungsgebäude bringen und dich von ihr und einer der Dromeden untersuchen lassen. Allerdings geht sie bereits jetzt davon aus, dass du dich nicht allzu schnell erholen wirst. Deswegen soll ich dir dabei helfen, einige Kleider, Bücher und so weiter einzupacken, weil du in das Krankenzimmer einziehst, bis es dir wieder besser geht. Du wirst also auch nicht mehr am Training teilnehmen und nicht beim Kampf eingesetzt werden.«

      Ich hatte mir alles kommentarlos angehört, doch bei Caitlins letzter Aussage blieb ich wie angewurzelt stehen. »Ich … soll nicht mitkämpfen dürfen?«

      »Ach, Lucy, jetzt sei mal ehrlich zu dir selbst. Bei Gottes bestem Willen, wie willst du denn in deinem Zustand richtig in Form kommen? Du wärst bereits tot, bevor der Kampf überhaupt richtig begonnen hätte. Und jetzt lauf weiter, ich möchte hier keine Wurzeln schlagen.«

      Sie hatte recht, also tat ich, was sie wollte, lief weiter und ließ Caitlins Redefluss über mich dahinplätschern.

      »Ich wette, du bist die erste Augenschöne, die nicht aufgrund eines Zusammenstoßes mit einem Nächtlichen Geschöpf auf die Krankenstation kommt. Tatjana wusste übrigens ebenso wenig wie ich, wie es sein kann, dass du krank bist. Allerdings hat sie eine Vermutung diesbezüglich. Atlas soll bei seinem Bericht einen Ausbruch deiner göttlichen Kräfte erwähnt haben. Du sollst eine Titanin mit unfassbaren Fähigkeiten sein, und Tatjana zufolge wäre dein Unwohlsein eine verspätet auftretende Nachwirkung. Obwohl ich ihre Überlegungen nicht ganz nachvollziehen kann, scheint das die einzige ansatzweise logische Erklärung zu sein.«

      Ich sagte nichts dazu. Obwohl ich mit hundertprozentiger Sicherheit hätte behaupten können, dass es sich auf keinen Fall um Nachwirkungen handelte, tat ich es dennoch nicht. Vielleicht, weil ich es zwar so sah, jedoch nicht das medizinische Fachwissen besaß, um es auch nachzuweisen. Vielleicht aber auch nur, weil ich keine Lust hatte, etwas zu sagen oder Tatjana zu widersprechen. Oder ich hatte ganz einfach zu viel Angst vor dem, was der wirkliche Grund dafür war, und versteckte mich lieber hinter einer Maske aus falschen Annahmen.

      Am Verwaltungsgebäude verschwand Caitlin kurz, um gleich darauf wieder mit einem Koffer aufzutauchen. »Geh schon mal vor. Ich muss noch kurz was erledigen«, rief sie mir zu und lief in Richtung Verwaltungsgebäude davon.

      Ich zog den leeren Koffer, der über den unebenen Kiesboden ratterte, hinter mir her über den Hof auf das Wohnhaus 2 zu. Dass ich aus meinem Zimmer in das Krankenzimmer umziehen musste, machte mir nicht sonderlich viel aus. Ich ärgerte mich deutlich mehr darüber, dass ich so nutzlos war und beim Kampf nicht helfen konnte. Frustriert drückte ich mit meiner Schulter die gläserne Eingangstür