Ich hob eine Hand und strich mir zitternd die Haare aus dem Gesicht und hinter die Schulter. Rose lehnte sich leicht an mich und ich spürte ihre Wärme, die durch das am Körper klebende Shirt drang. Ich hatte keine Lust zu reden, doch Rose verdiente es, über alles informiert zu werden. »Es … es fing ganz normal an, aber dann …« Ich schluckte und holte tief Luft. Dann begann ich zu erzählen.
Ich erzählte vom Anfang unserer Reise, dem merkwürdigen Skelett, das wir gefunden hatten, den Nächten im Zelt und dem immer wieder aufflammenden Streit zwischen Atlas und James. Ich schilderte ihr die verschiedenen Schleifen, wie es zur Verfärbung meiner Haare gekommen war und wie die verschiedenen Punkte von der Liste der Prophezeiungen sich immer weiter erfüllt hatten. Sie lauschte schockiert, als ich von dem zerstörten Dorf der Nuvolas berichtete, dem Ausbruch meiner Titanenkraft und dem darauffolgenden Koma, aus dem ich mit roten Augen aufgewacht war und von dem die blasse, nahezu weiße Haut durch die lange Bewusstlosigkeit geblieben war. Ich erzählte Rose von der langen Pause unserer Reise, in der ich mich hatte erholen müssen, und davon, wie ich gelernt hatte, meine Variantmagie zu nutzen. Auch dass James mich gegen meinen Willen geküsst hatte, verschwieg ich nicht, ebenso wenig die ganze darauffolgende Geschichte, die mit dem Kampf mit den Nächtlichen Geschöpfen, in dem wir von James getrennt worden waren, geendet hatte.
Meine Freundin hörte meinen Erzählungen zu, wie Atlas und ich weitergereist und schließlich zusammengekommen waren. Das darauffolgende Jahr, das ziemlich ereignislos verlaufen war, sprach ich nur kurz an. Ausführlicher berichtete ich von der unheimlichen Schleife der Ewigen Finsternis, der Schleife, in der noch Nuvolas wohnten, und besonders von der ersten Nacht, die wir dort verbracht hatten und die zweifellos mit riesigem Abstand die allerschönsten in meinem Leben gewesen war. Ich beschrieb ihr unsere Begegnung mit den Nuvolas und Gwyneth, die alles zu wissen schien und uns seltsame Anweisungen mit auf den Weg gegeben hatte. Und wie Atlas danach mit mir hatte sprechen wollen und …
Hier konnte ich nicht weiterreden und brauchte einige Minuten, um die richtigen Worte aus mir herauszuzwingen. Schließlich gelang es mir, und ich schilderte mit stockender Stimme den letzten Teil unserer Reise, die wir zusammen mit Adam in die zentrale Schleife der Nächtlichen Geschöpfe unternommen hatten und die ich nur wie durch einen Schleier wahrgenommen hatte. Ich beendete meine Geschichte mit dem Kampf und damit, wie wir es geschafft hatten, mit dem Herzen der Zeit zu entkommen.
Ich erzählte ihr alles bis auf die Sache mit meinen roten Augen, die Wunden hinterließen, die nicht verheilten und sogar tödlich sein konnten.
Das Ganze sprudelte aus mir hervor, als hätte es unterschwellig nur darauf gewartet, endlich ausgesprochen zu werden. Es tat seltsam gut, es Rose zu erzählen, jemand anderen einzuweihen. Nur bei Atlas’ Namen stockte ich und merkte wieder das Messer in meiner Brust.
Das einzige Mal, dass Rose mich unterbrach, war, als ich ihr von dem Spion, dem Verräter in unseren eigenen Reihen, erzählte, auch wenn ich dadurch gegen die Abmachung mit Atlas verstieß, niemandem die Wahrheit zu verraten. Rose konnte nicht glauben, dass es tatsächlich jemanden so Dreistes unter uns gab, der Informationen an die Nächtlichen Geschöpfe weiterreichte.
Als ich schließlich geendet hatte, hörte man eine Weile nur noch das Strömen aus dem Duschkopf, während ich auf eine Reaktion von Rose wartete. Sie blieb stumm.
Ich war gerade dabei, in mein Loch abzudriften, als meine Freundin sich endlich regte und einen Arm um mich legte. Diese kleine Geste traf mich unerwartet heftig und ließ das Messer in meiner Brust glühen und sich langsam und schmerzhaft tiefer in mein Herz bohren. Genau so hatte Atlas oft den Arm um mich gelegt, wenn wir abends ins Zelt gegangen waren, um uns für den nächsten Tag auszuruhen. Und mit einem Mal brach die hauchdünne Mauer in mir ein, und brennend fingen die Tränen an, aus meinen Augen zu strömen. Die Tränen, die nicht gekommen waren, weil in mir nichts gewesen war, was hatte weinen wollen. Tränen hätten nicht die Qual ausdrücken können, die von mir Besitz ergriffen hatte.
Doch jetzt flossen sie nur so aus mir heraus. Schluchzer stiegen in meiner Kehle auf, die mich schüttelten, mich gegen Rose drückten, die auch noch ihren anderen Arm um mich legte und mich festhielt, mich am Zerfallen hinderte. Und Rose blieb dabei noch immer stumm, ließ mich all den Schmerz weinen, meine Tränen loswerden, bis nur noch ein Zittern übrig blieb und ich meinen Kopf an ihrer Schulter vergrub. Sie streichelte mir über den Rücken, beruhigte mich und hielt die leere Hülle, die einst Lucy gewesen war, ganz fest.
Als ich nur noch ganz leicht zitterte und mein Atem normal zu werden begann, stand sie auf und zog mich mit hoch. »Also, Lucy, du bist stark und schaffst es jetzt auch, dich richtig zu duschen. Ich habe dir ein paar neue Sachen ins Bad gelegt, die du anziehst, sobald du fertig bist. Ich warte draußen in deinem Wohnzimmer, wohin ich dir wunderbares Essen gebracht habe. Und wenn du in spätestens fünfzehn Minuten nicht kommst, weil du wieder in dein trostloses Loch fällst, dann kannst du was erleben, wogegen die Kämpfe mit den Nächtlichen Geschöpfen nichts waren.« Sie stieg aus der Dusche und versuchte dabei, nicht alles vollzutropfen. Vor der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Na gut, sagen wir: zwanzig Minuten. Die wirst du bei deinen langen Haaren sicherlich brauchen. Ach ja, und vergiss nicht, deine nassen Sachen auszuziehen.« Mit einem kleinen Hüpfer verschwand sie aus dem Badezimmer, und die Tür fiel mit einem Klicken ins Schloss.
Ein Lächeln stahl sich zu meinem Erstaunen auf mein Gesicht. Es schmerzte in meinen Gesichtsmuskeln, und mir fiel auf, dass es das erste Lächeln seit meinem Gespräch mit … seit dem Gespräch war. Ein Schauer fuhr durch meinen Körper, und ich entschloss mich, den einen Namen nicht einmal mehr zu denken.
Es tat einfach zu weh.
Mit ein wenig neuer Kraft schälte ich mich zuallererst aus meiner zerrissenen und beschmutzten Kleidung, bevor ich mir die Shampootuben griff und mir Haare und Körper zweimal von oben bis unten einschäumte. Es brannte leicht an einer letzten Wunde am Bauch, die besonders tief gewesen sein musste und somit noch nicht richtig verheilt war. Von den anderen waren nur noch mehr oder weniger stark verheilte Narben zu erkennen. Doch alle sahen so aus, als würden sie in spätestens zwanzig Minuten verschwunden sein.
Als ich endlich triefend nass aus der Dusche stieg, waren der Spiegel sowie Fenster und die gläsernen Wände der Dusche vollkommen von dem warmen Dunst beschlagen, und ich kam erneut zu dem Schluss, dass Rose einfach die Beste war. Ich wusste nicht, woher sie wusste, dass eine warme, entspannte Dusche Wunder wirken konnte.
Ich nahm mir ein Handtuch aus dem Regal und rubbelte meinen Körper ab. Dabei spürte ich wie zuvor in der Dusche meine Rippen, und auch im Spiegel konnte ich sehen, wie sie sich unter der Haut abzeichneten. Schnell wandte ich mich davon ab und zog mir die trockene Kleidung an, die Rose auf den Hocker gelegt hatte. Mir fiel auf, dass die Hose aus dickem Stoff bestand, und meine Freundin hatte an ein langärmliges Shirt und an einen Stoffpulli gedacht, der innen warm gefüttert war. Hier brach schließlich schon der Winter an, auch wenn mir das völlig falsch vorkam. Ich hatte diese Schleife nur im fröhlichen Blühen des Frühlings erlebt und konnte sie mir nicht schneebedeckt vorstellen.
Schnell bürstete ich mir noch die Haare durch und band sie zu einem Pferdeschwanz, bevor ich tief Luft holte und ins Wohnzimmer trat. Ein wunderbarer Duft schlug mir entgegen, zusammen mit wohliger Wärme und dem angenehmen Licht der Deckenlampe. Rose saß an dem runden Holztisch auf einem der alten Stühle. Sie trug ebenfalls trockene Kleidung. Offensichtlich war sie in der Zwischenzeit in ihrem Zimmer gewesen und hatte sich umgezogen. Auf dem Tisch vor ihr standen mehrere kleine Schüsseln und Teller, von denen der köstliche Essensgeruch ausgehen musste. Erleichtert lief ich zu ihr und ließ mich auf einen der Stühle sinken, während ich hungrig die Auswahl an Speisen musterte.
Nachdem ich mehrere Portionen verschiedener Gerichte, Kartoffelbrei mit Würstchen, Nudeln mit Soße und einen gemischten Salat, verdrückt hatte, lehnte ich mich zurück.
»Dein erstes warmes Essen seit wann?« Um Rose’ Lippen spielte ein amüsiertes Lächeln.
»Ganz ehrlich? Ich glaube, seit etwa eineinhalb Jahren. Seit meinem letzten Abendessen hier.«
»Bin