Auf Denise’ Gesicht stahl sich ein freches Grinsen. »Geht es dabei wirklich nur um die Reise?«
Ich erstarrte, fing mich aber glücklicherweise rasch. Geistesgegenwärtig verdrehte ich die Augen und ließ mich auf den Rücken fallen. »Worum denn sonst, Denise?«
»Na ja, uns sind Gerüchte zu Ohren gekommen …«
Mein Körper verkrampfte. Ich hatte es doch niemandem außer Rose erzählt, woher sollte sie etwas wissen? Woher sollte sie von uns beiden wissen? Von uns beiden, die Worte taten weh. Doch was wunderte es mich? Tat gerade nicht alles weh?
»Jedoch geht es dabei nicht unbedingt um dich.«
Ich erlaubte mir, leise aufzuatmen.
»Sondern um Atlas. Es heißt, er sei all die Jahre nicht aus Liebeskummer so griesgrämig gewesen, sondern aus Hass auf Amelie. Und sich selbst. Demzufolge müsste er also frei sein für eine neue Liebe. Ich habe gehört, dass manche es bereits versuchen. Weißt du, ob das stimmt?« Ihr Gesicht tauchte über meinem auf, und der unermüdliche Hunger nach Klatsch und Tratsch war deutlich in ihren Augen zu erkennen.
»Fragt ihn doch selbst.« Ich drehte mich zur Seite weg und stand auf.
Jetzt war es an Denise, mit den Augen zu rollen, doch sie hakte nicht weiter nach. Stattdessen erzählte sie mir von den anderen Gerüchten. Oh ja, sie hatte noch immer diese Vorliebe für Klatsch aller Art, und es war das erste Mal, dass ich wirklich zuhörte.
»Also soweit wir wissen, fangen all die Mädchen, die Atlas ohnehin schon immer angeschmachtet haben, wieder an, sich Hoffnungen zu machen. Irgendwer hat auch erzählt, dass der Atlas-Fanclub wieder ins Leben gerufen wurde.«
»Ein Atlas-Fanclub?« Ich konnte es nicht fassen.
»Ja, allerdings.« Denise nickte ernsthaft. »Atlas war schon immer beliebt bei den weiblichen Augenschönen. In gewisser Weise durchaus verständlich, er sieht gut aus …«
Das war so was von untertrieben!
»Ist einigermaßen nett …«
Wenn er wollte, dann war er es nicht nur einigermaßen, sondern …
»Und anscheinend küsst er auch noch ziemlich gut.«
Was?
»Wobei ich mich frage, woher die das wissen wollen. Außer Amelie hat Atlas meines Wissens noch nie eine Augenschöne geküsst, und ich weiß quasi alles, was mit Klatsch zu tun hat.«
Ich verschwieg ihr die Neuigkeiten, die sie noch nicht wusste. Wahrscheinlich würde das, was zwischen Atlas und mir während unserer Reise geschehen war, hier in der Tratschküche einschlagen wie eine Bombe. Das Ganze würde in die Geschichte der aufregendsten Ereignisse eingehen, wenn ich etwas sagen würde.
Zu meiner eigenen Verblüffung stahl sich ein leichtes Grinsen auf meine Lippen, als ich mir vorstellte, wie Denise reagieren würde, wenn ich etwas sagte wie »Also meiner Meinung nach ist Atlas kein guter Küsser, sondern der beste überhaupt« oder »Wirklich, Denise, jetzt bin ich aber enttäuscht. Du sagst, du würdest alles wissen, aber über den neuesten Tratsch für den Atlas-Fanclub weißt du noch nichts? Einer begeisterten Klatschtante wie dir hätte ich zugetraut, dass du auch über Atlas und mich Bescheid weißt.« Aber schon bei dem Gedanken an Atlas’ und meine gemeinsame Zeit hätte ich gequält brüllen können.
»Wir waren auch einmal im Atlas-Fanclub, Charlotte, erinnerst du dich? Wir haben uns damals hineingeschmuggelt, um herauszufinden, was die dort machen. Als wir entdeckten, dass sie eigentlich nur alle schmachtend über ihn redeten und überlegten, wie sie ihm näherkommen könnten, sind wir schnellstmöglich abgehauen. Wenigstens konnten wir dann mit unserem Insiderwissen angeben, und ich habe den Artikel Atlas, der Frauenschwarm in meinen Schriften beenden können.«
»In deinen was?« Ich glaubte, ich hörte nicht recht.
»In meinen Schriften. Ich habe etliche von ihnen. Es sind Aufzeichnungen über Klatsch und Tratsch jeglicher Art. Jeder hat doch etwas, womit er sich beschäftigen muss, nicht? Und ich habe eben das.« Sie zuckte mit den Achseln.
Und ich bekam das Gefühl, dass ich ihre Vorliebe für mehr oder weniger skandalöse Neuigkeiten unterschätzt hatte. Um Längen. »Muss man das verstehen?«
»Nein. Aber darum geht es auch nicht. Das Gespräch drehte sich um die neuesten Atlas-Nachrichten. Anscheinend werden einer der Augenschönen jetzt große Chancen zugeschrieben. Sie war wohl jahrelang mit ihm in einer Trainingsgruppe und versteht sich echt gut mit ihm. Ich glaube, sie heißt Lexi.«
Ich schluckte.
»Die Zweitplatzierte ist ein Mädchen namens Lavinia. Sie hat dunkelrote Haare und ist wohl ziemlich hübsch. Einem Gerücht zufolge hat man sie gestern um drei schon dabei gesehen, wie sie ihn geküsst hat. Totaler Schwachsinn, um drei wart ihr noch gar nicht da. Und Lavinia selbst hatte von zwei bis fünf Uhr Training im Wald, und da war sie auch anwesend! Ich habe bereits nachgeforscht.«
Ich nickte unbestimmt. Auch wenn es vielleicht überhaupt keinen Grund dazu gab, durchfuhr mich die Eifersucht bei Denise’ Erzählung erneut ungeahnt heftig. Am liebsten hätte ich dieser Lavinia eine gescheuert. Und dieser Lexi gleich mit.
Ruhig bleiben!, ermahnte ich mich selbst. Ich hatte doch schon vorhin bemerkt, dass ich mit Eifersucht nicht sonderlich gut umgehen konnte, milde ausgedrückt.
Charlotte hatte derweil stumm unser Gespräch verfolgt, wie es immer ihre Art war. Jetzt hielt sie ihre Omunalisuhr in der Hand, einen wütenden Ausdruck in ihren Augen. »James ist so ein Sklaventreiber! Wenn er nicht aufpasst, haben wir am Ende so viel trainiert, dass wir keine Kraft mehr für den eigentlichen Kampf haben. Jetzt muss ich schon zur nächsten Einheit.« Sie verzog das Gesicht. »Ausdauerlauf.«
»Könnten wir nicht so tun, als hätten wir es nicht bemerkt?«, fragte Denise, stand aber bereits vom Bett auf, sehr wohl wissend, dass ihr Vorschlag nicht umsetzbar war.
Matt sah ich ihr zu, wie sie sich den Schal umwickelte und unschlüssig neben meinem Bett verharrte.
»Wir werden versuchen, so bald wie möglich etwas Zeit freizuschaufeln, die wir ausschließlich mit dir verbringen werden. Bis dahin: Gute Besserung!«
Sie schloss mich zum Abschied in die Arme, und sie und Charlotte drängten dann zur Tür hinaus.
»Das Schlimmste ist, dass unsere Trainingspläne nicht einmal dieselben sind. Ich habe jetzt Schwertkampf!«, hörte ich noch Denise sich entrüstet beschweren, bevor das Schloss einrastete.
Lustlos öffnete ich die Tüte mit dem Essen, die sie zurückgelassen hatten.
»Guten Appetit, Lucy«, murmelte ich vor meinem einsamen Mahl.
Aus den Lexika der Augenschönen
(Band 1, Kapitel 8)
Unkontrollierte Gefühlsmagieausbrüche, wie auch kontrollierte, unterscheiden sich stark von den Willensmagizismen. […] Ein wesentlicher Unterschied ist, dass sich das Augenschön beim Anwenden eines Gefühlsmagizismus nicht bewegen kann. Der Grund dafür liegt darin, dass Gefühlsmagizismen mehr Magie entfalten und der Körper sich darauf konzentrieren muss, sich selbst zu schützen, wobei er die Muskeln in einer Abwehrstellung erstarren lässt. Hierbei gibt es jedoch einen weiteren Unterschied zwischen kontrollierten und unkontrollierten Gefühlsmagizismen. Der unkontrollierte nämlich ist wiederum fast doppelt so stark wie der kontrollierte und kann somit auch (unter anderem aufgrund der verlorenen Willenskontrolle) nicht unterbrochen werden. Daher müssen Augenschöne bei einem unkontrollierten Gefühlsausbruch abwarten, bis der Magizismus seine (zufällig ausgewählte) Aufgabe erfüllt hat. Dabei kommt es im alten Leben in den Äußeren Schleifen zu zahlreichen Morden, die viele Augenschöne aus Versehen begehen.
Aus dem Bericht:
Gefühlsmagieausbrüche von N. Weblens
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