Judith Kilnar
Augenschön
Das Herz der Zeit
Für Leo.
Prolog
Es war Sommer. Die Sonne schien hell und lange – jeden Tag aufs Neue, und selbstverständlich brachte sie dabei immer Wärme mit sich. Schon kurz nachdem sie aufgegangen war, konnte man an den lauen Lüftchen und dem angenehmen Gefühl auf der Haut erkennen, dass ein neuer Tag mit makellosem Wetter anbrach. Wobei … einen Makel mochte es geben: Die wohltuende Wärme wandelte sich nämlich im Laufe des Tages, und kaum einer konnte die sengende Hitze um die Mittagszeit ertragen, ohne ernstliche Kopfschmerzen und einen Sonnenbrand zu bekommen. Doch das war draußen, außerhalb eines Gebäudes und außerhalb von dicken, abtrennenden Wänden.
Einer der Orte, zu dem die Hitze keinen Zutritt hatte, war der Kerker einer kleinen Burg, die am äußersten Rand einer kleinen Stadt lag. Dort saß ein junger Mann, fast noch ein Junge, zusammengekrümmt in die hinterste Ecke gepresst. Man konnte ihn kaum erkennen, kaum von seiner Umgebung unterscheiden, so schmutzig war er. Ein flüchtiger Blick hätte ihn nicht erfasst, nur durch genaueres Betrachten und mithilfe einer Fackel hätte man Details erkennen können. Doch niemand machte sich die Mühe, fast niemand traute sich überhaupt in die Nähe dieses Kerkers.
Durch den Körper des Jungen ging ein Beben, und es raschelte kurz, als er seine Sitzposition änderte. Dabei stieß er sich den Kopf an einem spitzen Stein an der Wand und schlug reflexartig die bis dahin geschlossenen Augen auf. Kurz huschte sein Blick hin und her in dem verzweifelten Versuch, einen Funken Licht zu erhaschen. Doch da war nichts. Nichts als Dunkelheit. Der Junge lehnte den Kopf in einem anderen Winkel an die Wand und schloss erneut die Augen.
Warum sie auch offen lassen, wenn es keinen Unterschied machte? Das bleiche Gesicht verfiel erneut in die glatte, ruhige Starre, und es gab kaum noch einen Unterschied zu einem bereits Toten. Bis auf das eine vielleicht, aber das unterschied ihn nicht allein von den Toten, sondern ebenso von allen anderen Menschen. Trotz der zerrissenen Leinenfetzen, die das Einzige waren, was er am Leibe trug, trotz der Schmutz- und Staubschicht, die seinen Körper überzog, an manchen Stellen mit altem Blut vermischt, das von vergangenen Peinigungen herrührte, trotz der verklebten Haare, dem Dreck unter den Nägeln und den tiefen Ringen unter den Augen – trotz alldem strahlte er eine unbestreitbare, unheimliche Schönheit aus. Niemand hätte sagen können, was es genau war, das ihn so besonders machte. Es war vorhanden und einer der beiden angeblichen Beweise, die seine Gefangenhaltung begründeten. Der andere Beweis verbarg sich unter den kalkweißen Lidern des Jungen.
Diese flogen mit einem Mal flatternd auf, ähnlich wie vorhin, nur dass diesmal keine Berührung daran schuld war. Es war etwas anderes, ein Gedankengang, ein paar gezählte Lichtstreifen und die Angst vor dem Tod.
Stöhnend richtete sich der Junge halb an der Wand auf. Stimmte es? Hatte er richtig aufgepasst? Nicht die Ankunft eines Tages verpasst? Nein. Er hatte doch stets bemerkt, wenn die schmalen Lichtstreifen bei Sonnenaufgang kurze Zeit auf den erdigen Kerkerboden gefallen waren. Doch wenn er richtig gerechnet, wenn er nichts übersehen und alles aufmerksam verfolgt hatte …
Die schmutzigen Finger rauften mit einem Mal die hellen Haare, und ein Keuchen entfuhr der ausgetrockneten Kehle, gefolgt von einem »Oh, verdammt!«. Plötzlich war er sich sicher, keine Zweifel bestanden mehr. Die Frist war abgelaufen, heute würde man ihn holen. Man würde ihn grob aus den Kerkern zerren, wahrscheinlich noch einige Tritte und Schläge hinzufügen, ihn sich Knie und Arme blutig schrammen lassen und ihn letztendlich dann …
Die ausgemergelten Hände pressten sich auf die dunklen Schatten um die Augen, verdeckten das Gesicht einen Moment lang mit den spindeldürren, langen Fingern. Als ob diese verzweifelten Gesten den Gedanken davon abhalten würden, weiter durch seinen Kopf zu schießen! Als ob irgendeine Geste überhaupt noch einen Sinn hatte, wo doch die Glieder, die sie ausführten, am selben Tag noch in Flammen aufgehen würden. Bei lebendigem Leibe verbrennen, qualvoll darauf wartend, dass sich sein ganzer Körper in Asche verwandelte, um dem Schmerz ein Ende zu setzen. Genauso würde er sterben.
Auf dem Scheiterhaufen.
Heute.
Und warum?
Der Junge ballte die Hände zu Fäusten und sank langsam wieder hinab zum Boden. Die stumme Frage ließ ihn nicht los. Warum? WARUM?
Sie kannten nicht einmal den wahren Grund, warum er es vielleicht verdient hätte zu sterben, und doch würden sie ihn töten wegen eines Verdachts, einer Anklage, die nur auf seinem Aussehen und seinen Augen beruhte. Seinen Augen …
Die Überlegungen wirbelten weiter durch seinen Kopf, und immer mehr bekam er das Gefühl, dass sie mit dem Urteil über ihn doch richtiglagen. Waren es nicht diese verfluchten Augen gewesen, die tatsächlich etwas Fürchterliches getan hatten? Diese Augen, die schon so oft so viele Tote gesehen hatten …
Tote, die ohne ihn keine gewesen wären.
Und womöglich stimmten auch die übrigen Anschuldigungen gegen ihn.
Als Hexer auf dem Scheiterhaufen brennen … Er hatte den Worten nie geglaubt, nie geglaubt, dass die vielen Frauen, Mädchen und manchmal auch Männer, die verbrannten, alle Hexen und Hexer gewesen sein sollten. Er hatte die Bäckerstochter doch persönlich gekannt. Sie hätte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun können.
Aber was, wenn doch nicht alle Verbrennungen Fehlentscheidungen gewesen waren? Was, wenn es andere gab wie ihn? War er womöglich wirklich …?
Er hatte sich nie erklären können, was genau passierte, wenn das Brennen einsetzte, die von ihm ausgehenden hellen Lichter umherzuckten und hinterher nichts als Verwüstung übrig blieb. War das etwa die überall gefürchtete, hässliche und teuflische Hexerei, die so entschlossen verfolgt wurde und wegen der etliche Unschuldige brennen mussten?
Doch so sehr er sich auch davon zu überzeugen versuchte, dass sein Tod richtig war, dass er es verdiente zu sterben, so wenig konnte er sich von der schleichenden Angst befreien. Die Angst, die in einem jeden lauerte, um im entscheidenden Augenblick auszubrechen und alles zu überlagern: Es war die pure Angst vor dem Tod. Angst vor etwas, was am Ende des Weges lag. Des Weges, von dem man zu Beginn nicht wusste, wann man auf das ungewisse Etwas treffen würde, das ihn beendete.
Er grub seine Finger in die löcherigen Fugen der steinernen Wand und versuchte, sich erneut zu erheben, seine Beine zu strecken und eine gewisse Sicherheit zurückzugewinnen. Sicherheit bekam er nicht, das Aufrichten misslang, und er fiel stattdessen vornüber, schlug sich die Stirn am Boden auf und fühlte, wie etwas Klebriges, Warmes hervortrat. Den Schmerz hinter dieser Wunde bemerkte er allerdings kaum, er spürte das Blut nicht, spürte nicht, dass er inzwischen am Boden lag. In ihm herrschte plötzlich ein erbitterter Kampf, einer, bei dem man sich nicht ablenken lassen durfte, er fühlte schwindenden Lebenswillen und lähmende Schwäche, die sich auf seinen geschundenen Körper und die wunde Seele senkte.
In ihm brach der Kampf gegen Verzweiflung und Wahnsinn aus, der Kampf um den eigenen Verstand. Wie konnte der Geist denn noch bestehen, wo er doch längst begriffen hatte, dass seine Existenz ohnehin bald ein Ende finden würde? Wie sollte das Gehirn weiterhin arbeiten, funktionieren und Leistung erbringen, wo es doch gerade die Hoffnungslosigkeit der Lage begriffen hatte?
Doch der Junge wehrte sich gegen eine solche Erniedrigung. Dagegen, den Verstand einzubüßen und dem Wahnsinn zu erliegen. Er wehrte sich gegen den inneren Tod, den Tod seiner Seele, noch bevor sein Körper gestorben war.
»Nein! Nein …« Die leisen Worte kamen nur noch stolpernd aus der trockenen Kehle. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, und er versuchte, für diesen letzten Kampf seine Konzentration zurückzugewinnen.
Ursächlich stand hinter dem Kampf doch nur eines ‒ die Verleumdung der Realität, das Wunschdenken einer ehemals lebensfrohen Seele, von der nun lediglich blutende Reste übrig zu sein schienen.
Irgendwann schlug er schließlich die Augen auf und bemerkte erst da richtig, dass er auf dem Bauch am Boden lag