Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3). Judith Kilnar. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Kilnar
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783964640079
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      »In deiner Abwesenheit ist eigentlich nicht viel passiert. Oder ziemlich viel, je nachdem, was für eine Bedeutung man den Ereignissen beimisst.« Rose schien wieder einmal Gedanken lesen zu können und tat genau das, was mir half, sie quasselte unwichtiges Zeug. »Nachdem ihr weg wart, war eigentlich alles ganz normal. Allerdings habe ich mich ohne dich natürlich gelangweilt, das zählt aber nicht wirklich. Jedenfalls, kurz darauf hat eine Zweiergruppe, die mit dem Einkaufen in den Äußeren Schleifen dran war …«

      »Dem was?« Ich fühlte mich zurück in meine Anfangszeit hier versetzt. Schon damals war jeder zweite Satz unverständlich gewesen, und Rose hatte meine tausendfach gestellten Fragen immer und immer wieder beantworten müssen.

      Rose sah überrascht aus. »Das weißt du noch nicht?«

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Komisch«, murmelte Rose, »hatte ich das nicht irgendwann schon einmal erwähnt? Na egal. Also, jedes Augenschön hat einen Partner, mit dem es alle paar Monate an der Reihe ist, in die Äußeren Schleifen zu fahren, um Einkäufe zu erledigen. Du warst noch nicht lange genug da, um zugeteilt zu werden. Nun ja, und bei diesen Fahrten in die Äußeren Schleifen können immer wieder Missgeschicke passieren … wenn man es so nennen kann.« Rose grinste. »Manchmal sind sie richtig witzig. Wenn beispielsweise die Menschen einen beim Magizieren beobachten und überhaupt nichts mehr verstehen. Allerdings kann auch vieles nach hinten losgehen … wie eben damals, kurz nachdem ihr abgereist seid. Die zwei Augenschönen, die in den Äußeren Schleifen etwas erledigen mussten, Bronwyn und Chris, hatten aus Versehen die falsche Zeit eingestellt und waren auf einem mittelalterlichen Markt gelandet. Da sie für ihren Zeitsprung vier Stunden eingestellt und nichts anderes zu tun hatten, dachten sie, dass sie einfach auf dem Markt dort einkaufen gehen. Offensichtlich hatte Chris ihnen mit seiner Variantmagie unauffällig Kleider beschaffen können, und so zogen sie los. Natürlich konnten sie nicht einmal ansatzweise einkaufen, was sie eigentlich besorgen sollten. Es war damals noch nicht erfunden. Ein paar Kleinigkeiten fanden sie aber doch. Und dann …« Rose kicherte.

      Ich lehnte mich vor, verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte meinen Kopf darauf ab, während ich sie weiter ansah. Mir fiel auf, dass viele kleine goldene Sternchen auf blauem Lack ihre Nägel schmückten. Hübsch.

      »Dann haben sie wohl einen Fehler begangen. Chris hat einen der Händler als Ausbeuter bezeichnet, dem das natürlich gar nicht gefiel, und ruckzuck war ein wütender Streit im Gange. Nach und nach kamen immer mehr Händler und Kunden hinzu, und es bildeten sich zwei Fronten. Chris versuchte, gemeinsam mit Bronwyn den Streit zu schlichten. Doch vergeblich, die Ersten begannen bereits handgreiflich zu werden. Chris und Bronwyn drückten sich am Rand herum und sahen panisch dabei zu, wie eine Prügelei entbrannte.«

      Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sich eine große Menschenmasse auf einem Marktplatz gegenseitig die Köpfe einschlug. In meinem alten Leben hatte ich mich oft gefragt, wenn ich einmal auf dem Markt gewesen war, wie der Verkauf trotz der wütend gegeneinander anbrüllenden Händler friedlich verlaufen konnte.

      »Dann kam auch noch die Garde hinzu und drängte die Streitenden auseinander«, fuhr Rose fort. »Plötzlich tauchte eine Frau aus der tobenden Menge auf, zeigte auf Chris und Bronwyn und rief, dass sie gestohlene Kleidung tragen würden. Offensichtlich hatte Chris seinen Variantmagie-Diebstahl nicht schlau genug begangen. Die Garde ließ von der Meute ab und nahm Chris und Bronwyn in Gewahrsam. Sie wurden ins Schlossverlies gesperrt, da die Arrestzellen alle mit Weinfässern gefüllt waren aufgrund einer bevorstehenden Feier. Die beiden hatten langsam die Schnauze voll und brachen aus ihrem Gefängnis mithilfe von Magizismen aus. Leider wurden sie auf ihrer Flucht durch das Schloss erneut geschnappt und schafften es nur, sich zu befreien, indem sie einen ganzen Teil des Flures wegsprengten und in der aufkommenden Aufregung verschwinden konnten. Bis in die Stadt zurück schafften sie es. Allerdings war die Garde ihnen dicht auf den Fersen. Also verstecken sie sich in einer abgelegenen Gasse, die so voll mit Müll war, dass die Garde nicht einmal zu Pferde einen Schritt hineintun wollte. Völlig verschwitzt, dreck- und rußverschmiert und bis zum Himmel stinkend, kamen sie hier wieder an.«

      Rose begann zu giggeln, und ihre Augen funkelten, als sie fortfuhr. »Alle haben sie selbstverständlich bedauert, bevor sie die Geschichte erzählten und dann ein schimpfendes Donnerwetter der Neles über die beiden erging. Dass sie besser hätten aufpassen müssen und die Zeit besser hätten einstellen sollen, um solche Fehler zu vermeiden.«

      Ich nickte langsam. »Und … was war – tut mir leid, wenn die Frage komisch klingt – an der Geschichte jetzt der witzige Teil?«

      Rose biss sich auf die Lippen, um nicht loszuprusten, und stimmte mit ihren Sternenhimmel-Fingernägeln einen ratternden Rhythmus auf dem hölzernen Tisch an.

      »Die Pointe kommt erst noch. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass Bronwyn ein hübsches und wirkliches nettes Mädchen ist. Doch es wurde gemunkelt, dass sie sich mit Tyler traf, und dass sie bald seine neue Freundin sein würde. Anscheinend stimmte das alles auch, nur dass Bron-wyn Tyler die ganze Zeit ausgetrickst hat. Und somit zurück zu meiner vorigen Erzählung, die eher nur die Einführung in meine eigentliche Geschichte war. Bronwyn hat Tyler nämlich an dem Abend nach ihrem Abenteuer in der Äußeren Schleife im Speisesaal ziemlich dämlich aussehen lassen, und das kam so: Natürlich hatte sich die Geschichte ihrer Reise rasch herumgesprochen, und jedes Augenschön wusste Bescheid. Das war die Gelegenheit, auf die Bronwyn gewartet hatte. Ihre beste Freundin war nämlich auch schon auf Tyler hereingefallen, und er hatte ihr mit seiner gleichgültigen Art ziemlich wehgetan. Auch wenn sie eigentlich selbst etwas daran schuld war, wenn du mich fragst, weil sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hat. Bronwyn jedenfalls wollte sich für sie an Tyler rächen und hatte deshalb ein Gedicht für ihn geschrieben, das sie beim Abendessen, als alle anwesend waren, aufsagte.«

      Rose hielt mit dem Sternenhimmelgeklackere inne und sprang plötzlich vom Stuhl auf. »Ich glaube, ich kann es noch auswendig. Es hat sich wohl für immer in mein Gehirn eingebrannt.« Sie nahm eine Rednerpose ein und setzte eine salbungsvolle Miene auf, während sie mit quäkender Stimme begann, die Reime aufzusagen:

      »Tyler, lass mich aufsagen ein Gedicht für dich,

      auch wenn es sein wird – ich versprech’s – ungeheuerlich.

      Es handelt von dir, zieht es schon dadurch runter,

      ich hoffe trotzdem, es gefällt – und macht alle munter.

      Stinkender Müll, der meine Festnahme hat verhindert,

      durch ihn fühlte ich mich heute sehr an dich erinnert.

      Ehrlich, Tyler, womöglich ist es dir entschwunden,

      aber die Dusche wurde längst erfunden.

      Die vorbeireitende Garde strahlte Dummheit aus,

      wieder kam ein Gedanke an dich heraus.

      Denn häufig frage ich mich, mit dem Ding hinter meiner Stirn:

      Hast du, Tyler, überhaupt ein Gehirn?

      Zum Schluss sind wir durch das Zeitportal entschwunden,

      tiefe Erleichterung habe ich empfunden.

      Und erleichtert wär ich auch, wenn du erfülltest meine Bitte,

      verschwinde endlich aus der Mädchengruppen Mitte!«

      Keine Sekunde länger schaffte Rose es, ein unbewegtes Gesicht zu machen, und brach in schallendes Gelächter aus. »Du … du hättest sein Gesicht sehen müssen«, quiekte sie. »Hätte er den Ausdruck auch bei einem Vorsprechen für Dick und Doof aufgesetzt, hätte er sofort die Rolle von Doof bekommen. Ich habe davor noch nie so eine Miene gesehen – perplex, überrascht und wie geohrfeigt. Und danach … wirklich, du hättest es sehen müssen, ist er total rot geworden. Rot wie eine Tomate! Er ist aufgesprungen, hat Bronwyn kurz beleidigt und ist aus dem Speisesaal verschwunden. Was für ein Schwächling!« Rose setzte sich zurück auf ihren Stuhl, immer noch grinsend, und sah mich zufrieden an.

      Auch ich hatte gelacht. Es war ungewohnt und fühlte sich völlig falsch an. Als ob meine Natur beschlossen hätte, das