Ich hielt die Mauer in mir aufrecht, noch hatte ich die Kraft dazu. Gewiss nicht mehr lange.
Rose’ Augen wurden etwas schmäler, als sie ihre Überlegungen beendet hatte und mich ansah. »Womöglich wirst du etwas … überrascht, verärgert ‒ was weiß ich? ‒ sein, aber das muss ich jetzt loswerden. So, wie er sich benommen hat, so benehmen sich eigentlich nur totale Idioten. Solche wie Tyler. Ich meine, wie daneben ist es eigentlich, so mit einem Mädchen zu spielen? Man küsst sie, sagt, dass es unbedeutend war. Man kommt mit ihr zusammen und macht Schluss, sobald man mit ihr geschlafen hat. Eigentlich dachte ich immer, er wäre nicht so einer, aber die von dir geschilderten Ereignisse lassen eigentlich nur diesen Schluss zu. Und wenn es stimmt, dann ist er nichts anderes als ein hirnrissiger, bescheuerter Idiot, der nicht erkennt, dass er nie etwas Besseres als dich abbekommen wird!«
Perplex starrte ich Rose an, die seelenruhig, als hätte sie soeben nicht irgendjemanden heftig beschimpft, ihre Nägel betrachtete.
»Ähm … okay«, meinte ich wenig einfallsreich. »Dann … dann kommen wir zurück zum eigentlichen Thema … wie sehr anders bin ich?«
Rose blieb ernsthaft, und ihre Antwort fiel so aus, wie sie immer ausgefallen wäre. Ihre temperamentvolle Meinungsbildung schien bereits Vergangenheit zu sein.
»Sagen wir es mal so: Von außen bist du nur in manchen Punkten anders. Deine Haare sind ein wenig länger und haben eine andere Farbe. Deine Augen sind rot geworden, allerdings haben sie immer noch dieselbe Form. Deine Haut ist nicht mehr … pfirsichfarben, sondern fast weiß. Außerdem bist du dünn geworden und wirkst echt zerbrechlich. Und … noch etwas ist anders, wobei ich nicht glaube, dass es so vielen auffallen wird. Deine Ausstrahlung ist anders … Zum einen wirkst du stärker in deinem Tun. Du bist sicherer geworden, hast dich mit deinem neuen Leben abgefunden. Bevor ihr weg seid, war nämlich immer eine gewisse Unsicherheit in deinem Handeln. Da schien eine unausgesprochene Frage in dir zu sein. Es war, als würdest du dich die ganze Zeit fragen, ob alles stimmt, ob es so sein soll oder ob du etwas falsch machst. Das wirkt jetzt nicht mehr so. Allerdings ist nun dieser Schatten da … Er lauert auf dir, ist um dich herum und … Wenn ich ehrlich bin, Lucy, gerade eben habe ich zum ersten Mal etwas Leben in dir gesehen, seit du wieder hier bist. Doch es verschwindet wieder. Du bist leer, dein Blick ist ausdruckslos. Es macht mir Angst.« Rose schauderte leicht.
»Und ich mache mir Sorgen um dich, denn ich weiß nicht, ob dieser Schatten wieder verschwinden wird. Ich weiß nicht, ob du dich je davon erholen wirst.«
Ich schluckte schwer. Sie wusste es nicht, aber ich wusste es. Ich würde mich nie davon erholen, dessen war ich mir sicher. Ich hatte nicht nur die Liebe meines Lebens verloren, ich hatte alles verloren. Mich selbst, das Leben, dass ich für mich hier erträumt hatte … Niemals würde ich diesen Kummer ganz loswerden. Dennoch überraschte es mich etwas, dass das alles Rose in der kurzen Zeit seit meiner Ankunft aufgefallen war. Mir wäre warm ums Herz geworden, wenn ich noch eines gehabt hätte, das wirklich lebte.
Ich zog die Füße auf den Stuhl und schlang die Arme darum. Es gab mir ein schützendes Gefühl, diesen Kokon zu bilden. So, als würde er mich vor dem Schmerz bewahren und das Messer am Bohren und Drehen hindern.
»Lucy, hör auf damit!«
Ich zuckte zusammen und sah verwirrt zu Rose auf. »Womit?«
»Mit dem, was du gerade gemacht hast. Du bist leer geworden, vollkommen leer. Wie eine Tote. Lass das.«
Meine Hand zuckte in Richtung meines Herzens, als wollte sie versuchen, das unsichtbare Messer herauszuziehen. Ich wusste, dass sie nichts greifen konnte, wusste, dass es nichts gab, was den Schmerz gelindert hätte.
»Ich weiß nicht, wie«, stieß ich heiser hervor und musste alle vorhandene Konzentration aufbringen, um Rose’ Antwort zu hören, anstatt mich dem Loch zu überlassen.
»Du darfst nicht zulassen, dass deine Gedanken abschweifen zu … du weißt schon, wem. Du musst hierbleiben, im Jetzt.«
Ich verstand ihre Worte, doch ich wusste sofort, dass es mir nicht möglich sein würde, sie umzusetzen. Rose hatte keine Ahnung davon, wie das war, was ich gerade durchmachte. Oder doch?
»Wir gehen am besten nach draußen.« Sie wirkte entschlossen, als sie aufstand. »Frische Luft tut immer gut, und vielleicht wird sie dich auf andere Gedanken bringen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Rose, ich bin schrecklich … müde. Ich kann keinen Schritt mehr gehen. Bitte, ich möchte mich ausruhen.«
Ich sah das Zögern in Rose’ Blick. Wie sie abwog, ob sie das tun sollte, was sie für mich als das Beste erachtete, oder ob sie mir glauben sollte und mir auf diese Weise Gutes tun konnte.
Ich hatte die Wahrheit gesagt, meine Beine fühlten sich an wie Blei, und schon wieder war mir schwindelig.
Rose schien das zu bemerken, denn sie sagte: »Gut, dann bringe ich das Essen weg, und du ruhst dich aus. Wir schauen eben morgen weiter, wie wir dir helfen können. Und … Lucy? Was ist denn?«
Sie war gerade dabei, die benutzten, leeren Schüsseln und Teller aufeinanderzustapeln, als ich mir erschrocken die Hand vor den Mund presste und aufsprang. Panisch drehte ich mich um und rannte ins Bad, wo ich es gerade rechtzeitig zur Toilette schaffte und mich in die Schüssel erbrach.
»Lucy, mein Gott!« Rose’ Stimme war voller Sorge, und ich hörte Wasserrauschen, bevor sie mir einen kühlen Lappen in den Nacken legte und mir die Haare aus dem Gesicht strich. Ich erbrach einen erneuten Schwall und stützte mich erschöpft auf der Klobrille ab. Ich fühlte mich so elend.
Als ich mir sicher war, dass nichts mehr kam, stand ich schwankend auf und tastete mich zum Waschbecken, um mir das Gesicht abzuwaschen.
Rose folgte mir, und ich konnte nur allzu deutlich ihr inneres Durcheinander spüren. Nachdem ich den Wasserhahn abgestellt hatte, gab ich ihr das Tuch zurück. »Danke.«
»Danke? Danke? Ist das alles? Lucy, du hast dich gerade übergeben. Das ist falsch. Augenschöne übergeben sich nicht. Niemals. Sie werden nicht krank! Wir bekommen nicht mal einen Schnupfen. Irgendetwas kann mit dir nicht stimmen, wenn du dich übergeben musst. Und das Einzige, was du sagst, ist danke?«
Ich biss mir auf die Lippen. Offensichtlich hatte ich das Ganze zu sehr auf die leichte Schulter genommen. Wenn ich Rose jetzt auch noch sagte, dass es schon das dritte Mal an diesem Tag war, würde sie vermutlich durchdrehen.
»Es ist nur halb so schlimm«, murmelte ich deswegen. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich mich noch immer nicht von meinem Ausbruch der Titanenmagie erholt habe. Wahrscheinlich war nur etwas im Essen schlecht, und mein Körper wollte es schnell loswerden. Kein Grund zur Aufregung.«
Rose’ Augen funkelten aufgebracht, und sie musste nicht erst sagen, dass sie das anders sah. Ich drängte mich an ihr vorbei aus dem Bad und wankte zum Sofa, auf das ich mich völlig ausgelaugt fallen ließ. Rose stand unschlüssig in der Badezimmertür, bis sie sich schließlich mit einem Kopfschütteln daran machte, den Tisch fertig abzuräumen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Lucy, pass auf dich auf. Du musst dich auch vor dir selbst schützen.«
Wenn die Zeit vorwärts läuft,
dann muss es doch auch
rückwärts gehen.
Doch bis man einen Weg findet,
ist die eigene Zeit längst abgelaufen.
(Silvana Gustani, Augenschöne, zu Lebzeiten Nele)
Kapitel 2
Irgendwie schaffte ich es mit all meiner Konzentration, nicht wieder in dem Loch zu versinken, sondern anwesend zu bleiben, bis Rose zurückkam. Im Zimmer lag immer noch der warme Duft des Essens, und dadurch, dass die Übelkeit wie immer genauso schnell verschwunden war, wie gekommen war, konnte ich diesen auch genießen.
Rose ließ sich zurück auf ihren Stuhl sinken, stützte sich mit den Ellenbogen ab und