2. DER ERSTE JOB
Sommer 1983
“...vierzehn, sechzehn, achtzehn, neunzehn," zählte Kalle laut, "einer fehlt noch.” Noch einmal verschwand er in der Lagerhalle und kam mit einem weiteren Sack Zement auf den Schultern zurück. Schwungvoll setzte er ihn auf dem weißverstaubten Pritschenwagen eines Stukkateurs ab. “Okay, das war's,” sagte er und half dem Fahrer, die Rückwand des Wagens zu befestigen.
Während er dem Auto nachsah, das, dichte graue Staubwolken hinter sich zurücklassend, vom Hof in die Straße einbog, zog er die derben Arbeitshandschuhe aus und fuhr sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn. Trotz des späten Nachmittags stach die Sonne noch immer erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel und schmerzte auf der rotverbrannten Haut seines nackten Oberkörpers. Er war müde, und die Knochen taten ihm weh. Gottlob war bald Feierabend, wie er mit einem Blick auf seine Armbanduhr erleichtert feststellte.
Als der Lagerverwalter aus seinem Büro kam und winkte, begriff er nicht gleich, daß er gemeint war. Erst als er ihm laut: "Schwarzkopf!" über den Hof zurief und mit den Armen fuchtelte, antwortete er ihm. "Ja?”
Der Mann wartete, bis Kalle herangekommen war. Er war mittleren Alters, von kleiner gedrungener Statur. Das Firmenlogo der Fischer KG. auf der linken Brusttasche seines grauen Kittels trug er wie einen Orden. "Kannst du heute länger bleiben, Schwarzkopf?" fragte er.
Kalle konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. "Warum? Was gibt's denn?"
"Drüben steht der Laster von Schmitt & Co., der sollte heute noch beladen werden."
Kalle öffnete den Mund und wollte protestieren, doch dann besann er sich und schluckte seinen Einwand hinunter. Überstunden wurden in der Regel gut bezahlt, da durfte man nicht wählerisch sein. “Kann ich den Gabelstapler nehmen?” fragte er stattdessen. “Hab eben schon zwanzig Säcke Zement auf dem Buckel geschleppt.”
Der Lagermeister wiegte den Kopf hin und her. “Kannst du damit umgehen?”
“Irgendwie schon, glaub ich.”
Der Mann schaute noch immer zweifelnd, nickte dann aber. “Na gut, nimm den vom Lagerplatz drüben. Eigentlich dürfte ich dich gar nicht dranlassen, also sei bloß vorsichtig!” Er drückte ihm den Durchschlag eines Lieferscheines in die Hand. “Ich schick dir den Hartmann rüber, der soll dir helfen. Muß aber ruck-zuck gehen, klar?"
"Klar, Mann!"
Kalle machte sich auf den Weg zum Lagerplatz auf der anderen Seite der Halle. Vorsichtig berührte er seine geröteten Schultern, auf denen sich bereits erste Bläschen bildeten. Es war wahrhaftig kein Vergnügen, bei diesen Temperaturen Putz und Zement zu schleppen, doch der Job war nur bis Ende Oktober befristet und wurde gut bezahlt. Da mußte man durchhalten, da durften Sonnenbrand und schmerzende Knochen keine Rolle spielen. Wer weiß, wie es danach mit ihm weiterging. Es war reiner Zufall gewesen, daß er diese Arbeit gefunden hatte. Eines Nachmittags, er war ziellos durch die Kaiserstraße geschlendert, hatte er beobachtete, wie jemand an einer Straßenbahnhaltestelle eine Zeitung in den Abfallbehälter steckte. Wie von einem inneren Zwang gelenkt war er darauf zugegangen, hatte sie wieder herausgezogen, durchgeblättert und war über die Anzeige der Fischer KG. gestolpert. Ihm war klar, daß seine Ersparnisse schneller aufgebraucht sein würden, als ihm lieb war, wenn nicht bald ein regelmäßiger Verdienst dazukam, deshalb hatte er sich ohne Zögern in die Bahn nach Hagsfeld gesetzt, um sich vorzustellen. Vermutlich hatte ihm der Lagerverwalter angesehen, daß er tüchtig zupacken konnte und sich vor keiner Arbeit scheute, denn schon nach kurzer Absprache war die Sache perfekt gewesen. Man erwartete ihn bereits am nächsten Morgen, pünktlich um sieben. Kalle hatte es kaum fassen können. Noch immer mußte er lächeln, wenn er daran dachte, wie stolz er gewesen war. Kalle Schwarzkopf aus Bretzingen hatte endlich einen Job gefunden. Und ganz ohne fremde Hilfe. Nun brauchte er sich, zumindest für die nächsten Wochen, keine Sorgen mehr zu machen. Es schien, als sei Josch ein wenig verärgert gewesen, weil er zu diesem Erfolg nichts beigetragen hatte, dennoch hatte er brummend den blauen Schein eingeschoben, den Kalle ihm später von seinem ersten Verdienst in die Hand gedrückt hatte.
Von der anderen Seite kam nun der Hartmann über den Hof geschlendert. Kalle mochte ihn nicht, weil er ein Großmaul war. Vor allem gefiel ihm nicht, wie er den Kollegen zur Frühstückspause seine Frauengeschichten in allen Einzelheiten auftischte. Von seiner Einstellung zur Arbeit ganz zu schweigen. Es hieß, er bemühe sich immer erst dann um einen Job, wenn totale Ebbe in seinem Geldbeutel herrschte, und in seiner Freizeit, so erzählte man, gehöre er einer Gang an, die sich Big Jack’s Warriors nannte, und die in der Stadt und im Umkreis ihr Unwesen trieb und immer wieder für Angst und Schrecken sorgte. Einmal hatte er Kalle sogar die Mitgliedschaft in dieser Gang angeboten. “Wer so anpacken kann, wie du, der kann doch bestimmt auch kräftig zuschlagen, wenn’s drauf ankommt, oder? Solche Leute können wir brauchen.”
Kalle hatte nur verächtlich den Kopf geschüttelt. Mit Leuten wie dem Hartmann wollte er nichts zu tun haben. Außerdem hielt er nichts von Cliquenwirtschaft. Nicht, daß er keine Freunde gehabt hätte, aber zur Not kam er auch ganz gut allein zurecht. In einer Herde mitzulaufen, wo alle nur das taten, was der Anführer wollte, das lag ihm nicht. Und ein Verein, der sich durch Krawall Respekt zu verschaffen suchte, kam für ihn schon gar nicht in Frage.
Während Kalle den Gabelstapler wieder und wieder belud und Posten für Posten auf dem Lastwagen absetzte, trieb sich der Hartmann in der Halle herum oder saß rauchend im Schatten auf einem Steinblock, der vom Büro aus nicht zu sehen war.
Als sie später zusammen den Umkleideraum betraten, - Kalle verschwitzt und schmutzig, der Hartmann unverbraucht und guter Laune, - meinte der Warrior grinsend: “Hoffentlich läßt die Hitze in den nächsten Tagen ein bißchen nach. Wie soll man da abends noch fit und frisch sein und das bringen, was die Weiber von einem erwarten.”
Noch immer lachend zündete er sich die nächste Zigarette an und hielt Kalle die Schachtel hin. Der schüttelte den Kopf. "Ich rauche nicht,” sagte er unfreundlich. “Und die schon gar nicht.”
Hartmann warf einen verwunderten Blick auf die Zigarettenpackung, dann musterte er Kalle aus zusammengekniffenen Augen. “Wie meinst'n das?"
Kalle wandte sich ab und schloß seinen Schrank auf. "Wie ich's sage," war seine Antwort. Ohne sich weiter um den Hartmann zu kümmern, zog er sich die staubigen Hosen aus und ging unter die Dusche. Es dauerte eine Weile, bis er allen Staub und Schweiß von sich abgespült hatte, denn aus den kalk- und rostverstopften Öffnungen der Brause kam nur ein spärliches, lauwarmes Rinnsal. Danach stieg er in die sauberen Jeans, die ihm Biene mitgegeben hatte, und er nahm sich vor, ihr für diesen Service zum nächsten Ersten ein paar Mark extra zu geben.
Diesmal war Josch schon zu Hause, als Kalle in der Schwanenstraße ankam. Biene war noch blasser, als gewöhnlich und lag, trotz der Hitze mit einer Decke zugedeckt, auf dem Sofa und zitterte. Sie schien geweint zu haben. Währenddessen lief Josch aufgebracht im Zimmer auf und ab.
"Was ist denn los?" wollte Kalle wissen und schaute von einem zum anderen.
Josch wies mit einer Kopfbewegung auf Biene. "Sie ist krank."
"Was hat sie denn?"
"Das übliche. Ist wieder umgekippt."
"Was heißt das?"
"Nichts besonderes. Hat sie öfter."
"Und was sagt der Arzt dazu?"
Josch schnaubte. "Quatsch Arzt. Wir brauchen keinen Arzt. Das geht vorbei, und dann ist alles wieder in Ordnung."
“Ist sie schwanger?” Kalle war alt genug gewesen, als sich seine Schwestern angesagt hatten. Alt genug, um zu bemerken, daß es seiner Mutter während dieser Zeit nicht immer gut gegangen war.
Josch warf ihm einen gereizten Blick zu. “Nein, sie ist nicht schwanger, sie ist krank. Ist aber nichts Schlimmes, das vergeht