Timeflyer. Doris Bühler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Bühler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660262
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hob die Schultern. "Es ist nicht leicht zur Zeit, aber Josch hat allerhand Beziehungen. Er wird sich bestimmt darum kümmern."

      Kalle gähnte, er merkte auf einmal, wie müde er war.

      Biene beobachtete ihn und fragte: "Hast du Hunger, willst du was essen?”, fügte dann aber schnell hinzu: “Oder wartest du lieber, bis Josch kommt?"

      Aus ihren Worten war herauszuhören, daß es ihr lieber wäre, wenn er auf Josch warten würde. "Nein, es geht schon," sagte er deshalb, obwohl sich sein Magen schon mehrmals gemeldet hatte. "Schließlich habe ich keine Weltreise hinter mir."

      "Woher kommst du denn?"

      "Aus Bretzingen."

      "Ah." Ganz offensichtlich hatte sie keine Ahnung, wo Bretzingen lag. Und er hatte keine Lust, es ihr zu erklären.

      Kurz nach halb zehn kam Josch nach Hause. Groß und breitschultrig stand er auf einmal in der Tür und musterte den fremden Besucher mißtrauisch. “Wer is'n das?" fragte er unfreundlich.

      Kalle stand auf. "Mensch, Josch! Sag bloß, du kennst mich nicht mehr! Ich sag nur: Wildpark Stadion! Supertramp!"

      Über Joschs Gesicht zog ein breites Grinsen. "Das gibt's doch nicht, der Kalle! Hab dich fast nicht wiedererkannt. Hast dein Haar jetzt länger, stimmt’s? Menschenskind, daß du da bist!" Er boxte ihn freundschaftlich in die Seite, zog sich die nasse Jacke aus, warf sie achtlos über einen Stuhl und sah sich nach Biene um. "Bring noch Bier." Und als das Mädchen eilig hinauslief, rief er ihr nach: "Und was zu essen. Hab einen Bärenhunger. Und der Kalle sicher auch."

      Er zog sich einen Stuhl neben das Sofa. "Jetzt erzähl mal. Was hast'n vor? Hast Ärger zu Hause gehabt, was?"

      "Naja, das Übliche," nickte Kalle. "Aber irgendwann reicht's einem einfach. Ich hatte die Schnauze voll, verstehst du?"

      "Klar, Mann, versteh’ ich doch! Dein Alter..., war doch dein Stiefvater, stimmt’s? Hast mir ja von ihm erzählt. Hast recht gehabt, daß du weg bist. Kannst bei uns bleiben erst mal, später sehen wir weiter."

      Biene stellte einige Bierflaschen auf den Tisch und brachte einen Laib Brot und ein großes Stück Schinken. Von beidem schnitt sich Josch mit seinem Taschenmesser ein paar unförmige Stücken herunter und schob es dann zu Kalle hinüber. Der langte nun auch kräftig zu.

      Josch sah sich nach Biene um, die halb hinter ihm stand und auf neue Anweisungen zu warten schien. "Kannst jetzt ruhig verschwinden,” sagte er zu ihr, “wir haben noch zu reden." Und dann schlug er Kalle erneut auf die Schulter und lachte: “Mann, ist das 'ne Überraschung! Aber ich hab’s gewußt, daß du eines Tages hier aufkreuzen würdest!"

      "Glaubst du, daß ich Arbeit finden werde? Kannst du da was machen?"

      "Klar doch! Hab Beziehungen. Wird schon klappen irgendwie. Kannst solange hier bei uns pennen, hab 'ne leere Kammer." Mit dem Kopf wies er auf eine Tür neben dem Spültisch, die in ein angrenzendes Zimmer führte. "Hat schon so manchen vor der Parkbank bewahrt." Er lachte, hob seine Bierflasche und stieß mit Kalle an. "Auf dein neues Leben," sagte er, und Kalle nickte. "Ja, auf mein neues Leben!"

      Später, als er in dem engen kleinen Raum auf der übelriechenden Matratze lag und in die Dämmerung starrte, zog Kalle Bilanz über seinen Start in dieses neue, selbständige Leben. Noch hatte er sich nicht ganz von zu Hause gelöst, noch erschien ihm alles wie ein kurzer Ausflug in eine andere, fremde Welt, aus der er morgen wieder verschwinden und in den Kreis seiner Familie zurückkehren konnte, wenn er wollte. Aber er wollte nicht. Er ballte die Faust unter der schmutzigen Wolldecke, mit der er sich zugedeckt hatte. Er war sich der Tragweite seines Entschlußes noch immer nicht ganz bewußt, deshalb störte ihn weder die Leere noch die Häßlichkeit des kleinen Zimmers, in dem er lag, und auch nicht die zerfetzten Seiten aus Pornoheften, die an der Wand klebten. Noch vermißte er sein Bett nicht, die saubere Bettwäsche, das Badezimmer... Noch schwirrten tausende großartiger Ideen in seinem Kopf herum und Pläne darüber, was er alles tun, und wie er alles machen wollte. Er stellte sich Walter, seinen Stiefvater, vor, wie er zu Hause in der kleinen Küche saß. Mager, mit schütteren blonden Haaren, unrasiert und mit schweren Augenlidern vom letzten Rausch. Eines Tages würde er zurückkehren, ihm ein paar Scheine auf den Tisch blättern und gönnerhaft zu ihm sagen: "Da! Kauft euch was! Was Hübsches für Mama und die Mädchen."

      Bei dem Gedanken an seine Schwestern mußte er lächeln. Er hing sehr an ihnen, an allen dreien. Aber ganz besonders an Biggie, der jüngsten, die so empfindsam und sensibel war. Eines Tages, wenn er es geschafft haben würde, wollte er zurückkehren und sie alle verwöhnen. Eines Tages...

      Schon am nächsten Morgen machten sie sich auf die Suche nach Arbeit für Kalle. Der erste auf Joschs Liste war ein Kunststudent, der in einer Dachkammer zwischen Staffeleien, Bildern und Farbtöpfen hauste. Er hatte rotes ungepflegtes Haar und sah krank aus. Josch hatte ein paarmal für ihn Modell gesessen. Das brachte zwar nicht viel, aber es war leicht verdientes Geld, weil man kaum etwas dafür tun mußte. Doch der Student hob bedauernd die Schultern, im Augenblick brauchte er niemanden.

      Der nächste war Verkäufer in einer Boutique in der Kaiserstraße. Er trug eine hautenge schwarze Lederhose, dazu ein weinrotes Rüschenhemd. An seinem linken Ohr glänzte ein winziges goldenes Kettchen mit einem Rubin als Anhänger. Das lange mahagonifarben getönte Haar hatte er im Nacken mit einem Seidenband zusammengebunden. Für ihn hatte Josch wiederholt Pakete ausgetragen und andere Botengänge erledigt. "Wie sieht's mit Arbeit aus, Fabian?” fragte Josch. "Haste nicht was zu tun für meinen Freund hier?"

      Der junge Mann betrachtete Kalle abschätzend, während er sich mit einer eleganten Handbewegung eine Haarsträhne aus der Stirn strich.

      “Sieht doch Klasse aus, finds’te nich?” meinte Josch zwinkernd, und Kalle trat erschrocken einen Schritt zurück. Fast war er erleichtert, als der Schönling den Kopf schüttelte. “Tut mir leid, im Augenblick brauche ich wirklich niemanden. Vielleicht in einigen Wochen, wenn der Sommerschlußverkauf losgeht. Meldet euch doch einfach mal wieder.”

      Gegen Mittag trafen sie sich mit einem alten Mann in einem Straßencafé. Er trug einen verwaschenen Pullover mit einem großen Loch im Ärmel und roch ungewaschen und nach Knoblauch. Er arbeitete auf einem Schrottplatz, wo er sich in einem rostigen, ausrangierten Kleinlaster eingenistet hatte. Mitunter, wenn es viel zu tun gab, erlaubte er auch mal einem andern, sich dort ein paar Mark zu verdienen. Er musterte Kalle eingehend und mit unverhohlener Neugier aus kleinen flinken Raubvogelaugen. Dann entschied er sich gegen ihn, ohne zu erklären, warum. "Im Moment ist nichts drin, mein Lieber," sagte er und schüttelte den Kopf mit den weißen, zotteligen Haaren. Er stand auf, und ohne seine Rechnung zu bezahlen, verschwand er mit schlurfenden Schritten zwischen den Passanten.

      Josch wurde immer einsilbiger. Von nun an ließ er Kalle auf der Straße warten, wenn er mit jemandem verhandelte. Und Kalle fragte nichts mehr. Ihm schien, als beträfe das alles gar nicht ihn, sondern einen ganz anderen. Es interessierte ihn immer weniger, worüber geredet wurde, wenn Josch wieder einmal irgendwo läutete und dann hinter einer Tür verschwand. Um sich darüber Gedanken zu machen, sagte er sich, war noch Zeit, wenn es tatsächlich einmal klappen sollte. Doch dazu kam es nicht.

      Gegen Abend aßen sie eine Kleinigkeit an einer Imbißbude. Als Josch sein Portemonnaie zückte, kam ihm Kalle zuvor. Noch hatte er genügend Geld in der Tasche, denn er hatte einen großen Teil seiner Ersparnisse von seinem Konto in Bretzingen abgehoben. "Laß gut sein, ich mach das schon,” meinte er. “Du hast heute schon genug Ärger gehabt durch mich.”

      Josch lächelte süßsauer und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bierglas. "Hast 'ne schlechte Zeit erwischt," erklärte er achselzuckend.

      Kalle nickte. "Morgen früh werde ich mir eine Zeitung kaufen. Irgendwas wird sich schon finden.”

      Josch fühlte sich in seinem Stolz verletzt. “Brauchst keine Zeitung,” warf er ein, “kenne genügend Leute, müssen nur die richtigen finden. Wir geben nicht auf, Kalle, noch ist nichts verloren. Morgen suchen wir weiter.”

      Kalle nickte wieder und gähnte. Die Füße taten ihm weh, und sein T-Shirt