Ich nickte, es war mir wieder eingefallen. Urplötzlich konnte ich mich ganz deutlich daran erinnern, wie er an jenem Tag in mein Büro gekommen war und mir von einem selbstgebastelten Monstrum erzählt hatte, das ihm jemand über Nacht auf den Tisch gestellt hatte. Doch bevor er mir das Ding hatte zeigen können, war es verschwunden. Damals hatte ich geglaubt, er sähe vor lauter Überarbeitung bereits Gespenster, seine Nerven könnten ihm einen Streich gespielt haben. Nun war mir allerdings klar, was der seltsame Zwischenfall zu bedeuten hatte.
“Dieser geheimnisvolle Apparat von damals war dieser hier,” sagte der Doktor und zeigte auf den ‘Timeflyer’. “Und ich selbst habe den Aschenbecher entfernt, weil ich keine Ahnung hatte, was das sein sollte."
“Und Sie haben sich niemals an diesen Vorfall erinnert?” fragte Prof. Riechling verblüfft. “Auch nicht später, während wir an diesem Gerät gearbeitet haben?”
“Nein, niemals! - Das heißt, wahrscheinlich nicht. Doch auf einmal bin ich mir gar nicht mehr so sicher...”
“Erstaunlich,” meinte der Professor. “Ein hochinteressantes Phänomen.” Er winkte mich zu sich. “Kommen Sie, Karin, dazu sollten wir uns einiges notieren.” Und dann diktierte er mir den Verlauf dieser merkwürdigen Geschichte und fügte eine endlose Reihe von Vermutungen und Erklärungsversuchen hinzu.
Das eigentliche Experiment, die Reise eines Gegenstandes in die Zukunft, fand mit knapp drei Stunden Verspätung statt und verlief ohne weitere Zwischenfälle. Diesmal wurde ein Briefbeschwerer an den Drähten befestigt, und nach genau einer Stunde und zweiunddreißig Minuten des Wartens, die Dr. Weißgerber mit Erläuterungen über die einzelnen Funktionen des Gerätes ausfüllte, tauchte er unbeschadet vor unseren Augen wieder auf.
Tief beeindruckt trennte sich die kleine Runde kurz vor halb drei Uhr. Jeder einzelne von uns tat sich schwer, das fantastische Erlebnis mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen.
In dieser Nacht war es mir unmöglich, gleich einzuschlafen. Ich lag im Dunkeln, schaltete den Plattenspieler ein und setzte die Kopfhörer auf. Einige Tage zuvor hatte ein neuer Song die Charts erobert. Jeder Radiosender spielte ihn, aus jedem Lautsprecher war er zu hören. In kürzester Zeit pfiffen ihn buchstäblich die Spatzen von den Dächern. Der Song hieß ‘Twilight’, und er erzählte von einer unglücklichen Liebe. Von einer Liebe, die jemand gefunden und dann gleich wieder verloren hatte. Der Sänger hieß ‘Blackhead-Charly’, ich kannte ihn nicht, hatte nie zuvor von ihm gehört. Aufgrund des Fotos auf dem Cover, das den jungen Mann in eigenwilligem bizarrem Outfit zeigte, hätte ich mir die Platte vielleicht niemals gekauft, wäre ich nicht längst von seinem Lied völlig verzaubert gewesen. Seine ein wenig rauhe und doch so sanfte Stimme, die Traurigkeit und die Sehnsucht, die herauszuhören waren, berührten mich auf seltsame Weise. Sie weckten den Wunsch in mir, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten. Ich verstand ihn. Ich konnte mit ihm fühlen, weil es auch tief in meinem Inneren diese unbeschreibliche Sehnsucht gab, die ich mir oft nicht erklären konnte. Sehnsucht, die es für mich eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, denn ich hatte ja Klaus.
1. DREI JAHRE ZUVOR - START IN EIN NEUES LEBEN
Sommer 1983
Der Himmel war grau und verhangen, und als der Zug Durlach in Richung Karlsruhe-Hauptbahnhof verließ, fielen die ersten Tropfen. Sie hinterließen kleine durchsichtige Spritzer auf den staubigen Scheiben.
Der junge Mann im letzten Abteil lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fenster und streckte die langen Beine aus. Er trug verwaschene Jeans und eine abgetragene schwarze Lederjacke, darunter ein T-Shirt, auf dem noch schemenhaft der Schriftzug von Supertramp zu erkennen war. Den hohen blau-weißen Turnschuhen war anzusehen, daß sie schon weit gelaufen sein mußten.
Sein Gepäck stand auf dem Sitz gegenüber: Eine vollgestopfte rote Sporttasche mit abgestoßenen Ecken und eine Umhängetasche aus dunkelblauem Denim. Daneben, versteckt in einer fleckigen Stoffhülle, eine Gitarre. An der Jeanstasche baumelte ein Namensschildchen, hinter dessen trübem Plastikfenster mit Filzstift Karl-Heinz Schwarzkopf geschrieben stand.
Der junge Mann pfiff ein paar Takte, schaute aus dem Fenster und verfolgte die vorüberziehende Häuserreihe der Stuttgarter Straße, bis der Zug in das Dunkel der Bahnhofshalle eintauchte wie in den Rachen eines riesigen Untiers.
“Karlsruhe Hauptbahnhof - Karlsruhe Hauptbahnhof! Bitte aussteigen, der Zug endet hier."
Der Waggon war vollbesetzt gewesen, nun wälzte sich eine lange Schlange von Fahrgästen im Mittelgang dem Ausgang zu. Der junge Mann nahm sein Gepäck auf und zwängte sich dazwischen.
Auf dem Bahnsteig blieb er einen Augenblick lang stehen. Für Sekunden tauchten Bilder in seiner Erinnerung auf. Bedrückende Bilder aus seiner Kindheit. Seine Mutter ganz in Schwarz gekleidet, mit verweinten Augen. Er war fünf Jahre alt gewesen, damals, als sein Vater starb. Fast spürte er wieder den festen Griff von Tante Veras Hand, mit dem sie ihn festhielt, aus Angst, er könnte ihr davonlaufen, denn er hatte sich heftig dagegen gewehrt, mit ihr nach Rastatt zu fahren und seine Mutter in ihrem Kummer alleinzulassen.
Er blinzelte und versuchte, die Erinnerungen von sich abzuschütteln wie ein lästiges Insekt. Das war lange her, seit damals hatte sich vieles verändert. Viel zuviel, dachte er. Und nicht unbedingt zum Guten.
In der Bahnhofshalle schaute er sich fasziniert um. Er mochte Bahnhöfe. Sie machten vergessen, wer man war, woher man kam und wohin man ging. Man war ein Reisender unter Reisenden, ein Tropfen im Strom des Geschehens. Er mochte das bunte Durcheinander von Läden und Ständen, von Automaten und Telefonzellen, Werbeplakaten und Lichtern. Mitten in der Halle blieb er stehen und schaute hinauf zum Kuppeldach, von dem das vielfältige Stimmengewirr widerhallte: Rufe, Schreie, Lautsprecherstimmen. Die Luft war erfüllt von Sehnsucht und Fernweh, als könnte man sie greifen. Und von Freiheit. Vor allem war es die Freiheit, die er tief in sich hineinsog.
Am Ausgang, neben den Ankunfts- und Abfahrtstafeln, stellte er die Taschen ab, lehnte die Gitarre behutsam dagegen und zog ein zusammengefaltetes Zettelchen aus seiner Jackentasche. Schwanenstraße 6. In Gedanken hörte er Josch sagen: ‘Ganz in der Nähe der Pyramide, nicht weit weg vom Marktplatz. Findest du bestimmt.’
Inzwischen war der Regen stärker geworden und platschte auf die Überdachung der Rolltreppe, die unter die Straße führte und zu den Haltestellen der Straßenbahn. Dabei trat ihm die junge Frau in den Weg, die an einem Stand Schmuck verkaufte. “Sieh mal, wie gefällt dir das?” fragte sie und hielt ihm ein silbernes Kreuz an einem dünnen Kettchen entgegen. Er sah sich den Anhänger an, hob den Kopf und fing einen Blick aus ungewöhnlich blauen Augen auf. Er lächelte, zuckte bedauernd die Schultern und lief weiter.
Es war Feierabendzeit. Unter dem Glasdach der Haltestelle drängte sich eine Traube wartender Menschen, die Schutz vor dem Regen suchte. Zwischen einer alten Frau und einem dicken Herrn mit Brille war gerade noch so viel Platz, daß er sich dazwischenzwängen konnte. Weiter hinten beschwerte sich jemand lautstark darüber, daß man sich nun kaum mehr rühren konnte.
Die alte Frau neben ihm lächelte ihm zu, und verwundert bemerkte er ein paar Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Ihr Anblick rührte ihn, ohne daß er gewußt hätte, warum. Sie mußte kranke Augen haben, dachte er sich, oder sie war einfach nur traurig. Vielleicht erinnerte er sie an ihren Sohn oder an einen Enkel, den sie lange nicht gesehen hatte. Nicht nur, weil ihm die Großstadt fremd und ungewohnt war und er sich mit den Bussen und Bahnen nicht auskannte, sondern aus einem Gefühl heraus, das er sich selbst nicht erklären konnte, sprach er die alte Frau an und fragte sie nach der richtigen Straßenbahn in Richtung Marktplatz und Pyramide.
“Ich habe den gleichen Weg,” sagte sie. “Ich werde Ihnen sagen, wenn die richtige Bahn kommt, und auch, wann und wo Sie aussteigen müssen.”