Timeflyer. Doris Bühler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Bühler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660262
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schlägst, ich könnte eines Tages mit ihm durchbrennen."

       Ich mußte lächeln, als mir diese Szene wieder einfiel, während ich dem Doktor zuschaute, wie er sein neuestes Experiment vorbereitete.

       Obwohl es für jeden einzelnen von uns immer wieder an ein Wunder grenzte, was er und Prof. Riechling uns vorführten, so hatte sich doch inzwischen die ganz große Aufregung gelegt, und wir sahen dem bevorstehenden Erlebnis wesentlich gefaßter und gelassener entgegen, als beim ersten Mal.

       Im Juni 1986 hatte uns der Doktor ein Gerät vorgestellt, das nur noch die Größe eines Walkie-Talkies hatte, und das zuverlässiger arbeitete, als der unförmige Prototyp vom Januar. Wie vorausberechnet, fast auf die Viertelstunde genau, kam der in die Zukunft geschickte Gegenstand, eine dunkelbraune Schreibmappe, zu uns zurück, ohne daß auch nur ein einziges Blatt gefehlt hätte oder eine Seite verknickt gewesen wäre.

       Anfang Dezember 1986 war das Gerät dann nur noch so groß wie eine Packung Zigaretten und arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks, und nun, - wir schrieben inzwischen den 22. Juni 1987, - war Dr. Weißgerbers Modell auf die Größe einer Streichholzschachtel zusammengeschrumpft und mit einem metallenen Gehäuse versehen. Nun sollte es erstmals an einem lebenden Wesen getestet werden, und zwar an dem kleinen ahnungslosen Kaninchen, das vor uns in einer mit Stroh ausgelegten Holzkiste saß.

       Der Doktor und Prof. Riechling hatten hart gearbeitet in den letzten Wochen und Monaten, und sie versicherten uns, daß dieser neue ‘Timeflyer’ so genau funktioniere, daß die Abweichung nur noch etwa eine Minute über einen Zeitraum von fünf Jahren ausmachte.

       “Im Prinzip ist das natürlich noch zuviel,” bekannte Prof. Riechling.“Außerdem arbeiten wir bereits seit einiger Zeit an einem Modell, das so klein sein wird, daß es wie eine Armbanduhr am Handgelenk getragen werden kann. Seine Bedienung wird um ein Vielfaches einfacher sein, als bei den letzten Exemplaren, und seine Abweichungen werden so geringfügig sein, daß sie nicht mehr ins Gewicht fallen, - egal, wie weit wir uns vorwärts in die Zukunft oder zurück in die Vergangenheit bewegen werden.”

       Dr. Degenhardt sprang auf. “Was soll das heißen: ‘...wie weit wir uns bewegen werden’? Wir? Und was wollen Sie damit sagen, wenn Sie ankündigen, man könne es ‘wie eine Armbanduhr am Handgelenk’ tragen? Soll das etwa bedeuten...?”

       Dr. Weißgerber hob die Hand, um das Gespräch zu beenden. “Wir werden während des Experiments noch Zeit genug haben, uns über ungeklärte Fragen zu unterhalten,” sagte er. “Jetzt sollten wir erst einmal beginnen.”

       Der Professor konnte sich allerdings eine letzte Bemerkung nicht verkneifen. “Wenn alles gut geht, werden wir Sie bald zu einer Reihe ganz neuartiger Versuche einladen können. Und vielleicht sogar noch vor Ablauf diesen Jahres."

       Der Doktor legte ihm schnell die Hand auf den Arm und warf ihm einen tadelnden Blick zu, als hätte er bereits ein klein wenig zuviel verraten.

       Es war ein ganz normales Kaninchen mit graubraunem Fell. Ich hatte ihm eine Möhre hingehalten, die es geschickt zwischen den Vorderpfoten hielt, und an der es nun geräuschvoll nagte.

       “Das berühmteste Kaninchen der Welt", sagte Frau Dr. Ebenstreit neben mir und kraulte es zwischen den langen Ohren. “Wenn es wüßte, was wir heute mit ihm vorhaben, würde ihm seine Karotte ganz gewiß nicht mehr schmecken.”

       Sie trug ein Strickkostüm in Silbergrau mit altrosa Streifen und sah sehr elegant aus. Von Dr. Weißgerber wußte ich, daß sie keine Wissenschaftlerin im eigentlichen Sinne war, sondern daß sie in Frankfurt eine Praxis für Allgemeinmedizin unterhielt, daß sie aber sehr offen war für alles Neue und Unkonventionelle, und daß außergewöhnliche Vorgänge schon immer einen großen Reiz auf sie ausgeübt hatten. Im Übrigen hielt er es für besonders wichtig, auch einen Mediziner in seiner Runde zu haben.

       “Es wird schon gutgehen, kleines Häschen," sagte ich zu dem Kaninchen, "wahrscheinlich wird alles problemlos über die Bühne gehen."

       Frau Dr. Ebenstreit lachte. "Hoppla, Sie zweifeln doch nicht etwa an dem Doktor?"

       Ich schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Im Grunde bin ich überzeugt davon, daß alles klappt. Er weiß genau, was er tut und überläßt nichts dem Zufall."

       Sie ließ die Brille an der silbernen Kette baumeln und nickte. "So ist's recht," meinte sie, "das hört sich doch gleich viel besser an."

       Dr. Degenhardt war Naturwissenschaftler und Dozent an der Universität in Köln. “Ich denke, wir dürfen wieder mit einem fantastischen Erlebnis rechnen,” sagte er, als er sich zu uns gesellte. Er stützte sich auf den Holzkasten, in dem das Kaninchen saß, und betrachtete es gedankenverloren.“Ich hoffe nur, wir müssen nicht eines Tages dafür büßen, daß wir uns in Angelegenheiten mischen, die uns nichts angehen. Wir Menschen können die Gesetze der Natur zwar erforschen und versuchen, sie sinnvoll einzusetzen, aber wir sollten uns davor hüten, neue Phänomene heraufzubeschwören. Es ist, als wollten wir unserem Herrgott ins Handwerk pfuschen.”

       “Na, na, Doktor, wer wird denn so schwarzsehen,” fuhr Herr Fröbel, der Mathematiker, dazwischen. “Auch der Zeitsprung unterliegt den logischen Gesetzen der Natur. Und noch haben wir ja nicht gepfuscht, oder?”

       Dr. Degenhardt wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. “Wer weiß, wohin uns unsere Neugier noch führen mag.”

       Dann war es schließlich soweit, das angekündigte Kaninchen-Experiment konnte starten. Vorsichtig hob ich den kleinen Kerl aus seiner Kiste und setzte ihn auf den großen Bogen Papier, den Prof. Riechling mit einem Zwinkern und mit der Bemerkung “Für alle Fälle” auf dem Mosaiktisch ausgebreitet und befestigt hatte. Als das Kaninchen schnuppernd von seinem zugewiesenen Platz herunterhoppelte, schob er es ein wenig unsanft wieder zurück, bis auf eines der zwei aufgemalten dicken schwarzen Kreuze.

       Es war genau zwei Minuten vor 14 Uhr. Diesmal sollte nicht nur die Reise in eine andere Zeit, sondern erstmals auch die gezielte Ankunft aus der Zukunft in unsere Gegenwart demonstriert werden. Es war geplant, daß wir unser Kaninchen punkt 16 Uhr um genau zwei Stunden zurückschicken würden. Das bedeutete, daß wir es in wenigen Minuten, also genau um 14 Uhr, in unserer Gegenwart erwarten konnten. Dazu hätten wir ‘unser’ Kaninchen zunächst noch gar nicht gebraucht, doch bei dieser Gelegenheit sollte auch gleich das Verhalten ‘beider’ Tiere zueinander getestet werden.

       Die Turmuhr, die hinter den Dächern der benachbarten Häuser zu erkennen war, schlug mit vier kleinen hellen Schlägen zur vollen Stunde und zeigte dann mit zweimaligem dumpfem Dröhnen an: Es war 14 Uhr. Alle hielten den Atem an. Auch ich war aufgeregt und starrte auf das Papier auf dem Tisch, wo das Kaninchen unsicher auf einer der Markierungen saß und Dr. Weißgerber Mühe hatte, es daran zu hindern, seinen Platz zu verlassen. Ich warf einen schnellen Blick auf die Taschenuhr neben meinem Schreibblock. “Die Turmuhr geht eine Minute vor,” sagte ich in die Stille hinein.

       Die Anwesenden bewegten sich schnell noch einmal, husteten, atmeten kräftig durch, schlugen die Beine übereinander oder beugten sich ein wenig weiter vor. Dann waren die Blicke aller wieder starr und gespannt auf die zweite Markierung gerichtet.

       Und plötzlich war es da! Es geschah genauso unvermittelt und überraschend, wie jedesmal. Auf einmal saß da ein zweites Kaninchen, und ‘unser’ Exemplar hoppelte ihm freudig entgegen, um es zu begrüßen, ohne zu ahnen, daß es sich selbst gegenübersaß.

       Mir war, als griffe eine Hand nach meiner Kehle. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie mir zumute wäre, wenn ich mir plötzlich selbst gegenüberstünde. Wenn da vor mir, Auge in Auge, ein anderer Mensch erschiene, der doch gleichzeitig ich selbst war. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken, und ich war froh, daß das Kaninchen nicht begriff, was mit ihm geschah.