Ziemlich durchnäßt erreichte er schließlich das Haus Nr.6 in der Schwanenstraße: Eine häßliche graue Fassade, die ihn aus dunklen Fensterhöhlen drohend anzustarren schien. Die Haustür war nur angelehnt, sie ließ sich nicht schließen, weil jemand das Schloß herausgebrochen hatte. Im Hausflur war es schmutzig, roch nach Essen, Moder und Urin. Die Ölfarbe an den Wänden war abgeblättert und hatte bizarre Muster aus brüchigen Resten hinterlassen. Schmierfinken hatten Sprüche und Parolen darübergekritzelt und -gesprüht. Am Fuße der Treppe gab es acht verbeulte Briefkästen, Reklamezettel und Zeitungen hingen unordentlich aus ihren Schlitzen. Einige der Namensschildchen waren unleserlich, andere fehlten ganz.
Er wußte nicht, auf welcher Etage Josch wohnte. Zögernd schaute er die Holztreppe hinauf, bevor er den ersten Schritt tat. Sie knarrte, während er langsam höher stieg. Als er die beiden Türen im ersten Stock erreichte, wurde eine von ihnen heftig aufgerissen und eine junge Frau kam heraus. Ärgerlich zuerst, sie mochte ihn für einen anderen gehalten haben. Dann hellte sich ihr Blick auf. "Hi," sagte sie, "zu wem willst'n?"
"Ich suche Josch," antwortete er.
"Ah!" Sie nickte und zog an einer Zigarette.
"Der wohnt doch hier, oder?"
"Ja," sagte sie und wies mit dem Kopf die Treppe hinauf, "einen Stock höher. Aber der ist noch nicht zu Hause. Und Biene auch nicht."
"Und wann kommt er zurück?"
"Spät." Sie lachte ohne jeden Grund.
"Okay." Er wandte sich um und stieg weiter hinauf.
"Wenn du willst, kannst du solange bei mir auf ihn warten."
Er hob abwehrend die Hand. "Nein, danke. Nicht nötig."
"Aber du bist ganz naß!" rief sie ihm nach.
Er gab ihr keine Antwort mehr.
Inzwischen hatte er die nächsten beiden Türen erreicht. Auf der einen klebte ein Zettel mit der Aufschrift Wagenhals, in die andere hatte jemand mit einem spitzen Gegenstand Müller eingeritzt. Er kannte Joschs Familiennamen nicht, und nachdem er auf beiden Seiten geläutet und sich nichts gerührt hatte, stellte er seine Taschen und die Gitarre ab und setzte sich auf die oberste Treppenstufe. An das Geländer gelehnt döste er vor sich hin, und die merkwürdigsten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Vielleicht würde sein Leben eine ganz andere Richtung nehmen, jetzt, da er es selbst in die Hand genommen hatte. Mit ein bißchen Glück konnte er vielleicht sogar wieder Arbeit in einer Schreinerei finden und die abgebrochene Lehre zu Ende bringen. Wer weiß, vielleicht würde er sogar irgendwann seine eigene kleine Werkstatt haben. Eine wahnwitzige Idee, zugegeben, aber warum nicht? Er mochte die Arbeit mit Holz. Das Schreinern hatte ihm immer viel Spaß gemacht, es war nur der Meister gewesen, mit dem er nicht zurechtgekommen war. Eigentlich war ihm schon damals der Gedanke gekommen, aus Bretzingen wegzugehen, er war nur wegen Mama und den Mädchen geblieben. Wenn er jedoch geahnt hätte, daß sich die Probleme mit Walter derart zuspitzen würden...
Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen sein mochte, als ihn das Quietschen der Haustür aus seinen Gedanken riß. Inzwischen war es fast dunkel im Treppenhaus geworden, und als jemand das Licht anknipste, blinzelte er in den trüben Schein der nackten Glühbirne an der Decke und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Mit leichten schnellen Schritten kam jemand die Treppe herauf. Es war eine junge Frau. Sie blieb stehen, als sie ihn sitzen sah. Es schien, als fürchtete sie sich, an ihm vorüberzugehen.
"N'Abend," sagte er, stand auf und schob mit dem Fuß seine Taschen zur Seite, um ihr Platz zu machen.
"N'Abend," antwortete sie, blieb aber weiterhin stehen.
Er trat bis zur Wand zurück. "Bitte!"
Die junge Frau zögerte noch immer.
Sie war nicht sehr hübsch. Ihr schmales, fast knochiges Gesicht war von kurzem dunklem wuscheligem Haar umgeben, ihre tiefliegenden Augen schauten ihn fast ängstlich an.
"Wohnst du hier?" fragte er sie.
Sie nickte. "Ja."
"Dann mußt du Josch kennen."
"Ja." Zögernd kam sie eine Stufe weiter herauf.
"Er hat mir seine Adresse gegeben. Wir kennen uns von Supertramp."
Er hielt ihr den Zettel mit der Anschrift hin. Jetzt kam sie vollends herauf, nahm ihm den Zettel aus der Hand und nickte. "Ja, das ist seine Schrift," sagte sie. "Was willst du denn von ihm?"
"Ich dachte... Josch hat mir angeboten, daß ich eine Weile bei ihm wohnen kann, wenn ich mal von zu Hause weggehe. Für den Anfang jedenfalls, bis ich was anderes finde."
Nun lächelte sie. "Dann mußt du der Kalle sein, stimmt's?"
Sie lief an ihm vorüber, schloß die Tür auf, an der Wagenhals stand und sah sich nach ihm um. "Komm rein," sagte sie freundlich. "Ich bin Biene. Josch hat mir von dir erzählt."
Kalle folgte ihr und trat ein.
Sie stellte ihren Schirm aufgespannt in eine Ecke des langen, fast leeren Korridors und hängte ihren nassen Anorak an einen Haken an der Wand. Dann forderte sie ihn auf, seine Jacke ebenfalls auszuziehen, nahm sie ihm ab und hängte sie daneben. "Er war sich sicher, daß du eines Tages kommen würdest," sagte sie lächelnd.
Sie führte ihn in einen Raum, der Küche und Wohnzimmer zugleich war. Ärmlich eingerichtet, aber doch einigermaßen sauber. "Setz dich. Josch wird in etwa einer halben Stunde hier sein, wenn nichts dazwischenkommt."
Während er sich auf einem alten Sofa niederließ, holte Biene eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und stellte sie vor ihm auf den Tisch, dann zog sie sich einen Stuhl aus der Ecke herüber und setzte sich zu ihm.
"Was macht Josch zur Zeit?" fragte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.
Sie machte eine Handbewegung, die fast alles bedeuten konnte. "Mal dies, mal das," meinte sie, "irgendwas findet sich immer."
"Und du? Was machst du?"
"Schmuck," antwortete sie und wies auf einen kleinen Tisch vor dem Fenster, auf dem, ausgebreitet auf einem Stück dunkelblauem Samt, verschiedene Schmuckstücke, Teilchen aus Silber und das dazugehörige Werkzeug lagen.
"Schmuck?"
"Ja, wir sind eine Clique von fünf Leuten. Wir stellen den Schmuck selbst her und verkaufen ihn dann."
Kalle erinnerte sich an das Mädchen mit den blauen Augen. "Am Bahnhof?"
Sie nickte. "Ja, auch am Bahnhof. Aber ich gehöre zum Stand in der Kaiserstraße."
“Und wie läuft das Geschäft?” Kalle nahm einen Schluck aus der Flasche. “Verkauft ihr tatsächlich so viel von dem Zeug, daß es sich lohnt?”
Sie zog ein Gesicht. "Naja, es könnte besser sein, aber unser Schmuck ist billig. Billiger jedenfalls, als der im Laden. Und trotzdem sehr hübsch. Und wenn es auch nur ein paar Mark sind, die wir dadurch verdienen, so ist es doch immer noch besser, als gar nichts. Leider bin ich nicht ganz gesund, das Stehen fällt mir ziemlich schwer. Ich bin auch nicht so gut bei der Fertigung, wahrscheinlich hab ich zu wenig Fantasie. Deshalb habe ich mich auch mehr auf die einfachen Sachen spezialisiert.” Sie lachte, wurde aber gleich wieder ernst. "Und bei dieser Puzzle-Arbeit hab ich auch Schwierigkeiten mit den Augen. Für mich wäre es besser, wenn ich was ganz anderes machen könnte. Es ist nur nicht einfach, etwas zu finden, wenn man nichts gelernt hat. Ich möchte auch unser Team nicht im Stich lassen."
Er nickte und schwieg eine Weile.
"Glaubst du, Josch kann Arbeit für mich