Timeflyer. Doris Bühler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Bühler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660262
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zu Hause vor dem Fernseher. Sie war süchtig nach Seifen-Opern und Serien und verpaßte kaum eine Folge. Sie liebte und litt mit ihren Helden, fluchte und schimpfte, wenn ihnen etwas Böses widerfuhr und schluchzte vor Glück oder Leid, je nachdem, was ihnen gerade zugestoßen war.

      Kalle mochte das kleine Mädchen mit der Brille und den blonden kurzen Locken, sie war ein netter unkomplizierter Kerl. Ein kleiner Wirbelwind, immer freundlich, immer gut gelaunt. Ein bißchen einfältig und naiv vielleicht, denn sie zeigte ihm ganz unverhohlen, daß sie Gefallen an ihm gefunden hatte, und daß sie ihre Freundschaft gern ein wenig vertieft hätte. Immer wieder inszenierte sie neue Versuche, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Einmal war sie sogar nachts in sein Zimmer gekommen, angeblich aus Angst vor einem Gewitter, und er hatte sie, wie ein ungezogenes Kind, wieder zurück in ihr Bett geschickt.

      Trotz ihrer Eskapaden war es ihm unmöglich, ihr böse zu sein. Für ihn war und blieb sie ein liebenswerter kleiner Kindskopf, und es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, etwas anderes in ihr zu sehen.

      Auch in der Stadt hatte Kalle inzwischen Fuß gefaßt. Seine Abende verbrachte er entweder im Alligator am Leopoldsplatz, oder im Kentucky, zwei Häuserblocks weiter. Manche der jungen Leute, mit denen er zusammenkam, mochte er, weil er mit ihnen über alles mögliche reden konnte, von anderen wußte er nicht einmal den Namen. Sie ihrerseits schätzten ihn, weil er bei verschiedenen kleinen Streitigkeiten Partei für sie ergriffen hatte, und als er sich eines Tages sogar mit seinen Fäusten für ihre Sache eingesetzt hatte, wurde er fast so etwas wie ein Held für sie. Ihn deshalb einen Schläger zu nennen wäre falsch gewesen. Er sah sich nur gern in der Rolle des Beschützers, der den Hilflosen und Schwachen zu ihrem Recht verhalf und für sie kämpfte. Notfalls eben auch mit den Fäusten. Das sprach sich schnell herum, und wann immer er irgendwo auftauchte, fand sich bald der eine oder andere derer an seiner Seite, die sich seine Freunde nannten.

      Als Kalle an diesem Novemberabend in den Alligator kam, war nicht sehr viel los, und er beschloß, ausnahmsweise früh wieder nach Hause zu gehen. Er schlürfte den Schaum vom Bier und beobachtete die übrigen Gäste, von denen er so gut wie jeden kannte, weil es fast immer dieselben waren, die sich hier trafen. Nur in der Ecke am Fenster saß diesmal einer, den er bisher noch nie gesehen hatte.

      “Wer ist denn der dort drüben?” fragte er den Jungen neben sich. “Der mit den langen Haaren und dem Bart? Kennst du ihn?”

      Der Junge folgte seinem Blick. “Ach der!” Er machte eine abfällige Handbewegung. “Das ist Carlo, der Spinner. Den kennt doch jeder.”

      “Wieso hab ich ihn dann noch nie hier gesehen?”

      “Weil er noch nicht sehr lange aus Berlin zurück ist. Er verbringt jedes Jahr den Sommer dort.”

      “Und warum nennst du ihn einen Spinner? Danach sieht er eigentlich gar nicht aus.”

      “Er ist auch nicht wirklich verrückt, wenn du das meinst. Er ist einfach nur ein Sonderling, hat ein paar recht verrückte Ansichten.”

      “Ansichten? Worüber?”

      Der Junge zuckte die Schultern. “Über Gott und die Welt eben. Er predigt: Seid nett zueinander, schlagt euch nicht, belügt und betrügt euch nicht... Du weißt schon, was ich meine.”

      “Theologie-Student?”

      “Carlo doch nicht.” Der Junge lachte. “Der hat vielleicht gerade mal mit Ach und Krach die Schule geschafft.”

      Kalle beobachtete den Fremden. Er mochte Ende zwanzig sein, oder auch Anfang dreißig. Die olivfarbene Armeekleidung, die er trug, war zwar abgetragen, aber sauber und ordentlich, die schweren Militärstiefel blank geputzt. Sein braunes Haar, das ihm in Locken bis auf die Schultern fiel, war weder verfilzt noch strähnig. In kleinen Schlucken trank er sein Glas leer und wischte sich mit dem Handrücken über den Bart. Seine Hand war ungewöhnlich schmal und feingliedrig, sie wirkte fast wie die einer Frau und paßte nicht recht zu seinem übrigen Äußeren.

      “Hallo, Kalle.” Ein Mädchen war hereingekommen, setzte sich neben ihn an die Theke und unterbrach ihn in seinen Beobachtungen. “Hast du ‘ne Zigarette für mich?”

      Er schüttelte den Kopf. “Du weißt doch, daß ich nicht rauche, Nicky.”

      “Dann spendiere mir wenigstens einen Schnaps. Es ist so schrecklich kalt draußen heute.”

      “Tut mir leid, ich bin total blank,” schwindelte er, “aber sobald ich wieder Arbeit habe und Geld verdiene, kriegst du einen doppelten.”

      Sie zog ein Gesicht und rutschte enttäuscht wieder vom Hocker herunter. “Ich nehm’ dich beim Wort.”

      Sie hatte bereits einen anderen ins Auge gefaßt, bei dem sie ihr Glück versuchen wollte, wandte sich aber noch einmal nach Kalle um. “Übrigens, da draußen läuft eine Schlägerei.”

      “Wer ist es denn?”

      Sie hob die Schultern. “Weiß nicht genau, ich habe nur den Andy erkannt.”

      Kalle stand auf, zögerte dann aber und setzte sich wieder. Augenblicke später wurde die Tür aufgerissen und Andy Kramer schaute herein. “He, Kalle!” Er winkte ihn mit einer Kopfbewegung hinaus.

      “Was ist los?” Ohne eine Antwort abzuwarten stand Kalle nun doch auf und folgte ihm auf die Straße.

      Es war ein dunkler, sternenloser Abend. Vom spärlich erleuchteten Schaufenster eines kleinen Buchladens auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel gedämpftes Licht auf den Gehweg, und die Neon-Reklame des Alligators über der Eingangstür blinkte im Sekundentakt und warf rote und grüne Lichtflecken auf das nasse Pflaster. Zwischen Schmutz und Blättern lag ein Junge am Boden. Stirn und Wangen waren mit Blut verschmiert, und in seinem Jackenärmel klaffte ein aufgerissenes Dreieck. Davor, breitbeinig und mit zornesrotem Gesicht, stand ein Mann in schwarzem Lederanzug. Kalle erfaßte die Situation mit einem einzigen Blick, denn er hatte das rot-weiße Emblem auf dem Rücken der Lederjacke erkannt: Big Jack’s Warriors.

      “Verdammter Bastard,” keuchte der Mann im Lederanzug und trat noch einmal mit dem Fuß auf den Jungen am Boden ein.

      Kalle berührte seinen Arm. “Es reicht.”

      Der andere fuhr herum. “Was geht das dich an!”

      “Du siehst doch, daß er fertig ist.”

      “Aber noch nicht fertig genug.”

      “Was war denn überhaupt los?”

      “Ist wohl meine Sache, oder?” sagte der Schläger schweratmend. “Und wenn ich ihn totschlage, dann ist das immer noch meine Sache.”

      Kalle kniff die Augen zusammen. “Das glaub ich kaum.”

      “Halt die Schnauze, sonst bist du der nächste.”

      “Das würd’ ich dir nicht raten,” antwortete Kalle leise drohend.

      Andy Kramer legte ihm die Hand auf den Arm. “Laß ihn, Kalle...,” raunte er.

      Kalle hatte bemerkt, daß der Schläger nicht allein war, eine weitere Gestalt in Schwarz trat nun aus dem Dunkel und baute sich drohend vor ihnen auf. Es war der Hartmann. Derselbe Hartmann, der sich vor einiger Zeit bei der Fischer KG. an der Kasse vergriffen hatte und fristlos entlassen worden war. Kalle hatte ihn seither nicht mehr gesehen. ”Da schau her, der Hartmann!” sagte er spöttisch. “Das ist also der Verein, dem du angehörst. Schöne Freizeitbeschäftigung, wehrlose Leute zusammenzuschlagen.” Er schob sich an ihm vorbei, nahm Andy Kramers Arm und sagte, indem er auf den Jungen am Boden wies: “Komm, wir müssen ihn reinschaffen.”

      “Rühr ihn nicht an!” rief der Hartmann, aber Kalle beachtete ihn nicht, beugte sich stattdessen zu dem verletzten Jungen hinunter und klopfte ihm behutsam auf die Wange, bis er die Augen aufschlug. “Hallo! Geht’s wieder?” fragte er ihn.

      Im gleichen Augenblick packte ihn Hartmanns Gefährte am Ärmel, zog ihn zu sich herum und holte zum Schlag aus. Kalle hatte damit gerechnet, wunderte sich aber dennoch, daß es ihm gelang, rechtzeitig