“Das war nicht sehr klug von dir,” meinte Andy, während sie dem verletzten Jungen halfen, sich aufzurichten.
“Sie haben’s nicht anders verdient.” Unbekümmert schaute sich Kalle um und sah, wie sich die Lederjacken aufrappelten und den Schmutz von den Kleidern klopften.
Der Junge am Boden stöhnte.
“Mannometer,” sagte Kalle kopfschüttelnd, “du hast ja ganz schön was abgekriegt. Kannst du aufstehen?”
“Weiß nicht.” Der Verletzte versuchte es und stützte sich schwer auf die Schultern seiner Helfer. Sein Gesicht war geschwollen, seine Oberlippe unförmig aufgeworfen und das blonde Haar mit Blut verklebt.
Die Warriors fluchten. “Gnade euch Gott, wenn wir euch das nächste Mal treffen,” rief ihnen der Hartmann zu.
Kalle lachte nur, bugsierte den blonden Jungen mit Andys Hilfe über die Schwelle des Alligators und ließ die Tür hinter sich zufallen. Sie setzten ihn an einen der kleinen runden Tische vor der Theke.
“Du lachst!” brachte er gequält hervor. “Du scheinst nicht zu wissen, wer das war. Big Jack’s Warriors, die vergessen nichts. Das nächste Mal werden sie mit der ganzen Bande kommen, und dann habt ihr nicht mal den Deut einer Chance.”
“Warum hast du dich dann mit ihnen angelegt, wenn du sie für so gefährlich hälst?” fragte Kalle und half ihm, die Jacke auszuziehen.
“Ich hab mich nicht mit ihnen angelegt. Sie haben mich angerempelt. Ich habe nur gewagt, mich darüber zu beschweren, das war alles.”
“Wie heißt du eigentlich?”
“Pit. Peter Neumann. Aber meine Freunde nennen mich Pit.”
“In Ordnung, Pit, dann halt jetzt mal still, damit wir nachsehen können, was an dir kaputt und was noch ganz ist. - Nicky?” Kalle sah sich nach dem Mädchen um, das wieder an der Theke saß und ein neues Opfer bearbeitete, um an eine Zigarette oder einen Schnaps zu kommen. “Komm mal her, du mußt uns helfen. Wir müssen ihn irgendwie verarzten.”
Pit hatte Glück gehabt, im großen und ganzen hatte er die Sache besser überstanden, als es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Wenn man von seiner geschwollenen Oberlippe, einem demolierten Schienbein und ein paar blauen Flecken absah, war eine stark blutende Platzwunde über der linken Augenbraue das einzig wirklich Schlimme, was er abbekommen hatte.
“Sie werden zurückkommen und uns alle drei fertigmachen,” lamentierte er. Vor Schmerzen preßte er die Zähne zusammen, als ihm Nicky vorsichtig das Blut von der Stirn tupfte. Sie hatte heißes Wasser und Jod organisiert und versorgte die Wunden so geschickt mit Mull und Pflastern, daß Kalle anerkennend durch die Zähne pfiff. “Du bist doch nicht etwa Krankenschwester?”
Sie grinste. “Nein, aber ich habe drei Brüder.”
Pit beschwor Kalle noch immer. “In Zukunft solltest du ihnen aus dem Weg gehen. Du stehst jetzt auf ihrer schwarzen Liste, und sie werden nicht eher Ruhe geben, bis sie dich nach Strich und Faden vermöbelt haben. Man kommt ihnen nicht ungestraft in die Quere. Sie zum Feind zu haben ist so ziemlich das Schlimmste, was einem passieren kann.”
“Mach dir mal keine Sorgen um mich. Sollen sie nur kommen, ich kann mich wehren,” antwortete Kalle zuversichtlich. Hatte er das nicht gerade wieder bewiesen? Er würde es auch ein nächstes Mal mit dem Hartmann aufnehmen.
Der Fremde mit den langen Haaren, der schweigend in seiner Ecke gesessen und ihnen zugeschaut hatte, stand auf und lief zur Theke hinüber, um seine Rechnung zu bezahlen. Kalle, der ihm im Weg stand, trat einen Schritt zur Seite und machte ihm Platz. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Die Augen des Fremden waren grau. Es waren helle klare Augen, und es lag keinerlei Feindseligkeit in ihnen. Nur Unverständnis und vielleicht ein leiser Vorwurf. Dazu ein Hauch aufrichtigen Mitleids. Kalle hielt ihm Stolz und eine Portion Überheblichkeit entgegen, die der andere zwar registrierte, ihm aber nicht übelzunehmen schien, denn er lächelte. Und obwohl sich beide auf ihre Art dagegen zu wehren suchten, konnten sie doch nichts tun gegen den Anflug von Sympathie, der sie in Sekundenschnelle erfaßt hatte.
“Gute Nacht,” sagte der Fremde.
Kalle sah ihm nach. “Gute Nacht.”
Dann wandte er sich wieder seinen Kameraden zu und überlegte, was als nächstes zu tun war. “Andy, du hast doch ein Auto, kannst du Pit nach Hause fahren?”
Der verletzte Junge hob die Hände und schüttelte heftig den Kopf. “Oh nein, glaubst du vielleicht, ich ginge jetzt nach Hause? Ich wette, sie stehen längst vor meiner Tür und warten auf mich. Ich habe keine Lust, gleich noch mal eine Tracht Prügel zu kassieren.”
”Hast du Freunde, bei denen du übernachten kannst?”
“Ich wüßte jetzt nicht...”
Kalle dachte kurz nach. “Gut, dann kommst du mit zu mir.”
Pit lachte trocken. “Das bringt doch nichts. Wie ich sie kenne, wird bereits ein Trupp auch vor deiner Haustür stehen.”
“Die wissen doch gar nicht, wo ich wohne. Der Hartmann kann unmöglich meine neue Adresse kennen. Der denkt wahrscheinlich, er findet mich noch immer in der Schwanenstraße. Und dort kann er auf der Lauer liegen, bis er schwarz wird.”
Andy Kramer erklärte sich bereit, Kalle und Pit in seinem alten Opel zum Wohnturm zu fahren, und erst, als er die Anlage dreimal langsam umkreist hatte und ihnen nichts Verdächtiges aufgefallen war, hielt er und ließ die beiden aussteigen. Kalle hatte von der Straße aus zum Wohnzimmerfenster hinaufgeschaut und festgestellt, daß es dunkel war. ‘Keiner zu Hause’, hatte er gedacht, doch als er die Korridortüre aufschloß und seine Hand schon am Lichtschalter lag, hörte er Stimmen und bemerkte einen Lichtstreifen hinter Violas nur angelehnter Tür. Viola und Dany stritten miteinander.
“Es war doch deine Idee,” hörte er Viola sagen, “was machst du mir jetzt Vorwürfe.”
“Es war aber nicht meine Idee, den erstbesten anzuschleppen,” antwortete Dany ärgerlich. “Du weißt, ich habe nichts gegen Kalle, wirklich nicht. Ich mag ihn sogar sehr gern. Aber du hättest dir rechtzeitig überlegen sollen, ob er auch für unsere Zwecke der Richtige ist.”
“Hätte ich ihn vielleicht fragen sollen?”
“Warum nicht? Das wäre nur fair gewesen. Wir hätten ihm offen und ehrlich sagen sollen, was wir von ihm erhoffen.”
“Dann wäre er nie geblieben.”
“Na und? Dann hätten wir uns eben nach einem anderen umsehen müssen. Aber er hätte zumindest gewußt, woran er ist.”
Kalles Hand rutschte vom Lichtschalter. Er machte Pit ein Zeichen, ihm wortlos zu folgen und schob ihn in sein Zimmer. “Warte hier auf mich,” flüsterte er ihm zu, "ich bin gleich zurück."
Viola hatte Geräusche gehört und kam auf den Flur heraus. “Petra, bist du’s?”
“Nein, ich bin’s,” gab sich Kalle zu erkennen. “Sorry, daß ich im falschen Augenblick gekommen bin. Es war nicht meine Schuld, daß ich einen Teil eurer Unterhaltung mit angehört habe. Ich glaube, ihr seid mir eine Erklärung schuldig.”
Viola war erschrocken. “Mein Gott, Kalle, das tut mir leid. - Komm rein. Es ist richtig, wir hätten schon lange mit dir reden sollen.”
Obwohl sie ihm Platz anbot, blieb er an den Türrahmen gelehnt stehen, während sie sich wieder neben Dany auf den Bettrand setzte. Die Mädchen schauten sich betreten an.
“Du darfst das nicht falsch verstehen, Kalle,” nahm nun Dany das Wort, “im Grunde geht es gar nicht wirklich um dich.”
“Sondern?”