“Was wäre, wenn?”
“Versprich dir nicht zuviel davon.”
“Das heißt?”
Fredy hatte nur gelacht und ihm keine Antwort mehr gegeben.
“Ich bin einfach nur froh, endlich ein anständiges sauberes Zimmer zu haben, verstehst du?” hatte er ihm seine Entscheidung zu erklären versucht. Fredy hatte genickt. “Klar verstehe ich das. Trotzdem gebe ich dir einen guten Rat: Halte dich möglichst aus allem raus.”
“Könntest du vielleicht ein bißchen deutlicher werden?”
“Ich meine, selbst wenn du dich bei den Mädchen wie der Hahn im Korb fühlen solltest, laß dich nicht davon täuschen. Kümmere dich nicht um sie, um keine von ihnen. Geh deiner Wege, damit fährst du am besten!” Dann war er in sein Auto gestiegen, hatte noch einmal die Hand gehoben und war losgefahren, und Kalle ärgerte sich über das dumme Gefühl, das sich in seiner Magengegend festgesetzt hatte. Sicher, Violas Angebot war im Grunde viel zu schnell gekommen, das hatte er sich auch selbst schon gesagt, doch was sollte schon los sein mit den Mädchen? Selbst wenn sie bösartig oder zickig wären, wenn sie versuchen würden, ihn auszunutzen oder gar zu bestehlen, - für ein anständiges Zimmer war er bereit, einiges in Kauf zu nehmen. Notfalls würde er sich auch zu wehren wissen. Er wollte es wenigstens mit ihnen versuchen.
Nachdem er an der roten Tür geläutet hatte, öffnete ihm ein Mädchen mit Brille. "Ja, bitte?" fragte sie, krauste die Nase und beugte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. “Herrje!” Sie tippte sich mit dem Finger an die Stirn. "Schon kapiert, du bist der Kalle, stimmt's?"
"Ja, der bin ich."
"Komm rein! Ich bin die Petra. Viola hat uns schon von dir erzählt."
Sie zog ihn am Ärmel in den Korridor und schloß die Tür hinter ihm. "Laß dich mal genauer anschauen." Sie nahm die Brille ab, kniff die Augen zusammen und beugte sich noch weiter vor. "Tatsächlich, sie hat recht gehabt, du siehst wirklich gut aus!”
Er stellte sein Gepäck im Flur ab und blieb unschlüssig stehen, da Petra ihn noch immer begutachtete.
“Erzähl’ mal, was machst du denn so?” wollte sie wissen. “Ich meine beruflich, - hast du einen interessanten Job? Oder bist du auch Student?”
Noch ehe er antworten konnte, hörte er jemanden hinter sich sagen: "Heb dir deine Fragen für später auf, laß ihn doch erst mal reinkommen. Er wird uns ja wohl nicht gleich wieder weglaufen."
In der Tür zum Wohnzimmer lehnte eine junge Frau mit schulterlangem dunklem Haar. Groß und schlank und sehr hübsch, und eleganter gekleidet, als man es von einer Studentin erwartet hätte. Kalle glaubte, in ihr die junge Frau zu erkennen, deren Bild er in Violas Zimmer gesehen hatte.
"Hast ja recht," meinte die Kleine. “Komm mit, Kalle, ich zeig dir gleich mal dein Zimmer.”
Als sie die Gitarre entdeckte, schlug sie vor Begeisterung die Hände zusammen. "Oh, mein Gott, du spielst Gitarre? Das ist ja fantastisch, das gefällt mir," plapperte sie munter drauflos. "Ich wünschte, ich könnte es auch. Vielleicht kannst du mir eines Tages Unterricht geben.”
Die Dunkelhaarige schob sie behutsam zur Seite und ging einen Schritt auf Kalle zu. Sie trug ein makelloses Make-up, und der Duft ihres Parfums war dezent und aufregend zugleich. Ihre Armreifen klirrten leise, als sie ihm lächelnd ihre Hand reichte. "Ich bin Daniela," sagte sie, "ich freue mich, daß du bei uns wohnen wirst. So, wie dich Viola beschrieben hat, werden wir sicher gut miteinander auskommen."
"Das denke ich auch," sagte Kalle. Er ließ sich in den Raum führen, der in Zukunft sein Domizil sein sollte und stellte Taschen und Gitarre neben dem alten Sofa ab. Für den Moment fühlte er sich erleichtert, denn ihm war nichts Ungewöhnliches an den Mädchen aufgefallen. Im Gegenteil, er fand sie sogar ausgesprochen nett. Jede auf ihre Art.
Im Wohnzimmer wartete Viola bereits auf ihn. "Hallo, Partner," begrüßte sie ihn mit ihren blitzenden blauen Augen. "Setz dich doch! Ich denke, es gibt noch jede Menge zu besprechen.”
Inzwischen war es November geworden. Es nieselte den ganzen Tag, und durch die Straßen fegte ein kalter Wind, der buntes Laub vor sich hertrieb. Es wurde früh dunkel, und die Abende waren ungemütlich und kühl.
Der Vertrag mit der Fischer KG. war zum 31.Oktober abgelaufen, und Kalle bemühte sich seither, mit dem gesparten Geld so gut wie möglich zu haushalten, bis er eine neue Arbeit gefunden hatte. Für den bevorstehenden Winter brauchte er wärmere Kleidung, deshalb drehte er die Mark zweimal um, bevor er sie ausgab.
Seit er bei den Mädchen im Wohnturm wohnte, ging es ihm zwar besser, als bei Josch und Biene, das bedeutete aber auch, daß jeden Monat ein fester Betrag für die Miete draufging. Obwohl ihm Dany angeboten hatte, darauf zu verzichten, falls er einmal knapp bei Kasse sein sollte, hatte er von Anfang an darauf bestanden, sich an allen Kosten zu beteiligen. Sein Stolz ließ es nicht zu, sich von einem Mädchen etwas schenken oder bezahlen zu lassen, lieber würde er auf all die Annehmlichkeiten verzichten, die ihm im Wohnturm zugute kamen, und sich wieder in der Schwanenstraße einquartieren.
Sein Zimmer im Wohnturm war nicht gerade üppig ausgestattet. Das alte Sofa diente ihm als Nachtlager, und Fredy hatte ihm von Freunden einen alten Schrank besorgt, in dem er die wenigen Sachen, die er besaß, unterbringen konnte. Er legte keinen besonderen Wert auf eine aufwendige Einrichtung, für ihn war dieser Raum lediglich ein Platz zum Schlafen, und nur eines zählte: Er hatte es warm, alles war sauber und ordentlich, und sein Leben verlief fast wieder so normal, wie zu Hause in Bretzingen. Allerdings freute es ihn, als Petra die leeren Wände mit bunten Kalenderblättern dekorierte und sogar einige Stücke ihrer Postkartensammlung opferte, - ein Beweis dafür, wie hoch er bei ihr im Kurs stand.
Zu Anfang war er noch der Meinung gewesen, Viola hätte sich am Schmuckstand spontan in ihn verliebt und sei an einer Beziehung mit ihm interessiert. Nachdem er gründlich darüber nachgedacht hatte, sagte er sich, daß es wahrhaftig Schlimmeres geben mochte. Sie war ein hübsches Mädchen, nett und gescheit, es mußte ja nicht für ewig sein. Als er jedoch mit ihr allein war und sie küssen wollte, wand sie sich geschickt aus seinen Armen, legte ihm lächelnd den Finger auf den Mund und sagte: “Gestern war gestern, und heute ist heut.”
Nicht, daß es ihm etwas ausgemacht hätte, von ihr zurückgewiesen zu werden, er war nur ziemlich überrascht. Vor allem aber fühlte er sich verunsichert nach diesem Zwischenfall, weil er nicht wußte, wie er sich künftig ihr gegenüber verhalten sollte. Zunächst hielt er sich abwartend zurück, da aber auch sie weiterhin auf Distanz blieb, akzeptierte er ihre Entscheidung mit einem Achselzucken. Trotzdem fragte er sich manchmal, was sie wohl dazu bewogen haben mochte, mit ihm zu schlafen, wenn er ihr doch so vollkommen gleichgültig zu sein schien. War es ein Ausrutscher gewesen, den sie inzwischen bereute? War sie einfach nur einer Laune gefolgt? Oder gab es irgendwo einen anderen Jungen, den sie ihm vorzog? Und warum waren Dany und Petra mit Violas einseitiger Entscheidung sofort einverstanden gewesen, ohne ihn überhaupt zu kennen? Er erinnerte sich an Fredys Worte und versuchte, weder Viola noch den beiden anderen Mädchen Anlaß zu der Vermutung zu geben, er hätte es auf eine von ihnen abgesehen. Dadurch ergab es sich wie von selbst, daß er nur sehr wenig seiner Freizeit im Wohnturm verbrachte.
Es war Zufall, daß er eines Tages dann doch hinter Violas Geheimnis kam. Ihm war aufgefallen, daß sie mit Dany Blicke und kleine Zärtlichkeiten tauschte, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Kleine liebevolle Gesten, die über das übliche Verhältnis zweier Freundinnen hinausgingen. Aha, dachte er, das also war der Grund für ihre Zurückhaltung, und deshalb hatte ihn Fredy gewarnt. Na gut, er war kein Moral-Apostel, und er wäre der Letzte gewesen, den das in irgendeiner Weise gestört hätte. Doch wenn sie es schon zu verheimlichen suchten, warum