Timeflyer. Doris Bühler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Bühler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660262
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       “Durch diese Krümmung können sich zwei Punkte dieser gewundenen Zeitschnur viel näher kommen, als wenn es sie nur auf einer geraden Linie gäbe. Von dem Punkt aus, an dem wir uns gerade befinden, also von unserer Gegenwart aus...”, - irgendwo auf der Schlange malte er einen dicken schwarzen Punkt, "...könnte es demnach wesentlich näher zur Vergangenheit oder zur Zukunft sein, als würden wir uns auf einer geraden Zeitlinie vorwärtsbewegen, und mit der richtigen Technik müßte es möglich sein, einen Teil des Weges quasi zu überspringen, - vorwärts oder rückwärts.”

       Er malte einen dicken Strich vom Gegenwartspunkt hinüber zu einem Bogen der Schlange, der eigentlich in der Zukunft lag, ihn aber fast berührte. “Theoretisch wäre also nur eine gewisse temporale Verschiebung in die eine oder andere Richtung notwendig, wenn wir der Vergangenheit oder der Zukunft einen Besuch abstatten wollten. Sie haben sicher in meinen Aufzeichnungen davon gelesen.”

       “Das ist unglaublich,” murmelte ich fasziniert. “Haben Sie sich schon überlegt, wie man das machen könnte?”

       Er lächelte. “Genau daran arbeiten wir im Augenblick, der Professor und ich, Karin.”

       Er atmete tief ein und fuhr dann fort: “Wir könnten uns beispielsweise einer ganz ‘natürlichen’ Methode bedienen.” Mit dem Filzstift begann er, eine weitere merkwürdige Figur zu zeichnen, ein Ding, das dem Endstück einer Trompete glich. Oder vielleicht eher einem Füllhorn? Einem Trichter?

       “Die Physiker Einstein und Rosen haben nämlich festgestellt, daß es tatsächlich gewisse ‘Brücken’ gibt. Das sind Naturphänomene, die wir heute unter dem Begriff ‘Wurmlöcher’ kennen. Diese röhrenartigen ‘Tunnel’ erscheinen irgendwo und verschwinden wieder. Wenn wir vorhersehen könnten, wo und wann sie auftauchen, und wenn wir sie lange genug offen halten könnten, um sie zu nutzen, dann müßte uns das gelingen, was uns bisher noch unmöglich erscheint: Durch diese Tunnel könnten wir ohne große Mühe selbst weit entfernte Punkte in der Zunkunft oder in der Vergangenheit erreichen." Er machte eine kleine Pause, bevor er weitersprach. "Nun, Professor Riechling und ich versuchen seit geraumer Zeit, solche ‘Wurmlöcher’ künstlich zu erzeugen und auch offen zu halten. Winzig kleine Öffnungen nur, sozusagen ‘Miniwurmlöcher’, derer wir uns bedienen könnten.”

       “Und wenn Ihnen das gelänge?”

       “Dann wäre es uns möglich, beispielsweise einen Gegenstand durch diese ‘Röhre‘ in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu schicken.”

       “Mein Gott,” murmelte ich. “Und ein Mensch? Könnte auch ein Mensch durch diesen Tunnel gehen?”

       Er hatte sich zurückgelehnt und tief geseufzt. “Soweit wollen wir noch gar nicht denken, Karin. Jetzt muß es uns erst einmal gelingen, ein künstliches Wurmloch zu erzeugen und es lange genug geöffnet zu halten. Und das hat sich als wesentlich schwieriger erwiesen, als wir befürchtet haben.”

       Doch daß ihnen das letztendlich gelungen war, davon hatte ich mich inzwischen selbst überzeugen können.

       Kurz nachdem das Kaninchen auf die Minute genau um 17 Uhr wohlbehalten wieder bei uns eingetroffen war, hatten sich auch Dr. Weißgerbers Gäste auf den Heimweg gemacht. Das Kaninchen war in seine Kiste verfrachtet und diese mit einem Deckel aus Maschendraht verschlossen worden, und der Professor hatte sie in sein Auto geladen, um das Tier zu seinem Besitzer zurückzubringen.

       Ich hatte dem Doktor noch beim Aufräumen geholfen. Er sah müde aus, doch er schien zufrieden zu sein mit dem Verlauf des Experiments. Ich war froh, daß er mir anbot, mich nach Hause zu fahren, denn inzwischen ging es auf 2 Uhr zu.

       Während der Fahrt war er sehr schweigsam, er schien vergessen zu haben, daß er mit mir hatte reden wollen. Zwar verstand ich, daß ihm nach diesem aufregenden Abend, und nachdem er unentwegt die Fragen seiner Kollegen beantworte hatte, der Sinn nicht mehr nach Konversation stand, doch ich war neugierig und erinnerte ihn deshalb daran.

       “Ja,” meinte er nachdenklich und nickte, “ja. Aber ich denke, es muß nicht unbedingt heute sein. Ich werde ein anderes Mal darauf zurückkommen.”

       Als ich später im Dunkeln in meinem Bett lag, war mein Innerstes noch immer angespannt bis zum Zerreißen. Ich hätte gern jemandem erzählt, was ich erlebt hatte, doch ich wußte, daß ich das nicht durfte. Ich hatte versprochen, diese Experimente niemals zu erwähnen, weder gegenüber meinen Eltern noch gegenüber Klaus. Mit niemandem durfte ich über dieses Thema reden, mit niemandem! ...Außer vielleicht...? Ich knipste das Licht wieder an. Außer vielleicht mit ihm, mit BlackheadCharly...

       Er lehnte vor mir an der Wand, breitbeinig, mit vor der Brust verschränkten Armen, den Kopf mit den schwarzen, wie kleine Lanzenspitzen abstehenden Haaren leicht zurückgebeugt. Er trug einen engen Anzug aus schwarzglänzendem Leder, gespickt mit glitzernden silberfarbenen Nieten, dazu hohe schwarze Schaftstiefel. Ein steifer Kragen lenkte die Aufmerksamkeit auf sein schwarz-weiß geschminktes Gesicht, und nur, wenn man ganz genau hinsah, bemerkte man den sanften Blick der braunen Augen unter den dunklen schräggestellten Brauen und das fast zärtliche Lächeln, das um seine Lippen lag.

       “Hallo, Blackhead-Charly,” sagte ich zu ihm.

       “Hi, Karin!” antwortete er und lächelte. “How are you?”

       “Ach, Charly! Wenn du wüßtest, was ich heute wieder erlebt habe.” Ich seufzte tief. “Ich wünschte, ich könnte dir die ganze Geschichte erzählen.”

       Er zwinkerte mir zu. “You can!" sagte er. "You know I’m your friend. That’s why I’m here to see you...”

       Irgendwo schlug eine Uhr dreimal, und der Zauber des Augenblicks fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Vor mir an der Wand klebte ein lebensgroßer Poster des Rockstars, den ich so sehr verehrte. Wenn ich ihn anschaute, fiel mir das Märchen von Hauff ein, das von einem Bären erzählte, durch dessen struppiges häßliches Fell manchmal, für einen kurzen Augenblick, die goldene Haut eines verwunschenen Prinzen zu sehen war. Charly war mein Prinz. Inzwischen wußte ich längst alles über ihn. Auch, daß er nicht aus England oder Amerika kam, wie ich zunächst angenommen hatte, sondern aus einer ganz unbedeutenden kleinen Stadt in Süddeutschland, die kaum jemand kannte.

       Inzwischen war seine LP 'Light and Shadow' herausgekommen, und sein Song 'Angel' war mein absoluter Favorit. Es schien, als ginge es darin um dieselbe unglückliche Liebe, von der er schon in 'Twilight' gesungen hatte.

       Ich schaltete den Plattenspieler ein und setzte die Kopfhörer auf, dann knipste ich das Licht wieder aus, schloß die Augen und hörte mir noch einmal die Geschichte von Angel an, dem guten Engel, der großartige Zukunftsvisionen hatte, und der versprach, daß das Leben eines Tages wunderschön sein würde.

       3. IM WOHNTURM

       Sommer/Herbst 1983

      

      Der Stand in der Kaiserstraße war schon fast fertig aufgebaut, als Kalle dort ankam. Ein junger Mann mit Vollbart trug Zeltplanen aus einem hellblauen VW-Bus und fing an, sie am Gestell des Verkaufstisches zu befestigen. Währenddessen nahm ein Mädchen mit langen blonden Haaren behutsam verschiedene Schmuckstücke aus einem kleinen schwarzen Koffer und legte sie auf einem dunkelroten Samtpolster aus.

      Kalle sah ihnen eine Weile zu, trat dann ein paar Schritte vor und meldete sich mit einem freundlichen "Guten Morgen."

      Der junge Mann, der inzwischen vor einem der Tischbeine hockte und zwei Teile der Plane mit einem Lederriemchen zusammenschnallte, blickte erstaunt auf. Auch das Mädchen schaute sich um, und Kalle stellte verblüfft fest, daß sie diejenige war, die ihm schon bei seiner