Die Bewohner der kleinen Huben-Siedlung bekamen im Jahr 1930 elektrisches Licht. Inzwischen hatten Wilhelm und Marie noch einige Kinder mehr bekommen und die Familienplanung galt als abgeschlossen. Die drei dunkelhaarigen Mädchen hießen Elisabeth, Frieda und Hildegard. Sie hatten große Ähnlichkeit miteinander, waren dunkelhaarig, braunäugig und temperamentvoll. Nach dem Ältesten Paul kamen noch die beiden schwarzhaarigen Söhne Adolf und Alfred, danach der rothaarige, sommersprossige Emil, dann Otto, dem nur ein kurzes Leben beschieden war und Willi, das Nesthäkchen mit den Segelohren.
Während der Große schon volljährig war und seinen Beruf gelernt hatte, kam der Jüngste gerade in die Schule. Alle in der Familie waren bisher mit der kleinen Petroleumlampe ausgekommen. Im Sommer war es draußen lange hell und die Kinder hielten sich vorwiegend an der frischen Luft auf. Im Winter gingen sie früh zu Bett und konnten sich ein hell erleuchtetes Zimmer am Abend nicht vorstellen.
Eines Tages erschienen in der Gegend einige Männer mit einem Lastwagen, darauf mächtige Masten, die vor den staunenden Augen der Siedlungskinder am Straßenrand aufgestellt wurden. Sie spannten Kabel von einem Mast zum anderen, die in einem kleinen Häuschen endeten. Es hieß, dass sie den Strom und helles Licht ins Haus bringen würden. Die Kinder hatten sich an die Petroleumlampe gewöhnt und konnten sich nicht ausmalen, wie aus solch großen Masten das Licht in ihre Stube gelangen sollte. Deshalb fragten sie argwöhnisch, als der Vater es erklärte: „Wie soll denn das Licht von dem kleinen Haus in die Wohnhäuser kommen?“ Sie glaubten ihm nicht und lachten. Schließlich führten die Monteure lange Leitungen zu den Häusern und befestigten sie an den Wänden. Es gab auch Leute, die sich den Anschluss nicht legen ließen, weil er zu teuer war und sie ihre Petroleumlampe behalten wollten. Die Bauarbeiter zogen nun Leitungen durch Löcher in die Wände, es wurde gebohrt und geklopft. Die Kabel führten an der Decke der einzelnen Zimmer entlang und endeten in der Mitte. Die Kinder suchten, guckten und fanden das Licht nicht in den Kabeln oder an der Decke. Sie hatten es ja gewusst, es kam kein Licht aus den Drähten. Aber die Eltern gaben dafür ihr schwer verdientes Geld aus, da mussten sie den Kabelleuten also doch glauben. Der Vater brachte nun so eigenartige Dinger mit und nannte sie „Lampe“. Dabei hatten sie mit der Petroleumlampe kaum eine Ähnlichkeit. Vor allem fehlte der Docht, den man hätte anzünden können. In jedes Zimmer hängte er solch eine Lampe an das Drahtende der Kabel. Die kleine Hildegard sagte enttäuscht: „Ich hab es ja gewusst, das geht nicht“. Der Vater tröstete sie: „Warte ab, Hilde, es fehlt doch noch die Glühbirne“. Da musste sie aber lachen. Birnen und Äpfel hatte sie auf dem Gutsgelände genügend kennengelernt. „Hier, das ist sie, eine Glühbirne“, hob er eine Kugel in die Höhe. Dann schraubte er sie alle in die Lampen, aber ohne Erfolg. „Hilde, dreh nun mal da an der Tür den Schalter.“ Sie sah ihn skeptisch an, denn aus dieser Entfernung konnte das nichts werden. Sie drehte den Schalter und war verzaubert, denn nun erstrahlte das Zimmer in hellem Licht und die Birne glühte. Alles war hell, nicht nur ganz dicht im Umkreis wie bei der Petroleumlampe. Nun konnte man in jeder Ecke lesen oder stopfen. Die Freude der Familie war groß. Das elektrische Licht war eine große Errungenschaft für sie und später auch für die zögernden Leute.
3.Die wundersame Tante Dorothea
Meine Mutter Alma erzählte uns aus ihrer Jugendzeit um 1920 Geschichten voller Gottesfurcht und in tiefem Glauben.
An ihre klare Stimme erinnere ich mich deutlich:
„Wenn auch der liebe Gott so manche Person in einer berühmten Stadt geboren werden lässt, wurde mir dieses Glück nicht zuteil. Besonders glänzende Städte waren Warschau oder Posen, doch ich wurde in Chiby geboren.“
Meine Großmutter Marta sollte in dieses kleine Dorf geraten, das hinter den Gärten ein unwegsames Sumpfgelände hatte. Es war in der Nähe von ihrem späteren Ehemann Johann, meinem kaisertreuen Großvater mit dem schönen, gezwirbelten Schnurrbart. Großmutter lernte als Kind lesen und schreiben, was für ein Mädchen vor 1900 nicht selbstverständlich war. Sie weinte leicht und gern, oft wischte sie sich mit dem Taschentuch über die Augen. Ihre Kinderzeit verbrachte sie mit ihren zwei Geschwistern in dem kleinen Haus, das ihrem Vater mit einer Stube nach der kleinen Gasse als Werkstatt diente. Er war Schuster, hatte sein Handwerkszeug für einen namhaften Preis erstanden und achtete sehr auf jedes Stück.
Martas Mutter Mathilde, meine Urgroßmutter, saß auf ihrem gewohnten Platz neben dem niedrigen Schustertisch, und am Abend konnte sie beim Licht der Petroleumlampe stricken, nähen oder das große Gesangbuch durchbuchstabieren.
Die Kinder schliefen in einer Schlafkammer, deren Fenster nach dem Hofe hinaussahen. Manche Nacht lag Martas Mutter wohl im Bett neben dem Vater und machte kein Auge zu. Sie machte sich große Sorgen, wie sie die Familie ernähren sollte.
Zur gleichen Zeit lag auch Marta in ihrem Bett wach und dachte an die großen Butterbrötchen und Semmeln der Nachbarskinder.
Urgroßvater Gustav tat, was er konnte, aber das Handwerk hatte für ihn nicht den Segen, den ein Kinderfreund erwarten möchte.
Seine Kunden vertrauten ihm lieber ein Paar kranke Stiefel zum Kurieren an, als dass sie ein neues Paar bei ihm bestellten. Er hielt selbst den Kopf mit Mühe über Wasser.
Eine entfernte Anverwandte namens Dorothea war praktischer, und auf ihren Rat hin wurde seine Frau Mathilde eine Wäscherin. Sie stand des Morgens zwischen zwei und drei auf und kam am Abend um halb acht todmüde und wie zerschlagen nach Hause. Sie stillte den Hunger der Kinder auf Nahrung und versuchte, ihre Träume in die Wirklichkeit umzusetzen.
Marta behielt Zeit ihres Lebens dunkle, unbestimmte, wunderliche Erinnerungen und hat davon ihrer Tochter Alma erzählt, die es wiederum ihrer halbwüchsigen Tochter Lieselotte einige Jahrzehnte später an einem kalten Winterabend in ihrer neuen Heimat so erzählte:
Von frühester Jugend an hatte Marta einen leichten Schlaf, und so erwachte sie öfter von dem Lichtschein eines Schwefelhölzchens, mit welchem ihre Mutter in dunkler, kalter Winternacht ihre Lampe anzündete, um sich zu ihrem frühen Wege zu rüsten. Die Geschwister lagen warm in ihren Betten und rührten sich nicht. Marta beobachtete aus halbgeschlossenen Lidern ihre Mutter, die brennende Lampe und die Schatten an der Wand. Merkwürdigerweise stammten diese frühen Erinnerungen fast alle aus der Zeit des Winters. Um die Flamme war ein Dunstkreis, der Atem fuhr in einer Wolke gegen das Licht. Die gefrorenen Fensterscheiben flimmerten. Es war bitterkalt und in das Behagen des warmen Bettes mischte sich für die Beobachterin das Grauen der bitteren Kälte, vor welchem sie ihre Nase unter die Decke ziehen musste. Begreifen konnte sie nicht, warum die Mutter so früh aufstand. Es war so dunkel und kalt und die schwarzen Schatten gingen vorüber, nickten, beugten sich und richteten sich auf. Noch unbestimmtere Vorstellungen hatte sie von den Orten, wohin die Mutter ging.
Je nach ihrer Stimmung stellte sie sich diese Orte mehr oder weniger angenehm vor.
Sie vermischte Einzelheiten aus den Märchen Frau Holle, Hänsel und Gretel und Rotkäppchen mit allerlei Bruchstücken aus den Gesprächen der erwachsenen Leute, denen sie gelauscht hatte.
In diesen Augenblicken zwischen Schlaf und Wachen färbten und mischten sie sich bunt. Endlich war die Mutter mit dem Ankleiden fertig und beugte sich über die Kinder, um sich still zu verabschieden. Fand sie die kleine Marta wach vor, gab es einen Kuss, allerlei gute Ermahnungen und lockende Versprechungen, damit sie nicht losheule und schnell wieder einschlafe.
Die Versicherung, dass der helle Morgen und damit die Tante Dorothea bald kommen würden, beruhigte sie für das erste. Die Lampe wurde ausgeblasen, die Kammer versank in Dunkelheit.
Marta hörte nur das leise Atmen der beiden Geschwister.
Dann knarrte die Tür und die Schritte der Mutter entfernten sich. Schnell war der Schlaf wieder da und wenn sie abermals erwachte, saß die Tante Dorothea schon vor den Betten der Kinder und in der Stube nebenan prasselte das Feuer im Ofen. Des Vaters weitläufige Verwandte war nicht älter als die Mutter, aber sie hieß seit ihrer Kindheit Frau Unterberg. Niemand in der Umgebung kannte sie unter anderem Namen und sie war bekannt wie der