Anfangs hatte meine Flüchtlingsfamilie schon an dieser Barriere mit offenen Augen und Ohren zu rütteln. Später, als sie die Hiesigen-Sprache besser verstanden, wurden sie wegen ihrer Wortwahl belächelt. Opa fragte mich:
„Mächen, kunst nich a bissel langsamer, mir ist des Rheuma in die Beene gekumm.“
Mutter meinte:
„Nu lasse man flitzen, die kleene Kräte, wir wern schun allene die Zwickelkerne setzen.“
Großvater trug ein Bruchband, ein Ungetüm mit einer Stahlfeder darin und einem Polster am Ende, welches seinen Leistenbruch zurückhalten sollte. Er hatte sich dieses Leiden schon in jungen Jahren zugezogen, als er gleich zu Beginn des ersten Weltkrieges zur Infanterie eingezogen wurde.
Er war bekleidet mit einer feldgrauen Uniform, die Hose zierten rote Biesen an den Seitennähten, dazu einer einreihig geknöpften Jacke, auf seinem Kopf eine Art Pickelhaube sowie an den Füßen die Knobelbecher, feste Stiefel, deren Absätze beschlagen waren und auf dem Pflaster beim Marschieren widerhallten. Weil die Infanterie als Basis der Streitkräfte, ausgerüstet mit Handwaffen und Maschinengewehren, in vorderster Front kämpfte, wurde Großvater Wilhelm nach wenigen Kriegswochen durch einen Streifschuss verwundet. Er kam nach Hause und musste auch nach seiner Genesung nicht wieder zum Militär einrücken.
Eines Tages bat ich die Mutter, mir ihren Trauring zu zeigen, und sie zerrte ihn mühsam vom Finger, wo er eine tiefe Rille hinterließ. Ich betrachtete den Ring eingehend, entzifferte auf der Innenseite den Stempel mit dem Goldgehalt und den Buchstaben „A und P 1940“. Dasselbe stand auf dem Ring, den Mutter in dem roten Samtkästchen im Vertiko aufbewahrte und der dem Vater schon lange nicht mehr passte. Hatte ich da ein Geheimnis entdeckt? „Ja sakra! Du verflixte Kräte! Du hast es rausgekriegt. Keiner nich hats bemerkt. Die Jungs möchten amende gar nicht so weit rechnen kenn wie du kleenes Balg.“ Sie fiel wieder in ihre deutsch-polnisch-gemischte Sprache und schimpfte, weil ich das Mysterium ihrer Liebe entschlüsselt hatte. Mein ältester Bruder war schon Anfang 1941 geboren, also dauerte die Zeit von der Eheschließung im Spätherbst bis zur Geburt nur wenige Wochen. Liebe gab es also auch früher, heimlich, mit Verstoß gegen die guten Sitten und ohne Trauschein.
Von meinem Vater hieß es in der Verwandtschaft, er wäre eigentlich in der Blüte seiner Jugend mit meiner Tante Else verlobt gewesen, während sein Bruder Adolf mit Mutter liebäugelte und Bruder Alfred lieber die Else wollte. So gab es mit dem Hin und Her der Gefühle auch Streit, der die Schwestern nie wieder vereinte. Vater heiratete Mutter, sein Bruder bekam die Else.
Adolf suchte etwas länger eine Frau, die er in der dicken Marianne mit dem schönen Gesicht fand, zog in die Stadt, trug nun stets einen Hut und hofierte seine Frau wie eine Diva. Noch im Alter gab es bei Treffen und Besuchen Eifersüchteleien und Streitgespräche wegen dieser alten Geschichte. Auch Mutter hatte im Alter von 25 Jahren ihre Erfahrungen mit Stanislaw gemacht, bevor sie die eifersüchtigen Brüder kennenlernte. Und das Besondere in der Beziehung, sie war schon schwanger, als die Ehe geschlossen wurde, eine Kriegsehe.
Vor dem Krieg gingen meine Eltern miteinander, das bedeutete, sie waren nur befreundet. Alma wohnte im kleinen Dorf, er kam sie aus Brody besuchen, mit Pferd und Wagen, einem Einspänner. Paul arbeitete zu der Zeit schon einige Jahre in seinem Beruf als Schmied, die Mutter bewirtschaftete nun nach ihrer Hauswirtschaftslehre den elterlichen Hof, zu welchem Acker, Wiesen und Stallungen mit Tieren gehörten. Das Paar war gerade 30 Jahre, im selben Jahr geboren und im besten Heiratsalter.
Schnell bekamen sie nach ihrer Hochzeit, die sie auf dem mütterlichen Hof im Kreis ihrer großen Familie ausstatteten, wenige Kilometer entfernt, einen Hof mit Stallungen und einer Schmiedewerkstatt. Ein gutes Jahr nach dem ersten Sohn meldete sich schon der zweite an. Die kleine Familie hatte einige glückliche Stunden, die sie zuweilen auch mit den Großeltern teilte. Das Kriegsgeschehen war noch weit weg, der Vater bei der Familie.
Anfangs arbeitete er im Dorf beim Beschlagen der Pferde. Aber schon im Sommer 1942 wurde er eingezogen. Seine beiden kleinen Kinder, das jüngere kaum geboren, hat er Jahre nicht gesehen.
Mutter erzählte uns manchmal aus der Zeit ihrer Flucht aus Polen, wie sie ihr Hab und Gut verloren hatte und ihr nur die beiden kleinen Jungen und zwei Koffer mit Kleidungsstücken geblieben waren. Im Zweiten Weltkrieg waren viele Millionen Menschen auf der Flucht vor dem Krieg oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben wie meine Eltern. Sie konnten meist nur ihr nacktes Leben retten, mussten ihre Heimat aufgeben und alles zurücklassen, was sie besaßen. Oft wurden Familien auseinandergerissen. Transportmittel gab es kaum. Viele flüchteten deshalb zu Fuß oder auf Pferdewagen und mussten manchmal auf ihrer Flucht brutale Gewalt erleben.
Nach dem Kriegsende 1945 fanden massive Aussiedlungen und Vertreibungen aus Gebieten statt, in denen bisher Deutsche gelebt hatten, die jetzt aber zu Polen, der Tschechoslowakei oder anderen osteuropäischen Ländern gehörten.
Das Dorf im Jahr 1945
Am Mühlenberg klappert es keine Zeit.
Die Bauern brauchen das Mehl für Brot.
Das Kriegsende scheint nach Stalingrad nicht mehr weit.
Die Menschen im Ort leiden lange schon Not.
Der Schmied wird gebraucht für das Schleifen der Messer.
Er beschlägt noch die Pferde der Kavallerie.
Der Pflug in der Erde pflügt viel besser
mit scharfen Scharen - geschliffen wie nie.
Auf dem Feld gleich am Rand zum Dorf
fanden die Bauern drei tote Soldaten.
Begraben wurden sie auf dem hiesigen Friedhof.
Sie waren dem Feind in die Hände geraten.
Bemessen der Häuser endliche Zahl,
es kamen Flüchtlinge unangemessen.
Sie wurden für Einheimische eine Qual,
denn sie hatten selber kaum zu essen.
Doch wer sieht das Elend der Heimatlosen?
Vertrieben von Haus und Hof und Herd.
Sie liefen in ihren einzigen Hosen -
und in der Fremde verfiel ihr Wert.
Der Wind bläst und Mühlenflügel rotieren.
Die Bauern sammeln den Rest der Kraft.
Es sollen nicht noch mehr Menschen das Leben verlieren.
Der Krieg geht zu Ende - das Volk hat die Macht.
Lieselotte Maria Schattenberg 2017
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