In dem kleinen Wachhäuschen saß ein untersetzter Mann mittleren Alters und maß ihn mit strengem Blick. „Was wünschen Sie?“, fragte er mit knarrender Stimme. „Ja, guten Tach auch, wissen Sie, meine Frau da draußen auf dem Fuhrwerk und ich sind die neuen Arbeiter. Wir kommen aus Neustadt.
Seit Ostern sind wir angemeldet. Wir wollen bleiben, also für immer, wenn es sich einrichten ließe bei der Herrschaft. Könnten Sie nich so freundlich sein, Herr Amtmann und uns sagen, wo wir nu hin sollen? Wir sind gerade angekommen, die Landstraße immer runter müssen Sie wissen“, teilte ihm Wilhelm in einer langen Rede eifrig von seinen Strapazen mit und drehte vor Verlegenheit seine Mütze in den Händen. Der Vogt des Gutes las in seinen Papieren, fand die richtigen Unterlagen und kam mit seinem gesattelten Pferd bis zur Ausfahrt, wo er Marie höflich zunickte. Dann wies er mit ausgestrecktem Arm nach links um eine kleine Kurve:
„Da herum geht es, noch einen Kilometer. Das dritte Haus. Die Huben Numero 3“, beschrieb er knapp. „Folgen Sie mir bitte hier entlang.“ Er ritt voran, während der Leiterwagen mit dem Hab und Gut der beiden Jungvermählten hinterher zuckelte.
So zogen Wilhelm und Marie in die Huben Numero 3 ein.
Die Huben oder Hufen bedeuteten ein Stück eigene Fläche, das ausreichend Acker- und Weide beinhaltete, um eine Familie ernähren zu können. Natürlich konnten sie es nur in ihrer Freizeit bearbeiten. Ihr zugewiesenes Land lag gleich hinter dem Haus.
Sie nahmen außerdem in dem massiven Haus eine große Stube, zwei kleinere Kammern und einen darüber liegenden Bodenraum in Besitz.
Auf dem Hof stand ein Stall zur Aufnahme von Schweinen, Federvieh, Holz und sonstigen Vorräten. Ihre beiden Pferde nahm man als Arbeitspferde im Gutsstall auf. Sie selbst waren Gutsarbeiter geworden.
Wilhelm wurde unentbehrlich als Pferdeknecht und Kutscher, während Marie sich im Sommer an den Hack- und Erntearbeiten betätigte. Im Winter lernte sie, mit der Schrotmühle das Getreide zu mahlen und die Masttiere und Milchkühe mit Wasser, Rüben, Heu und Schlempe zu versorgen, dem alkoholfreien Rückstand bei der Branntweinherstellung, der ein sehr gutes Futtermittel war. So ging das erste Jahr zur Neige, als sich Marie im warmen Monat August plötzlich vor dem morgendlichen Kamillentee und Wilhelms abendlichem Bier ekelte und Heißhunger auf Heringe hatte, die sie sonst gar nicht mochte. In ihrer ersten Schwangerschaft brachte sie im Februar 1908 in ihrem Haus auf den Huben 3 in Schanzfeld, polnisch Niewiercz, einen gesunden Jungen zur Welt.
Sie tauften ihn in der evangelischen Kirche Duschnik auf den Namen Paul und er wurde mein Vater.
Als ältester Sohn von neun Kindern, sechs Jungen und drei Mädchen, wuchs er auf dem Hof seiner Eltern auf und hatte, wie alle Kinder, in die zwölf Kilometer entfernte Schule in seinen Holzpantoffeln zu gehen.
Über Stock und Stein. Im Sommer barfuß, im Winter mit Fußlappen. Vorhandene Schuhe wurden immer weitervererbt und regelmäßig neu besohlt oder benagelt. Manchmal trugen die Kinder Schuhe, die viel zu klein waren. Asphalt gab es noch nicht. Seine Mutter hatte mit den vielen Kindern ihre Not, alle der Jahreszeit entsprechend zu kleiden. Sie selbst trug ständig über ihrem Kleid eine Schürze. Es gab zu Hause noch viel ältere Schürzen, die sie nur für die Feldarbeit trug, weil sie löchrig und abgewetzt waren.
Die Frauen im Dorf waren geschickt in Handarbeiten. Sie konnten die Kleidung flicken, Strümpfe, Pullover und Pullunder stricken, Decken, Schals und Handschuhe anfertigen. Es wurde nichts weggeworfen, alles noch einmal umgeändert oder etwas Neues aus dem ausrangierten Stoff genäht. Da es damals viele kinderreiche Familien gab, wurde die Kleidung immer wieder an die Nächstkleineren weitergegeben. Eine Hose konnte auch schon mal ein paar Jahre mitwachsen, wurde immer kürzer und mit Hosenträgern gehalten. Für Sonntage, Feste oder Beerdigungen gab es nach Möglichkeit eine extra Garnitur Kleidung für jeden. Es war durchaus nicht selbstverständlich, die Unterwäsche täglich zu wechseln, weil das Waschen der Kleidung eine aufwändige Angelegenheit war, die manchmal nur einmal im Monat stattfinden konnte und im Winter noch seltener.
Für die Kinder der armen Bevölkerung bestand der Alltag aus Arbeit. Sie mussten in Haushalt und Hof helfen und Geld verdienen, um die Familie über Wasser zu halten.
In der wenigen Freizeit vergnügten sie sich mit den einfachsten Dingen, bastelten sich aus Kastanien, Eicheln und Tannenzapfen kleine Männchen oder erschufen sich aus Sand, Steinen, Ästen und Erde eine Traumwelt.
Die Spielzeuge der gehobenen Schichten, beispielsweise fein ausstaffierte Puppen, Steckenpferde, Windmühlen, große Holzreifen, Glasmurmeln, silberne Babyrasseln oder Ritterfiguren, waren für sie unerreichbar.
Als Zerstreuung hatten die Kinder der Familie einfache Spielkarten, mit denen sie „Schummel-Lieschen“ oder „Doppelkopf“ spielten. Es gab auch ein selbst hergestelltes „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spiel, das sie zu gern mochten. Wenn es jemanden in der Nachbarschaft gab, der Akkordeon oder Mundharmonika spielen konnte, wurde auch gesungen und sogar getanzt.
Die Schulpflicht haben wir der Kaiserin Maria Theresia zu verdanken. Damals gab es aber noch kein Zeugnis und keine Beurteilung. Vorrangige Sorge der Verantwortlichen war nicht der Schulerfolg, sondern der regelmäßige Unterrichtsbesuch der Kinder. Die Eltern schickten ihre Kinder allgemein sehr ungern zur Schule, weil sie diese zu Hause brauchten.
Die Nachtruhe war sehr kurz. Morgens mussten alle sehr früh aufstehen, denn auf dem Land bestimmte der Sonnenaufgang den Zeitpunkt, um das Vieh zu melken und zu füttern. Abends wurde es dann sehr spät, bis man das Vieh im Stall hatte und es versorgt war. Mit Sonnenuntergang endete dann meist der Arbeitstag, denn elektrisches Licht gab es nicht überall.
In den Klassenzimmern waren meist weit über 50 Schüler versammelt, die nicht nach dem Alter, sondern nach dem Wissenstand in drei „Classen“ gegliedert wurden: erst-classige, zweit-classige, dritt-classige Schüler. Auf dem Dorf gingen meistens ältere und jüngere Schüler gemeinsam in eine Klasse.
Die Eltern Wilhelm und Marie konnten keine neuen Bücher kaufen. Ein Buch, meist geborgt aus der Schule, ging durch viele Geschwisterhände, bis es verschlissen war. Auch mit den Heften mussten die Kinder sparsam umgehen, wenn sie überhaupt welche besaßen. Die Aufgaben wurden zuerst mit einem weißen Griffel auf eine schwarze Schiefertafel geschrieben. Mit einem Fetzen Stoff konnte man es wieder weglöschen und die nächste Aufgabe darüberschreiben.
Die Kinder saßen auf engen harten Holzbänken, und wenn sie nicht folgsam waren, mussten sie sich in die Ecke stellen oder der Lehrer griff zu seinem Rohrstöckchen und es gab Schläge.
Im Winter lag oft hoher Schnee auf den Straßen, dann war das Kopfsteinpflaster glatt und rutschig. In der Kälte und oft noch in der Dunkelheit marschierten sie länger als zwei Stunden bis zur Schule. Die Geschwister liefen manchmal den kürzeren Weg auf den Feldwegen entlang, versanken mit ihren Holzpantoffeln im Schnee und riskierten nasse Füße, denen Fieber und Erkältungen folgten.
Die meisten Menschen auf dem Land kamen kaum je mit einem Arzt in Berührung, geschweige denn mit einem Krankenhaus. Krankheiten wurden zum größten Teil nicht mit Medikamenten, die es auch kaum gab, sondern mit überlieferten Hausmitteln behandelt.
Manchmal fuhr ein Pferdeschlitten, dann konnten die Kinder im Gänsemarsch in den Spuren der Kufen laufen. Paul war als Ältester oft längere Zeit wegen der Arbeit zu Hause nicht abkömmlich, sodass er oft wochenlang den Unterricht verpasste. Dadurch fiel ihm der Anschluss stets schwer und er hatte Mühe, aufzupassen und den Stift mit seinen kräftigen Händen zu halten. Seine acht Geschwister hatten es ein wenig leichter, denn meist fiel die Schule bei ihnen nur im Winter bei hohem Schnee aus oder wegen einer ihrer vielen Krankheiten. Jungen und Mädchen saßen getrennt. Sie fingen morgens an, wenn der Lehrer kam, mit einem Gruß: Guten Morgen, Herr Lehrer. Und dann sagte er: Guten Morgen Kinder. Es folgte das Schulgebet und dann wurde ein Choral gesungen, ein Kirchenlied. Schließlich durften sich die Kinder setzen. Dann begann die erste Stunde: Religion, die zweite meist Deutsch. Die anderen Fächer wie Rechnen, Raumlehre oder Geometrie, Musik, Turnen und
Malen folgten,