Vom Posener Magistrat bekam sie ein kärgliches Armengeld und der Vater Gustav hatte der sehr entfernten Verwandten das Stübchen, das sie in seinem Hause bewohnte, aus Mildtätigkeit eingeräumt.
Nun hatte sie eine seltene Gabe, die kaum jemand besaß. Für Dorothea waren Gestorbene nicht von der Erde genommen, sondern schritten durch die Gassen und begegneten ihr auf dem Markt, wie man ansonsten Lebendige sieht und unvermutet auf sie stößt. Für die entfernte Cousine waren damit keine Unheimlichkeiten verbunden, denn sie sprach davon wie von etwas Gewöhnlichem.
So begegnete ihr der Apotheker, welcher jetzt die Apotheke besaß und keine Notiz von seinem verstorbenen Großvater nahm, der ihn besuchte. Schließlich erregte diese Gabe die Bekannten nicht mehr und Ungläubige hörten auf, darüber zu lächeln. Die Gläubigen, deren Zahl größer war, schlugen nicht mehr die Hände über dem Kopf zusammen. Frau Dorothea selbst nahm ihre seltsame Sehergabe wie eine Gnade Gottes an und blieb bescheiden.
Marta sah sie als gebückt gehende Frau, deren Kopf weit vorgeneigt war. Die Kleider hingen an ihr, denn sie war sehr dünn. Ihre lange Nase machte einen unangenehmen Eindruck, aber ihre blauen Augen waren noch Jahre später nicht vergessen.
Das Mädchen hatte Respekt vor ihrer Gelehrtheit und verdankte ihr den Einstieg in die Wissenschaften.
Den Gebrüdern Grimm hätte Tante Dorothea noch Märchen erzählen können, und wenn die böse Königin der gehassten Stieftochter Schmerzen bereitete, fühlte Marta diese am eigenen Körper. Auch die beiden kleineren Geschwister hörten gespannt den Erzählungen zu, waren aber noch weitaus unkritischere Zuhörer mit ihren drei und vier Jahren. In den ersten Lebensjahren der drei Geschwister vertrat sie die Mutterstelle. Ohne ihren Rat und Beistand geschah nicht viel. Sie stillte manchen Hunger, doch der Vater Gustav brummte oft, es könne auf Dauer nichts Gutes dabei herauskommen, denn die Phantasien und Gespenstereinbildungen seien Teufelszeug und könnten dem Menschen nicht helfen. Darauf zuckte sie nur mit den Achseln und Marta kroch noch dichter an sie heran. Brummend, wie er gekommen war, zog der Vater wieder ab in die Werkstatt.
Marta lernte das Lesen bei der Tante, die ihre Sache gut machte und nur über lange ausländische Wörter stolperte. Mit Pathos las sie den drei Kindern vor und näselte dabei, um noch größeren Eindruck zu machen. Ihre Bibliothek bestand in der Hauptsache aus Bibel, Gesangbuch und einigen Volkskalendern, deren jeder ein Almanach mit einer schauerlichen Geschichte und guten Hausmitteln war sowie lustige Anekdoten enthielt.
Für die Kinderphantasie lag in den alten Heften eine andere Welt verborgen. Wenn der Regen an die Scheiben schlug oder die Sonne in die Stube schien, stiegen Geister daraus empor, lächelten oder drohten.
Wenn das Gewitter die Wolken über die Häuser jagte und seine Blitze über die Stadt schleuderte, wenn der Donner rollte und der Hagel auf das Straßenpflaster prasselte und hüpfte, führten die Gestalten und Szenen der Kalender die kleine Marta und ihre Geschwister in seelische Höhen oder Tiefen.
Da drang ein Aufschrei aus den kleinen Mündern oder die Augen strahlten vor Freude.
Den größten Eindruck machte aber die Bibel auf die Kinder. Von den ersten Kapiteln war Marta überwältigt, denn sie schienen ihr sehr glaubwürdig. Ein Zeitgefühl für die sieben Tage der Erschaffung der Welt hatte sie noch nicht entwickelt. Schaudernd hörte sie zu und las es später ihren Kindern aus der Bibel so vor:
„Und die Erde war wüst und leer - bis das Licht sich schied von der Finsternis und das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste.“
Gottesfürchtig und gläubig erläuterte sie die Zeichen, die Zeiten, Tage und Jahre. Sie erzählte ihrer zweitgeborenen Tochter Alma, unserer Mutter, von Sonne, Mond und Sternen, vom Werden und Vergehen:
„Und wenn das Wasser, die Luft und die Erde sich erregten mit webenden und lebendigen Tieren und
wenn die Erde Gras und Kraut und Bäume wachsen ließ, dann blies Gott dem Adam den Atem ein und er
schuf das Weib aus der Rippe des Mannes.“
Und die Mutter wiederum zitierte uns Kindern die
Sprüche aus der Bibel, die auch vier Jahrzehnte später nichts von ihrer Kraft eingebüßt hatten.
Sobald nun unsere kindliche Großmutter Marta nicht mehr die Hände in den Mund steckte, wurde sie von der Mutter Mathilde und der Tante Dorothea mit dem Prinzip Arbeit bekannt gemacht. Sie lernte früh mit Leim und Nadel, bunten Zeugstücken, Knöpfen und Garn umzugehen. Die kleine Beschäftigung, bei der sie der Mutter zur Hand ging, verschaffte der Familie einen Nebenverdienst. Er lag im Herstellen von Bauern und Bäuerinnen, Herren und Damen, Tieren, Schäfern und Schäferinnen und anderen lustigen Dingen verschiedener gesellschaftlicher Stände aus Stoff, Pappmache´ und Holz. Großmutter ging bald die Freude an diesem Spielzeug verloren, das je nach Größe, Preis und Fingerfertigkeit auch ihren Teil beigesteuert bekam.
Zu ihrer Freude kam sie in die Schule. Ihr Schulweg war eine gerade, endlose, aber enge Straße; zu beiden Seiten standen Häuser zwischen zahlreichen Bäumen. Sie sah Bauern, Kutschen und große Wagen, die auf dem Kopfsteinpflaster einen ohrenbetäubenden Lärm machten.
Als sie ein weiteres Stück gegangen war, sah sie rechts und links zwei andere Straßen, die geradeaus liefen, soweit das Auge reichte, am Ende durchschnitten vom Horizont. Sie betrachtete aufmerksam die Namen der Straßen und formte mit den Lippen die Buchstaben. Konnte sie schon lesen?
Hier endete Alma mit ihrer Geschichte von Tante Dorothea und der Kindheit ihrer Mutter Marta.
4.Mutters Kindheit
Es gab einen Zeitsprung über den ersten Weltkrieg hinweg, und sie erzählte uns von ihrer eigenen Kindheit auf dem Hof ihrer Eltern Marta und Johann.
Als sie fünf Jahre alt war, bekam sie schon kleine Arbeiten zugeteilt. Sie hatte feste Aufgaben für jeden Tag und musste das Geschirr abtrocknen, die Zimmer ausfegen, Staub wischen, Holz hereintragen und im Garten Unkraut zupfen. Manchmal drückte sie sich einfach vor der Hausarbeit. Mit sechs Jahren schulten die Eltern sie in einer einklassigen Landschule ein. Es waren dort alle Kinder in einem Raum zusammen, von den Sechsjährigen bis zu den Vierzehnjährigen. Die kleinen Bänke waren nicht passend für die Großen und so bewegten sie sich viel, weil sie vom Sitzen ganz steif wurden. Der Lehrer hat sich meist darüber aufgeregt und schlug sie mit dem Rohrstock, der aus Schilfrohr bestand, auf die Hände oder auf den Rücken. Diese Ungerechtigkeit zehrte an der kleinen Alma, denn sie war zwar als Kind die Klassenbeste und saß in der ersten Reihe, war aber auch zart und mitfühlend. Während die Eltern auf dem Feld waren, hatte sie täglich am Nachmittag die Küche zu putzen und den Herd zu scheuern. Wenn Einmachzeit war, gab es Erbsen und Bohnen zu pulen, Kirschen und Pflaumen zu entkernen oder Johannisbeeren zu pflücken.
Aber die Schularbeiten sollte sie möglichst vor dem Dunkelwerden fertig haben.
Sonntags gingen die Eltern mit ihr in die Kirche. Dort lernte sie Gottvertrauen, das ihr in so mancher schwierigen Situation half. Sie wurde auf die Konfirmation vorbereitet. Die Tante schenkte ihr schwarzen Stoff für das Konfirmationskleid. Eine Schneiderin aus dem Nachbardorf erhielt den Auftrag, es zu nähen. Gern hätte sie Samt gehabt, aber es blieb ein billiger Stoff. Der Pfarrer gestaltete das Konfirmationsfest feierlich und überreichte ihr einen Spruch aus der Bibel. Es war der Psalm 23,4:
„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.“
Nach der Schulentlassung hätte sie gern in der Bank eine Lehre begonnen. Das Schulgeld konnte von ihren Eltern, die noch vier weitere Kinder hatten, nicht aufgebracht werden und so blieb es ein Traum. Vater hatte kein Einsehen: „Du gehst in Stellung beim Pastor, da lernst du kochen, putzen und Handarbeiten, alles, was eine Frau und Mutter braucht.“
Also ging sie in dem größeren Nachbarort zu einer evangelischen Pfarrersfamilie in Stellung. Dort unternahm sie Botengänge, lernte kochen, waschen,