Er schloss den Schreibtisch auf und griff nach seinem Kalender. Als erstes sollte er morgen Jorge Souza anrufen und mit ihm besprechen, wie sie ihre Filtermaschine, Marke Clearfilter, bei der Messe Aqua Clean in Lissabon optimal präsentieren könnten. Jorge war Repräsentant von Li-Filter in Portugal und deshalb zuständig für die Betreuung ihres Messestandes. Johann wollte nur zwei Tage dazu stoßen.
Das speziell für Ausstellungen gebaute Exemplar eines Clearfilter mit transparentem Gehäuse (damit die Funktionsweise der Filtermaschine gezeigt werden konnte) und die Ausrüstung des Stands mit dem großen Firmenschild, den Schautafeln und dem Prospektständer hatte er schon vor zehn Tagen durch die Spedition Transitco nach Lissabon schicken lassen.
Ich muss mich erkundigen, ob alles in gutem Zustand angekommen ist, schrieb er auf seinen Notizblock ebenso wie die Fragen: Besitzt Jorge genügend Prospekte in Englisch und Portugiesisch, oder sollte Li-Filter noch welche nachdrucken? Und hat er die schriftlichen Erläuterungen zu den Schautafeln, in denen erfolgreiche Anwendungen unserer Filtermaschine in Industriebetrieben, in Hotels und bei Naturkatastrophen dargestellt sind? Auch über den Aufbau einer Repräsentanz in Brasilien sollte ich mit ihm reden und ihn bitten, direkt neben unserer Filtermaschine ein Schild mit der Aufschrift ‚Repräsentant für Brasilien gesucht‘ aufzustellen.
Von seinem Büro ging Johann in den Montageraum, wo sieben halbfertige Filtermaschinen auf die noch fehlenden Teile warteten. Mindesten vier mussten sie in der nächsten Woche ausliefern. Stolz lief er von einer Maschine zur anderen und kehrte im Geist zurück in die Zeit, als sie begannen diese Maschine zu entwickeln:
„Wir brauchen einen Filter, mit dem wir unsere Emulsionen reinigen können“, hatte Karl Linder in einer Besprechung mit seinen leitenden Mitarbeitern gesagt und sich an Johann gewandt: „Recherchieren Sie bitte, welche Maschinen für diesen Zweck auf dem Markt sind.“
Zu jener Zeit wusste Johann nicht viel über Emulsionen. Natürlich hatte er mitbekommen, dass die Techniker in der Fertigungshalle Metallteile für die Linder Pumpen mit Hilfe von Emulsionen bearbeiteten: Löcher mussten gebohrt, Profile gefräst, Oberflächen und Kanten geschliffen werden, und alles auf ein Zehntel eines Millimeters genau, mit Werkzeugen, die in Werkzeugmaschinen eingespannt von leistungsstarken Motoren zu Höchstleistungen angetrieben wurden. Damit die Werkzeuge nicht heiß liefen und kaputt gingen, wurden sie mit einer Öl-Wasser-Emulsion gekühlt und geschmiert. Öl-Wasser-Emulsion klingt einfach, ist aber in Wahrheit ein Hightech-Produkt mit zahlreichen Komponenten, die exakt aufeinander abgestimmt sind: Spezielle Öle, destilliertes Wasser, Emulgatoren, Stabilisatoren, Mittel gegen Korrosion, gegen Bakterien, gegen Pilze, gegen fast alles.
Die Art und Weise wie eine Emulsion bei der maschinellen Bearbeitung von Metallteilen wirkte, hatte er sich an einem Bohrautomaten genau angeschaut: Aus einem Tank am Boden der Werkzeugmaschine saugte eine Pumpe die Emulsion kontinuierlich an und drückte sie durch ein flexibles Rohr nach oben, wo sie in einem starken Strahl auf das Werkzeug gerichtet wurde, auf einen Bohrer, der in rasender Geschwindigkeit an exakt vorgegebenen Stellen Löcher in Metallteile bohrte. Die Emulsion kühlte und schmierte das Werkzeug, nahm die beim Bohren entstandenen Metallspäne auf und floss durch einen Trichter zurück in den Tank. Die groben Späne sanken zu Bden, während die feinen Späne und Schmutz in der Emulsion verblieben und mit ihr wieder nach oben zum Werkzeug gelangten.
Es war leicht zu verstehen, dass die Emulsion von Tag zu Tag mehr verschmutzte und früher oder später unbrauchbar wurde und durch eine frische Emulsion ersetzt werden musste. Reinigte man jedoch die Emulsion täglich, indem man mit einem Filter Metallspäne und Schmutz abtrennte, konnte man sie über einen längeren Zeitraum verwenden. Das sparte Kosten und vermied Abfall.
Johanns Marktrecherche hatte zu keinem guten Ergebnis geführt. Die angebotenen Filtermaschinen waren entweder sehr teuer oder weniger teuer aber nicht leistungsfähig.
„Dann entwickeln wir selbst eine geeignete Maschine“, hatte Karl Linder gesagt, „wenn da eine Marktlücke ist, stoßen wir hinein.“
So sehe er das auch, hatte Johann zugestimmt und hinzugefügt, dass er bei seinen Recherchen auf ein neuartiges Edelstahlgewebe gestoßen sei, das ihm wie geschaffen scheine, um Emulsionen und Öle zu filtrieren.
Freundlich lächelnd hatte der Chef ihm zugenickt und ihn gefragt, ob er eine Beschreibung, einen Prospekt über dieses Filtergewebe habe. Ja doch. Johann hatte in seinen Unterlagen geblättert, zwei Seiten herausgezogen und sie Herrn Linder zugeschoben.
Am nächsten Morgen hatte Karl Linder ihn zu sich gerufen und sich bei ihm bedankt. Sie bräuchten ein Muster dieses Filtergewebes. Er solle mit dem Hersteller Kontakt aufnehmen. Wenn diese Firma einen Vertreter in ihrer Region habe, solle er diesen zu einem Besuch einladen.
Zwei Tage später war der Vertreter, Herr Weischedel, mit einem Muster zu ihnen gekommen. Er bestätigte ihnen, was sie vermutet und erhofft hatten: Dieses Edelstahlgewebe würde sich sehr gut zur Filtration von Emulsionen und Ölen eignen, und sollte Schmutz das Gewebe verstopfen, ließe es sich leicht frei spülen.
Als Herr Weischedel gegangen war, hatte Karl Linder lächelnd zu Johann geblickt und eine Entscheidung getroffen: „Also packen wir’s an.“ Er hatte Johann den Ingenieur Werner Knobloch zur Seite gestellt und beide beauftragt, innerhalb von zwei Wochen einen Plan auszuarbeiten mit einer Skizze und einer Analyse der Kosten.
Mit Werner Knobloch hatte Johann sich sofort gut verstanden, und fachlich ergänzten sie sich ideal. Sie planten zusammen, Werner skizzierte die Filtermaschine, und Johann kalkulierte die Kosten.
Der Chef hatte ihren Plan geprüft, sie gelobt und ein Budget zur Verfügung gestellt. Und dann hatte er ihnen ein Zuckerl hingeworfen: Wenn sie eine marktfähige Maschine zustande brächten, wolle er für dieses Produkt, das zu seinen anderen Produkten, den Pumpen, nicht passe, eine Tochterfirma gründen, und sie beide daran beteiligen. Der Mann wusste, wie man Mitarbeiter motivierte.
„Ich mag das Funkeln in deinen Augen“, hatte Sophie gesagt, als er ihr mit Feuer von der neu zu entwickelnden Maschine und der Aussicht, vom Angestellten zum Unternehmer aufzusteigen, berichtete.
Sie hätten ein paar harte Monate durchzustehen, hatte er gewarnt. Er wolle nach wie vor zwischen fünf und sechs Uhr nach Hause kommen, mit Marion und Conny spielen, zusammen kochen und essen, die Kinder ins Bett bringen und ihnen eine Geschichte vorlesen, danach aber für zwei bis drei Stunden zurück in die Firma gehen. Sophie hatte bitter geschluckt. Nach ihrem Arbeitstag in der Apotheke abends ohne ihn in der Wohnung zu sitzen, war nicht das, was sie sich wünschte.
In jenem Jahr hatten sie mit Ella, einer Schwedin aus Lund, ein ausgesprochen liebes Kindermädchen. Marion und Conny waren verrückt nach ihr. Ella hier und Ella da, Ella war das häufigste Wort, das durch die Wohnung schallte. Ella brachte Marion morgens in die Schule und Conny in den Kindergarten. Danach besuchte sie einen Deutschkurs. Am Nachmittag sammelte sie Conny und Marion ein und führte sie mit einem kleinen Umweg über einen Spielplatz zurück nach Hause.
Abends hatte Ella frei. Meistens schaute sie unten in der Wohnung eine Fernsehsendung an, um ihr Deutsch zu verbessern, oder sie las oben in ihrem Zimmer ein Buch oder schrieb einen Brief. Unter der Woche ging sie selten aus, nur samstags in die Disco. Sophie fragte Ella, ob sie ihr an dem einen oder anderen Abend, wenn sie sowieso zu Hause sei, Marion und Conny überlassen könne. Zuerst guckte Ella komisch, aber als Sophie ihr erklärte, dass sie abends gern ab und zu bei ihrem Mann in der Werkstatt wäre, stimmte Ella ohne Umschweife zu. Männer müsse man immer im Auge behalten, flüsterte Sophie ihr vertraulich zu und zwinkerte dabei mit einem Auge. Darauf lachten beide.
Johann freute sich, als Sophie ihm eines Abends sagte, heute komme sie mit. Sie wolle bei ihm sein. Ella würde auf die Kinder aufpassen. Sie würde ihr Buch mitnehmen. Stefan Zweigs Biografie über Balzac las sie damals, wenn er sich recht