Ein zerrissenes Leben. Benno Wunder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno Wunder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742787736
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Linsen kochen zu können.

      Sie waren noch drei Tage in Mysore geblieben, wo sie in einer auf Rucksacktouristen spezialisierten Pension logierten. Tagsüber besuchten sie Sehenswürdigkeiten - den Jaganmohan-Palast und den Sri-Chamundeshwari-Tempel mit der Statue des Stiers Nandi, dem Reittier Shivas, fünf Meter hoch aus einem Monolith gemeißelt. Gigantisch lag er da, mit frischen Blumen geschmückt und von unzähligen Affen umgeben, frechen Makaken, die ständig versuchten, von den Touristen etwas Essbares zu stibitzen.

      Die Abende verbrachten sie mit Horst. Er lud sie zu sich ein, in ein zum Hospital gehörendes mehrstöckiges Gebäude, in dem er ein bescheidenes Zwei-Zimmer-Apartment bewohnte. Sie saßen in der Küche und schauten ihm zu, wie er eine Art Pulao für sie zubereitete: Reis und Erbsen kochte, beide in einem Sieb abtropfen ließ, sie dann in eine Pfanne mit Olivenöl gab und zusammen mit Eiern und Gewürzen briet. Durch die Küche flogen fremde Gerüche, die Nase und Gaumen auf das Essen vorbereiteten.

      Was das für Gewürze seien, die so gut röchen, fragte sie ihn. Geheimnis-voll lächelnd antwortete er, es sei eine lokale Gewürzmischung, so weit er wisse, seien Pfeffer, Zimt, Nelken, Thymian, Zwiebeln, Ingwer und Koriander darin enthalten.

      Das Essen roch nicht nur verlockend, es schmeckte auch lecker. Er sei ein sehr guter Koch, lobte sie ihn, und Petra fügte überschwänglich hinzu, dafür hätte er einen Stern verdient.

      Nach dem Essen gingen sie in ein kleines Theater, in dem eine Künstlergruppe aus Kerala zu der Musik von Sitar und Tabla klassischen indischen Tanz vorführte. Zwei Musiker, die wie Vater und Sohn aussahen, setzten sich in bunt bestickten Gewändern auf die Bühne und bearbeiteten mit leidenschaftlicher Hingabe ihre Instrumente, der Ältere zupfte die Sitar und der Jüngere schlug die Tabla. Sie bereiteten den Rahmen für die Kunst der drei Tänzerinnen, die einzeln oder zu zweit auftraten und sich im Lauf des Abends abwechselten. Den Anfang machte eine stark geschminkte, nicht mehr ganz junge Tänzerin. Barfuß, in einem farbenfrohen Sari, den sie wie eine Hose um ihre Beine gewickelt hatte, betrat sie von der Seite die Bühne und tanzte im Rhythmus der Musik mit allem, was sie hatte: Den Beinen, den Füßen, den Armen, den Händen, den Fingern, dem Kopf, den Augen. Susanne war begeistert. Unruhig ruckelte sie auf ihrem Stuhl herum, stupste Petra an und flüsterte ihr zu „das ist faszinierend“. Petra nickte und lächelte; sie kannte Susannes Liebe zum Tanz. Und diese Liebe wollte heraus. Es dauerte nicht lange, bis sie sich von den Tänzerinnen mitreißen ließ und versuchte, deren Bewegungen nachzumachen. Horst schmunzelte, er freute sich über ihr fanatisches Interesse an dieser Kunst.

      Am Ende der Vorstellung lockte die Leiterin der Tanzgruppe Susanne mit einem Lächeln zu sich und gestand ihr, dass sie beobachtet habe, wie sie den Tänzerinnen mit Augen und Händen gefolgt sei, ob ihr die indische Tanzkunst gefalle.

      Ja, sehr, erwiderte sie, das sei neu für sie, gerne würde sie mehr darüber erfahren, ob sie ihr ein Buch, eine Anleitung empfehlen könne.

      Gewiss, sagte die Inderin und nannte ihr das Standardwerk Indian Dancing Art. Das Gespräch endete abrupt, weil andere Besucher sich um die Leiterin drängten. Da war nichts zu machen, nicht einmal danke sagen konnte sie.

      Noch in Mysore stöberte sie nach dem Buch Indian Dancing Art, fand es auch, gab es aber nach kurzem Durchblättern zurück. Das sei viel zu kompliziert für sie, erklärte sie dem Buchhändler, sie suche etwas für Anfänger. Darauf brachte er ihr ein Büchlein mit dem Titel Introduction to Indian Dance. Das war mehr nach ihrem Geschmack. Die Neugier brannte in ihr. Zurück in ihrem Zimmer setzte sie sich sofort auf ihr Bett und vertiefte sich in die Ausdrucksmittel des indischen Tanzes, solange, bis sie von Petra hörte, sie gehe ihr mit dem Indian Dancing langsam auf die Nerven.

      Dann kam der letzte Abend. Petra blieb in der Pension, hatte Kopfschmerzen - vorgetäuscht, wie sie am nächsten Morgen zugab. Vorgetäuscht, um Susanne in ihrer aufkeimenden Liebe zu Horst nicht im Wege zu stehen oder um allein zu sein mit Filippe, einem Traveller aus Florenz, den sie am Nachmittag in der Pension getroffen hatte? Diese Frage blieb unbeantwortet.

      Wahr ist, dass Susanne und Horst sich an diesem Abend näher kamen. Er hatte ihre Wunde untersucht, sie dabei sanft an ihrem Knie berührt, und wieder dieses wohlige Kribbeln in ihr ausgelöst. Dieser Mann hatte magische Fingerkuppen. Insgeheim wünschte sie sich, dass er nicht nur ihr Knie berühren würde.

      Nach dem Essen legte Horst eine Schallplatte mit indischer Musik auf und rückte seinen Stuhl neben ihren. Er suchte ihre Hand und schob seine Finger zwischen ihre. Und dann passierte das, wonach sie sich gesehnt hatte: Er streichelte mit den Fingerkuppen seiner rechten Hand die Innenseite ihres linken Arms. Sie zitterte und schämte sich, weil sie ihre Erregung nicht verbergen konnte. Sie küssten sich zart, berührten sich, streichelten sich. Nein, er bedrängte sie nicht, er hatte seine Hände unter Kontrolle.

      „Mein Praktikum läuft noch zwei Monate“, sagte er.

      Und sie erwiderte: „Wir müssen morgen abreisen, um unseren Rückflug von Bombay nach Zürich zu erreichen.“

      Sie gab ihm ihre Adresse. Er versprach, sie sofort nach seiner Rückkehr zu besuchen. Die Stimmung war traurig und mit Gefühlen überladen. Als er sie zum Abschied umarmte und eng an sich drückte, spürte sie etwas Hartes in seiner Hose. Ihn ermunternd rieb sie leicht ihr Becken daran. „Ich liebe dich“, sagte er. Sie schaute ihm prüfend in die Augen, bevor sie „ich liebe dich auch“ säuselte. Nach einem langen Kuss zogen sie sich aus und schliefen miteinander. Kostbare Erinnerungen.

      Horst schrieb ihr mehrere feurige Liebesbriefe, die sie in gleicher Weise beantwortete. Von Indien aus bewarb er sich hier am Krankenhaus und bekam umgehend eine Stelle zugesagt. Allerdings war Tropenmedizin hier nicht gefragt, er musste sich auf Orthopädie und Sportmedizin spezialisieren.

      Damals lebten ihre Großeltern noch, und sie wohnte bei ihnen hier in diesem Haus, im Dachgeschoss. Dort gab es vier Zimmer, eine Küche, ein Bad und ein WC - genug Platz für sie und Horst, und selbstverständlich wollte sie ihn bei sich aufnehmen, wenn er nun endlich zu ihr kommen würde.

      Es sei nicht schicklich, dass sie da oben unverheiratet mit einem Mann zusammenleben wolle, hatte ihre Oma moniert und sich taub gestellt, als Susanne argumentierte, das sei heute anders als früher, neunzehnhundert-achtundsechzig seien mutige Frauen und Männer für mehr Freiheit auf die Straße gegangen. Sie liebte ihre Oma, wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, aber sich auch nicht vorschreiben lassen, wie sie zu leben habe. Tagelang hatte sie die Frage, wie sie ihre Oma umstimmen könnte, durch ihren Kopf gewälzt und plötzlich glasklar gesehen, dass sie den Arzt in den Vordergrund rücken musste.

      In der Küche, als sie das Abendessen vorbereiteten, hatte sie einen Arm um die Oma gelegt und gesagt: „Es wäre doch für dich und Opa gut, einen Arzt im Haus zu haben.“

      Dieser Satz wirkte wie ein Virus. Innerhalb von wenigen Tagen weichte er die moralischen Bedenken der Oma auf. Und Horst sollte Oma und Opa nicht enttäuschen. Er kümmerte sich rührend um die Gebrechen der beiden Alten, ihre Gelenkschmerzen und den lahmenden Stuhlgang.

      Susanne und Horst begannen als Wohngemeinschaft, beide mit einem eigenen Zimmer. Nach wenigen Tagen sahen sie ein, dass getrennte Räume nicht viel Sinn machten, wenn sie Nacht für Nacht ihre Nähe suchten und zusammen in einem Bett schliefen. Sie richteten ein gemeinsames Schlafzimmer ein und ein Arbeitszimmer mit zwei Schreibtischen, ein Esszimmer und ein Wohnzimmer mit Couchecke, Bücherregal, Musikanlage und Fernsehgerät. Und sie teilten die Arbeiten auf: Horst kochte und spülte das Geschirr, sie kaufte ein, wusch und bügelte die Wäsche. Blieb noch das Putzen. Beide gehörten nicht zu den Menschen, die gerne schrubbten, wischten und saugten. Zu ihrem Glück konnten sie Elvira, die Putzhilfe der Großeltern, für diesen Job engagieren.

      Ihr Leben in Sünde, wie ihre Oma es nannte und deswegen für sie um Vergebung betete, dauerte nur ein paar Monate. Sie und Horst waren von ihrer Liebe überzeugt, wollten eine Familie gründen. Nach der Hochzeit setzte sie die Pille ab. Ein Jahr später gebar sie einen Sohn. Wir könnten ihn Mysore nennen, hatte Horst vorgeschlagen. Sie hatte gelacht. Nein, Mysore klang ihr zu exotisch. Sie wollte einen Rufnamen, der keine lästigen Fragen herausforderte. Horst verstand ihr Argument. Sie entschieden