Auf der Fahrt erzählten die Mädchen von einem Film über die Serengeti, den sie gestern Abend im Fernsehsender Arte gesehen hatten. Die vielen wilden Tiere - eine Elefantenherde, die ein tollpatschiges Neugeborenes in ihrer Mitte führte, sooo süüüß, und Giraffen und Nashörner und große Herden von Gnus, Zebras und Büffel mit ihren Jungen. Danach schimpften sie über die bösen Raubtiere, die nicht nur kranke und alte sondern auch viele Jungtiere rissen.
Schockiert waren sie von den Löwenmännern: Zwei starke Löwen - sie seien Brüder, habe es geheißen - hatten den alten Pascha in einem verbissenen Kampf besiegt. Die fünf Löwinnen des Rudels wollten die neuen Löwen nicht, fauchten sie weg und versteckten ihre Jungen vor ihnen. Doch es half nichts, als die Löwinnen auf der Jagd waren, fanden die Löwenmänner die Jungen und töteten alle. Sie wollten ihre Gene weitergeben, habe der Sprecher gesagt. Nur wenn die Löwinnen nicht mehr Junge säugten, würden sie wieder empfängnisbereit werden und sich mit den neuen Paschas paaren.
„Wie wenn Löwen etwas von Genen wüssten“, meinte Marion skeptisch.
„Die Natur kann grausam sein“, sagte Johann. „Die beiden Löwen haben sich dieses Revier erkämpft, und wollen dort mit den Löwinnen zusammen leben. Vermutlich wissen die Löwen, dass die Löwinnen sie erst dann akzeptieren, wenn sie keine Jungen haben.“
Der Freizeitpark war grün und weit. Kieswege führten durch hügeliges Gelände mit großen Tiergehegen, rechts saftige Wiesen mit Hirschen und Bisons, und links lichter Wald mit unzähligen Wildschweinen, alten, jungen und ganz jungen. Die gestreiften Frischlinge zauberten ein Lächeln in Marions und Connys Gesicht. Den stärksten Eindruck hinterließ ein riesiger Braunbär, der in einem Gehege mit stabilem Doppelzaun herumtappte und, gerade als sie am Zaun standen, in sein Wasserbad eintauchte, um sich abzukühlen. Durch einen Stahlzaun getrennt sollte in dem Nachbargehege eine Bärin mit zwei Jungen leben, aber die konnten sie nirgends entdecken.
Die Wege endeten auf einem zentralen Platz. Dort lockte ein Streichelzoo mit Ziegen, Schafen und Kaninchen die Mädchen an. Tiere zu berühren gab ihnen mehr Freude als Tiere anzuschauen. Ausdauernd versorgten sie kleine Ziegen mit Gemüsepresslingen, die sie in handlichen Päckchen für wenig Geld aus einem Futterautomaten zogen.
Danach Hände waschen und ab zum Spielplatz, zu Skooter, Hüpfburg und Rutschbahn. Sie probierten alles aus, blieben längere Zeit bei der Riesenrutsche, die ihnen offensichtlich am meisten Lustgewinn bescherte. Immer wieder sausten sie auf kleinen Teppichen hinab und, unten angekommen, beeilten sie sich mit dem Teppich unter dem Arm die lange Treppe hoch zu steigen, um wieder mit Tempo hinabzurutschen.
Johann setzte sich auf eine Bank, im Halbschatten unter einem weißrosa blühenden Apfelbaum. Er hing seinen Gedanken nach, Gedanken an die glücklichen Jahre mit Sophie und den Tiefpunkt vor drei Jahren. Ab und zu stand er auf und fotografierte: Marion füttert lächelnd die Ziegen - Conny steht staunend vor dem riesigen Braunbären - Marion fährt Autoskooter - Conny springt auf der Hüpfburg - Marion und Conny sausen jauchzend die Riesenrutsche hinunter. Er freute sich, dass seine Töchter in ein normales Leben zurückgefunden hatten.
Sie kamen zu ihm gerannt, wollten, dass er einmal mit ihnen zusammen hinabsause. Nach anfänglichem Zögern gab er nach, wie meistens. Hinterher musste er gestehen, dass ihm die rasante Talfahrt gefallen hatte.
Es war klug, ein Picknick mitgebracht zu haben, denn das Verpflegungsangebot im Park war bescheiden. Die Cafeteria war kein Lokal, sondern ein großer Kiosk mit einer Kaffeemaschine und einer Kuchenvitrine und einem qualmenden Wurstgrill im Freien. Außer Kuchen, bei dem sie später zugreifen wollten, gab es nur Rostbratwurst, also nichts für Marion, die sich, ausgelöst durch ihre Tierliebe, nur fleischlos ernährte.
Oben am Bisongehege setzten sie sich auf eine Bank, aßen ihre belegten Brote und die Bananen, tranken Apfelschorle und schauten zu der kleinen Bisonherde. Neun Tiere zählten sie: Ein großer Bulle, zwei Kühe mit je einem Kalb und vier Halbwüchsige. Außer ihrem zotteligen Fell und ihrer imposanten Größe - Bisonbullen können eine Tonne schwer werden, informierte das Schild am Zaun - hatten die Bisons nichts zu bieten. Sie bewegten sich nur wenig; nicht einmal die Kälber tollten herum. Deshalb klang Johanns Bemerkung, „ich könnte einen Kaffee vertragen“, in Marions und Connys Ohren wie ein Signal zum Aufbruch aus der Langeweile.
Vor der Cafeteria warteten auf einem eingeebneten und mit Kies belegten Platz sechs grün lackierte Metalltische mit jeweils vier grünen Klappstühlen auf die Gäste. Außer einem Tisch, an dem eine junge Frau mit einem deutlich älteren Mann und zwei kleinen Knaben Eis aßen, waren alle frei. Johann bestellte einen doppelten Espresso, Marion und Conny entschieden sich für Coca-Cola. Aus der Kuchenvitrine wählten alle drei den Himbeertraum, eine mehrschichtige Komposition aus Mürbeteig, Sahnequark, Himbeeren und feinen Streuseln. Mit Getränken und Kuchen setzten sie sich an den am weitesten vom Wurstgrill entfernten Tisch.
Marion probierte den Kuchen und gab ein „Mhm“ von sich.
„Oh ja, der ist lecker“, stimmte Conny zu.
Johann nickte und sagte: „Auch der Espresso ist nicht schlecht.“ (Wenn etwas gut ist, sagt man hier, es sei nicht schlecht).
Hungrige Spatzen hüpften auf dem Kies um den Tisch herum und hofften auf zufällig herabfallende Krümel, sehr zur Freude von Marion und Conny, die mit absichtlich vom Tisch fallenden Stückchen nachhalfen.
Ob der große Braunbär einen Bisonbullen reißen könne, fragte Conny. Das glaube sie nicht, meinte Marion, so ein Bisonbulle sei wehrhaft, ein Stich mit den Hörnern oder ein Tritt mit den Hufen würde den Bären schwer verletzen. Vielleicht sogar tödlich, sagte Johann. Scherzend fügte er hinzu: Man hätte den Bären ins Gehege der Bisons schicken sollen. Dann hätten die sich bewegt. Die Mädchen lachten, und er lachte mit ihnen.
Zufrieden machte sich das Kleeblatt, wie Johann seine Töchter und sich gerne nannte, auf die Heimfahrt. Er setzte die Mädchen zuhause ab und fuhr, wie jeden Sonntagnachmittag, für eine oder zwei Stunden in die Firma, um den Montag vorzubereiten.
Johann hatte in Tübingen Betriebswirtschaft studiert, danach für eine Export-Import-Firma zwei Jahre lang in New York gearbeitet, ehe er vor sechzehn Jahren zur Linder Pumpen GmbH hier im Industriegebiet wechselte. Als Linder vor sieben Jahren die Tochterfirma Li-Filter gründete, konnte er als Teilhaber einsteigen. Sie stellten leistungsstarke Filtermaschinen her, kein Kleinzeug. Den weltweiten Vertrieb aufzubauen war seine Aufgabe, eine Arbeit, die ihm Spaß machte, auch wenn sie ab und zu - immer wenn ein Problem auftrat, das schnell gelöst werden musste - viel Kraft erforderte.
Am späten Sonntagnachmittag war er allein in der Firma. Er setzte sich in den bequemen Chefsessel am Schreibtisch in seinem Büro, einem hellen Eckzimmer im ersten Stock des Firmengebäudes. Wände und Decke waren cremeweiß gestrichen, der Boden mit hellbraunem Laminat belegt. Abgesehen von dem edel wirkenden Sessel war der Raum funktionell (man könnte auch sagen bescheiden) mit hellgrauen Büromöbeln der Firma Auermann eingerichtet. Im rechten Winkel zum Schreibtisch schloss sich ein Computertisch an, daneben ein großer Aktenschrank. An der Wand links stand ein Sideboard und schräg gegenüber vom Schreibtisch ein ovaler Besuchertisch mit sechs gepolsterten Stühlen. Ein großer Drachenbaum in einem rollbaren Edelstahltopf und ein vierteiliges Wandbild einer Alpenlandschaft, mit Schafen auf einer grünen Weide im Vordergrund und zackigen grauen Bergen dahinter, milderten die geschäftliche Atmosphäre.
Der Schreibtisch spiegelte das Bild eines ordnungsliebenden Menschen; links lagen zwei dünne Stapel mit Akten, in der Mitte ein Notizblock mit zwei Kugelschreibern und rechts ruhte ein drahtloses Telefon in einer Ladestation. Weitere Arbeitsgeräte, ein Laptop und ein Laserdrucker, standen auf dem Computertisch bereit. Telefax und Kopierer waren im Vorzimmer untergebracht, dem Arbeitsplatz von Mary Wright, seiner aus Wales stammenden Assistentin. Sie war die erste Mitarbeiterin, die er