Ein zerrissenes Leben. Benno Wunder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno Wunder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742787736
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jemand wie Goethe, der nachweislich selbst Mädchen verführt habe. Beate Brehmer, Tochter eines Informatikprofessors, und andere Schülerinnen schlossen sich Sonja an.

      Was sollte sie darauf erwidern? Sie hatte einen Moment nachgedacht und dann gesagt, das Wort Mist wolle sie im Zusammenhang mit Goethes Dichtung nicht hören. Frauenfeindlich, ja, aus heutiger Sicht könne man das so sehen wie Sonja, aber man müsse diesen Text im Spiegel jener Zeit verstehen. Frauen seien vor zweihundert Jahren nicht emanzipiert gewesen, und an eine sexuelle Revolution habe noch niemand gedacht, nicht einmal im Traum. Richtig zufrieden war sie mit ihrer Antwort nicht.

      In der Pause waren Sonja, Beate und zwei andere Schülerinnen aufeinander zugegangen und hatten so laut debattiert, dass Susanne nicht weghören konnte: Dass bald mehrere dran kämen, wenn man mit einem heimlich anfange, sei eine infame Unterstellung. Und dann gleich zwölf, und dann die ganze Stadt, das sei doch krank.

      Susannes Vorbereitung lief heute zäh. Sie ärgerte sich ein bisschen, dass sie immer wieder abschweifte - zu Johann. Er schien normal zu sein und vielleicht bereit, das Glück mit ihr zu versuchen. „Definitely perhaps“, sagte sie und lächelte. Als Englischlehrerin kannte sie diesen widersinnigen Ausdruck.

      Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich in Mysore nicht gestolpert wäre? Diese Frage hatte sie sich schon oft gestellt, hatte sie hin und her gedreht und war immer zum gleichen Ergebnis gekommen: Anders wäre es verlaufen, vielleicht besser, vielleicht schlechter. Ihren Ex-Mann Horst, diese treulose Wildsau, hätte sie nicht kennen gelernt, aber eben auch nicht den wunderbaren Sex mit ihm erlebt. Und Florian gäbe es nicht. Dafür vielleicht eine Tochter oder eine Tochter und einen Sohn. Bislang erspart geblieben war ihr ein gewalttätiger Mann. Sie verachtete Männer, die Frauen schlugen.

      Kapitel 3: Johann und seine Töchter Marion und Conny

      Johann konnte zu Fuß vom Theater nach Hause gehen in das am Rande der Innenstadt gelegene Domizil, in dem ihm eine Vier-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock und ein Zimmer mit Dusche und WC im darüber liegenden schrägen Dachgeschoss gehört. Als Sophie vor elf Jahren Wind davon bekam, dass in der Grabengasse ein Jugendstilhaus renoviert und im Zuge der Erneuerung in Apartments aufgeteilt wird, musste sie einfach zugreifen. „Die Grabengasse ist eine ruhige Straße ohne Durchgangsverkehr“, hatte sie mit Verve erklärt und das Adjektiv „einmalig“ hinzugefügt. Seine Warnung, „wir werden uns maßlos verschulden“, wollte sie nicht hören. Wie recht sie hatte. Im letzten Jahr hatte er den Rest der Schulden getilgt, geblieben ist die Freude an diesem schönen Besitz.

      Der Heimweg führte ihn über den Marktplatz durch die Rathausgasse und die Torgasse über die Theodor-Heuss-Straße in die Grabengasse. Um diese Zeit war er allein unterwegs, kein anderer Mensch, bloß zwei Katzen, und auf der Theodor-Heuss-Straße ein Auto.

      Der Himmel war bewölkt, nur für einen Augenblick sichelte der Mond durch die Wolken. Die linde, mit Blütenduft geimpfte Aprilluft steigerte seine frohe Stimmung. Seine Gedanken kreisten um Susanne. Bei dem Fest sprühte sie vor Lebensfreude, hatte Sinn für Humor und war schön anzusehen mit ihren strahlenden blaugrauen Augen, den blonden Locken und dem Grübchen im Kinn. „What a beautiful bird, what a beautiful bird“, sang er leise vor sich hin und legte ein paar Tanzschritte auf den Asphalt. Ihm gefiel, dass sie dezent geschminkt war - nur wenig Lippenstift und die Fingernägel perlmuttfarben lackiert. Weniger zurückhaltend war sie bei ihrem Schmuck, aber die Perlenkette, das Perlenarmband und die Perlenohrringe passten irgendwie zu ihr und ihrem violetten Kleid und den violetten Pumps. Arm schien sie nicht zu sein. Was sie wohl für einen Beruf hat? Er freute sich auf das Wiedersehen mit ihr. Wie würde sie sich verhalten, wenn er ihr von seinen beiden Töchtern, der vierzehnjährigen Marion und der um zwei Jahre jüngeren Conny erzählte?

      Nur noch ein paar Schritte, dann war er bei seinen Kindern. Leise öffnete er die Haustür, ging die Treppe hoch und schlich in die Wohnung, schaute zuerst in Marions dann in Connys Zimmer; beide waren leer. Er fand die Mädchen tief schlummernd in seinem französischen Bett. Für ihn hatten sie neben das Bett eine Matratze mit seinem Bettzeug gelegt. Eigentlich waren sie über dieses Stadium hinaus, doch manchmal, wenn er ausging, kam bei ihnen das Verlangen nach Geborgenheit zurück, wie vor drei Jahren, als sie nach dem Tod ihrer Mutter Nacht für Nacht bei ihm schliefen, Schutz und Trost bei ihm suchten. Zehn Monate hatte es gedauert, bis sie wieder ohne ihn einen ruhigen Schlaf fanden.

      Sie hatten beide ein Etagenbett in ihrem Zimmer, damit auch eine Freundin eingeladen werden konnte. Meistens verhielten sie sich selbst wie Freundinnen und schliefen zusammen bei Marion.

      Johann putzte sich die Zähne, wusch sich, zog seinen Schlafanzug an und schlüpfte in sein Matratzenbett. Er gehörte zu den Menschen, die Schlafprobleme nicht kannten und mit wenig Schlaf auskamen; fünf Stunden pro Nacht reichten ihm. So auch in dieser Nacht.

      Er lag mit offenen Augen auf dem Rücken, als am Morgen der dunkle Wuschelkopf von Conny über der Bettkante erschien, und ihre braunen Augen nach ihm lugten und prüften, ob er schon wach war. Ja, seine Augen lächelten ihr zu. Sie erwiderte sein Lächeln und plumpste mit einem fröhlichen „guten Morgen“ zu ihm hinunter. Er musste sie einfach gern haben, drückte sie kurz an sich und gab ihr ein Küsschen. In ihrem schwarz-gelb gestreiften Biene-Maya-Schlafanzug sah sie niedlich aus.

      „Guten Morgen zusammen.“

      „Hallo“, kam es nun auch von Marion. Sie ist in der Pubertät, will mal

      Abstand, dann wieder Nähe, heute Nähe. „Kommt hoch ins große Bett und lasst uns zusammen dösen, wie früher“, forderte sie ihn und Conny auf.

      „Aber nicht lange“, bremste er. „Wir müssen auch noch entscheiden, was wir unternehmen wollen.“

      Am Sonntagmorgen zusammen dösen, das hatte Sophie eingeführt, und sie hatten es beibehalten. Wie lange noch, fragte er sich. Marion nabelte sich bereits ab. Conny würde ihr bald folgen.

      Dösen fiel ihm heute schwer. Er war unruhig, dachte zuerst an Susanne, danach an Sophie und den schwierigen Neuanfang mit zwei verunsicherten Kindern, damals neun und elf Jahre alt, als alles neu organisiert werden musste. Ohne meine Schwiegermutter, die gute Berta, hätte ich das nicht geschafft, erinnerte er sich und nahm sich vor, ihr wieder einmal zu sagen, wie dankbar er ihr für ihre Hilfe ist. Er hatte Glück, dass Berta in der gleichen Stadt wohnte, und dass sie trotz ihrer neunundsechzig Jahre vor Gesundheit strotzte. Ein bisschen mollig war sie geworden, schön mollig, nicht fett.

      Die letzten Wochen vor Sophies Tod und viele Wochen danach lebte Berta bei ihnen in der Grabengasse, führte den Haushalt und kümmerte sich mit viel Liebe um ihre Enkelinnen, tröstete sie und half ihnen aus dem Schmerz herauszukommen. Das konnte sie besser als er. Für ihn blieb die Rolle des unerschütterlichen Felsens in der Brandung, an dem sie sich festhalten konnten.

      Um Berta wenigstens teilweise in ihr eigenes Leben zurückgehen zu lassen, hatte er eine Haushaltshilfe gesucht und mit Ailin, einer gebürtigen Thailänderin, die seit über zwanzig Jahren mit einem Deutschen verheiratet ist, mehr als eine Hilfe gefunden. Ailin kam an Wochentagen um zwölf Uhr in die Grabengasse und blieb, bis er gegen Abend von der Arbeit zurückkehrte. Sie kochte für die Mädchen, putzte, wusch und bügelte die Wäsche. Marion und Conny mochten sie wegen der ruhigen Freude, die sie ausstrahlte. Ailin sei immer gut drauf, sagten sie.

      „Aufstehen!“, rief er, „nichts wie raus. Es ist schon halb neun.“ Er ging zum Fenster und guckte zum Himmel. „Es ist leicht bewölkt, aber ich sehe auch einige blaue Flecken. Was meint ihr, wir könnten einen Ausflug in den neu eröffneten Freizeitpark machen, dort sind auch viele Tiere?“ Beide brummelten Laute, die man als Zustimmung deuten konnte.

      Marion war verrückt nach Tieren. Ihr Zimmer teilte sie mit einem Meerschweinchen, um das sie sich liebevoll kümmerte. Neben dem Meerschweinchen galt ihre große Liebe den Pferden. Sie seien wunderschön, kräftig und doch sanft, schwärmte sie. Freitagnachmittags arbeitete sie in einem Reiterhof, striegelte Pferde und mistete Ställe aus. Sie hatte reiten gelernt und durfte manchmal ein Pferd reiten, wenn es zu wenig Bewegung hatte, weil die Besitzerin krank war oder verreist. Johann fragte sich, ob es ein Zufall