Er lachte, wischte mit einer Papierserviette seinen Mund ab. „Ich habe auch Kinder, zwei Töchter, Marion und Conny.“
„Leben die bei ihrer Mutter, oder bei dir?“
„Bei mir.“ Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Sophie, meine Frau, ist vor drei Jahren an Brustkrebs gestorben. Es war schlimm. Es fällt mir immer noch schwer, darüber zu reden.“
„Wie traurig“, mitfühlend legte Susanne ihre Hand auf seinen Arm.
„Vielleicht hast du Sophie gekannt. Sie ist, wie du, in dieser Stadt aufgewachsen, war eine der beiden Inhaberinnen der Marien-Apotheke.“
„Könnte sein“, meinte Susanne. „Wie war denn ihr Mädchenname?“
„Hauser.“
„Sophie Hauser“, murmelte sie, „nein, da klingelt es nicht bei mir. Die Marien-Apotheke kenne ich natürlich.“
Susanne kippte den Rest ihres Espresso. „Erzähl‘ mir mehr von deinen Töchtern.“
„Conny ist zwölf. Sie geht in das gleiche Gymnasium wie dein Sohn, nur vermutlich zwei Klassen tiefer. Sie ist ein Sonnenschein. Den Verlust ihrer Mutter hat sie besser verkraftet als Marion.“
Er räusperte sich, trank einen Schluck Wasser.
„Marion besucht die Realschule. Sie ist vierzehn und verrückt nach Tieren. Sie will Tierpflegerin werden, oder neuerdings Pferdewirtin. Sie arbeitet freitagnachmittags in einem Reiterhof, striegelt Pferde und mistet Ställe aus. Manchmal darf sie ein Pferd reiten. Total aus dem Häuschen war sie, als sie von der Hippotherapie erfuhr. Weil sie so einfühlsam seien, schwärmte sie, könne man Pferde darauf abrichten, sich vorsichtig zu bewegen, wenn behinderte Menschen auf ihnen sitzen.“
„Das klingt interessant. Sie scheint sehr zielstrebig zu sein.“
„Ja“, sagte Johann und nickte zögernd mit dem Kopf. Die Tiere ausgenommen fand er Marion nicht besonders zielstrebig.
„Wer sorgt denn für die Mädchen?“
„Ich und... ich habe eine sehr gute Haushaltshilfe und mit Berta Hauser eine warmherzige Schwiegermutter. Als ich vor sechzehn Jahren in diese Stadt kam, um bei der Firma Linder zu arbeiten, mietete ich bei den Hausers eine kleine Wohnung unter dem Dach. Ich mochte Berta vom ersten Tag an.“ Lachend setzte er hinzu: „Doch weil sie nicht mehr frei war, entschied ich mich für ihre Tochter Sophie.“
Susanne lächelte, aber so lustig wie Johann fand sie diesen Scherz nicht. Sie wollte noch mehr von ihm wissen:
„Was arbeitest du bei Linder?“
„Ich bin Betriebswirt. Die ersten neun Jahre arbeitete ich in der Exportabteilung des Stammhauses, diente mich hoch. Als Linder vor sieben Jahren die Tochterfirma Li-Filter gründete, konnte ich als Teilhaber einsteigen. Linder ist ein großer Pumpenhersteller. Wir bei Li-Filter produzieren Filter-maschinen und verwenden dazu Linder Pumpen. So hängen die beiden Firmen zusammen. Meine Aufgabe ist es, ein weltweites Vertriebsnetz für unseren Clearfilter, so heißt die Filtermaschine, aufzubauen.“
„Wow“, Susanne war beeindruckt.
Herr Ferdinand sah in ihre Richtung mit einem Blick, der sagte, wenn sie hier sitzen wollen, sollten sie auch konsumieren.
„Wollen wir noch etwas bestellen?“, fragte Susanne.
„Ja, ein Glas Wein wäre fein“, schlug er vor. Sie entschieden sich für ein Viertel trockenen Spätburgunder und zwei Gläser.
„Jetzt möchte ich aber auch noch ein bisschen mehr von dir hören“, forderte er sie auf.
„Ich unterrichte Deutsch und Englisch am Friedrich-Schiller-Gymnasium. Dort ging ich selbst zur Schule.“ Sie strich sich ein Löckchen hinters Ohr, überlegte, was in ihrem Leben so interessant war, dass es sich zu erzählen lohnte. „Studiert habe ich in Freiburg. Es war eine schöne Zeit in einer schönen Stadt. Ich denke gern an diese Jahre zurück und an die drei Jungs, mit denen ich in einer Wohngemeinschaft lebte.“ Sie sah die drei deutlich vor sich - Walter, der durchtrainierte Sportstudent, Christoph, der feinsinnige Kunsthistoriker, den sie mochte, und Karl, der hart arbeitende Chemiker, der ab und zu aromatisch nach Labor duftete. Mit einem Schmunzeln ergänzte sie: „Da musste ich lernen mich durchzusetzen. Ich habe keine Geschwister, niemand, der mit mir um den Inhalt des Kühlschranks konkurrierte. Das war neu für mich.“
Johann unterdrückte ein Grinsen.
Der Ober brachte den Wein, füllte in jedes Glas knapp die Hälfte des Kruginhalts und wünschte „zum Wohl.“
Sie bedankten sich. Johann hob sein Glas, stieß mit Susanne an und sagte:
„Auf uns.“
„Ja, auf uns“, erwiderte sie.
„Nach dem Studium reiste ich zusammen mit meiner Freundin Petra vier Monate lang kreuz und quer durch Indien“, erzählte sie weiter.
Johann bekam große Augen. „Das klingt abenteuerlich.“
„Ja, es war ein Abenteuer, eines mit ungeahnten Folgen. Auf unserem Abstecher nach Südindien lernte ich meinen Ex-Mann Horst kennen. Der machte in Mysore ein Praktikum in Tropenmedizin. Wir verliebten uns und heirateten bald nach unserer Rückkehr in die Heimat.“ Sie zögerte, spielte nervös mit ihrem Perlenarmband, trank einen Schluck Wein. Ihr schönes Lächeln wandelte sich zu einer ernsten Miene. Leise sagte sie: „Leider musste ich schon bald nach unserer Hochzeit feststellen, dass mein Mann das Untreue-Gen besitzt.“
„Gibt es so etwas?“ fragte Johann wissbegierig und beschloss, darüber das Internet zu befragen.
„Ich denke schon“, antwortete sie. „In den elf Jahren unserer Ehe hatte er zahlreiche Affären - harmlose Liebeleien, nannte er das. Scheiden ließ ich mich, als ich erfuhr, dass eine Krankenschwester, seine rechte Hand, ein Kind von ihm erwartete.“ Sie war ziemlich aufgewühlt von diesen, ihren eigenen Worten und brauchte ein paar Sekunden, um ihre Gefühle einzufangen. „Er lebt hier in dieser Stadt mit seiner neuen Familie, ist seit einigen Jahren Oberarzt am Krankenhaus. Florian besucht ihn jede Woche.“
„Das Leben läuft nicht so, wie man es sich wünscht“, stimmte Johann zu.
„Man könnte verrückt werden“, sagte Susanne. „Wenn man bei einer der wichtigen Entscheidungen im Leben einen Fehler macht, oder Pech hat, bleibt man geschlagen zurück, und das Leben läuft allein weiter.“
„Ich weiß, wie schwierig es ist, nach einem Niederschlag aufzustehen“, schloss Johann sich einfühlsam an. „Was können wir schon frei entscheiden? Ich denke, dass uns der Zufall regiert. Ob wir arm oder reich geboren werden, ob unsere Eltern sich um uns kümmern oder saufen, können wir nicht beeinflussen, das ist reiner Zufall. Und später, wenn wir selbst entscheiden können, haben wir nur eine begrenzte Auswahl an Möglichkeiten, und die ist vom Zufall diktiert.“ Er bemerkte, dass er mit seinem tiefsinnigen Gerede Susanne langweilte und versuchte seinen Monolog positiv zu beenden: „Es war Zufall, dass ich vor sechzehn Jahren in diese Stadt kam. Ich arbeitete damals für ein deutsches Handelsunternehmen, Export-Import, in New York. Als ich entdeckte, dass diese Firma Probleme mit der Zollbehörde bekam und eine Anklage wegen unseriöser Geschäftspraktiken zu erwarten hatte, suchte ich nach einem neuen Arbeitsplatz und bewarb mich von New York aus auf Stellenanzeigen in deutschen Zeitungen. Dabei stieß ich zufällig auf eine Anzeige der Firma Linder.“
„Ich danke diesem Zufall“, sagte sie und hob ihr Glas.
„Ich auch.“ Er stieß mit ihr an und trank einen Schluck, bevor er weiter redete: „Hier entdeckte ich, dass ich die Ruhe und die Natur liebe. Im Sommer bin ich am liebsten draußen, bewege mich gern - fahre Rad, wandere in den Bergen, segle, schwimme im See.“
„All das mag ich auch“, sagte sie. „Aber es gibt etwas, das mir noch mehr Freude macht: Reisen. Letztes Jahr war ich in Peru. Den Kontakt mit fremden Kulturen