Ein zerrissenes Leben. Benno Wunder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno Wunder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742787736
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Laute aus. Gekonnt richteten die beiden Frauen für jeden einen Teller und wünschten „guten Appetit.“ Nach den ersten Bissen, hörte er von seinen Geschäftspartnern „Ahs“ und „Ohs“, einer schmatzte genüsslich. Es schien ihnen zu schmecken und ihm auch.

      Jerome, der älteste der drei, sagte, die Leute hier verstünden zu leben.

      Johann, der meinte einen neidischen Unterton gehört zu haben, erklärte, so gut speise er nur selten und nur mit Gästen, zuhause würde er bescheiden essen.

      Sie hatten ihre Teller geleert und schielten auf die noch halb vollen Platten. Das entging der aufmerksamen Gehilfin nicht. Gleich kam sie mit frischen, vorgewärmten Tellern und verteilte darauf den Rest der Speisen. Am Ende hatten alle ihren Bauch vollgeschlagen, so voll, dass für ein Dessert - es gab Erdbeeren mit Schlagrahm - kein Platz mehr war.

      Johann schlug einen Verdauungsspaziergang vor. Den gestaltete er so, dass sie nach gut tausend Schritten das Hotel Altstadt erreichten. Er fragte sie, ob sie mit ihren Zimmern zufrieden seien, und bekam lobende Worte zu hören, luxuriös meinte einer und sehr ruhig ein anderer. Morgen erwarte sie ein anstrengender Tag, sagte Johann, und verabschiedete sich.

      Kurz vor zehn Uhr kam er zu seinen Kindern, die in ihren Schlafanzügen vor dem Fernsehgerät saßen und auf ihn warteten, nicht weil sie ihm noch etwas Wichtiges mitteilen wollten, nein, sie warteten auf ihn, weil sie besser einschlafen konnten, wenn er in der Wohnung war. Er bedankte sich bei Oma Berta, der Kindsmagd, und begleitete sie zu ihrem Auto.

      Mit großen Schritten, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, ging er zurück in die Wohnung, freute sich, dass er sich noch ein Weilchen zu Marion und Conny auf das Sofa setzten konnte. Während er die Oma nach unten begleitete, waren sie auf dem Sofa auseinander gerückt und hatten für ihn Platz gemacht. Er quetschte sich zwischen sie und legte um jede einen Arm. Es sei schön bei seinen Liebsten zu sitzen, sagte er. Beide lächelten, Conny nur kurz, weil sie gähnen musste und nicht gleichzeitig lächeln und gähnen konnte. Sie sei müde, säuselte sie. Gleich darauf fing auch Marion zu gähnen an. Ehe sie an ihn gelehnt einschliefen, schickte er sie mit einem Küsschen und dem Wunsch für eine gute Nacht ins Bett.

      Er rief Susanne an und sagte ihr, dass er sie vermisse. Von da an telefonierten sie jeden Abend, nahmen zaghaft das Wort Liebe in den Mund. Er erzählte von seiner Kindheit und Jugend in Hamburg, von seinen Eltern, die schon gestorben waren, und seiner Schwester Helga, die in Hamburg wohnte. Sie würden oft miteinander telefonieren und sich jedes Jahr besuchen, entweder hier oder in Hamburg. Helga liebe Marion und Conny, und die liebten ihre Tante, ihre Großzügigkeit und ihren trockenen Humor. Wenn sie Heinz Erhardt nachmache, kugelten sie sich vor Lachen.

      Ob Helga eine Familie habe, fragte Susanne.

      Nein, sie habe nicht geheiratet. Sie habe einige Freunde gehabt, darunter jedoch Keinen, den sie hätte ständig um sich haben wollen. Vielleicht sei sie zu anspruchsvoll. Sie habe einen Doktortitel, sei Biologin. Seit einigen Jahren arbeite sie als Abteilungsleiterin in einem Lebensmittelkonzern.

      Susanne erzählte, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt beinahe gestorben wäre. Deshalb habe sie keine Geschwister. Ihre Mutter sei auch ein Einzelkind, aber die Mitglieder der väterlichen Linie, die Fischers, seien sehr fruchtbar. Sie habe viele Basen und Vettern, von denen einige hier lebten, mit ihr aufwuchsen und die fehlenden Geschwister ersetzten. Ihre Eltern würden in einem Nachbarort wohnen. Dort hätten sie vor einigen Jahren ein großes Haus gekauft mit genug Platz für die Schreinerei ihres Vaters und die Physiotherapiepraxis ihrer Mutter.

      Ob die noch arbeiteten, fragte Johann.

      Nein, jetzt nicht mehr. Ihr Vater werkle herum, da ein Regal für Florian, dort einen Blumenständer für sie. Und ihre Mutter behandle noch ein paar alte Bekannte.

      Das gefalle ihm, sagte Johann.

      Susanne redete weiter: In der Schule habe sie keine Probleme gehabt, selbst Chemie und Physik seien für sie kein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Nebenher sei sie zum Tennis und in den Ballettunterricht gegangen.

      Bei dem Wort Ballett ging Johann ein Licht auf. Deshalb tanze sie so gut, bemerkte er.

      Ja, damit habe es begonnen, aber richtig tanzen gelernt habe sie im Tanzclub Latinos, in den sie mit sechzehn eingetreten sei. Sie habe eine schöne Jugend gehabt. Ihre Eltern und die Eltern ihrer Mutter hätten sie mit Liebe umsorgt und für jeden ihrer Wünsche ein offenes Ohr gehabt. Sie sei brav gewesen, nur mit achtzehn habe sie etwas Böses gemacht.

      Jetzt sei er aber gespannt, sagte Johann.

      Weil ihr die Debatten über Abtreibung auf die Nerven gegangen seien, habe sie spät in der Nacht mit roter Farbe an eine Wand der Stephanskirche Mein Bauch gehört mir gesprayt.

      Johann lachte.

      Wenige Tage später habe jemand unter ihre Worte mit brauner Farbe Diese Mauer aber nicht geschrieben. Das sei bestimmt der Pfarrer gewesen, habe sie damals gedacht.

      Er prustete los. Das sei eine tolle Geschichte. Nachdem er sich beruhigt hatte, sagte er nachdenklich, er habe auch manches Böse gemacht: Geklaut, geprügelt - nichts Großes und auch nicht allein; in der Gruppe habe man sich gegenseitig hochgeschaukelt. Das liege lange zurück. Heute schäme er sich dafür.

      Wie er von Hamburg in den Süden gekommen sei, fragte Susanne.

      Nach dem Abitur sei er seiner Freundin Dagmar nach Tübingen hinterhergelaufen und habe an der Eberhard-Karls-Universität studiert. Auf der Suche nach einem aufregenderen Umfeld sei Dagmar am Ende des zweiten Semesters weiter gezogen nach München, aber ohne ihn, er sei bis zum Examen in Tübingen geblieben. Ihm habe es dort gefallen. Tübingen sei eine alte Studentenstadt, mit preiswerten Kneipen und dem Neckar, auf dem im Sommer Studenten in Stocherkähnen schipperten. Er habe auch den Botanischen Garten gemocht, sei gern mit einem Lehrbuch unter exotischen Bäumen gesessen. Er ging im Geist durch, was noch erwähnenswert sei, fuhr dann fort: Die Neckarzeile mit dem Hölderlinturm an einem Ende sehe malerisch aus. In einem der Häuser mit einem Balkon hin zum Fluss lebe das Zimmertheater. Dort habe er einige groteske Stücke gesehen. Er erinnere sich an Warten auf Godot von Samuel Beckett und König Ubu von Alfred Jarry.

      Susanne erzählte von Indien, von den prächtigen Bauwerken und der unbeschreiblichen Armut der Menschen, auf der einen Seite goldene Paläste, auf der anderen Familien, die auf der Straße lebten und ihren Wohnplatz durch eine Reihe von Kieselsteinen zur Nachbarfamilie abgrenzten. Diese Bilder seien für sie und ihre Freundin Petra schwer zu verkraften gewesen. Und die unzähligen Bettler, alle zwanzig Meter einer. Und der Lärm in den Städten, und der Verkehr - ein wildes Durcheinander von Fahrradrikschas, Ochsenkarren, ratternden Dreiradtaxis, hupenden Bussen - und dazwischen magere, heilige Kühe und Massen von Fußgängern.

      Erholung hätten sie in Goa gefunden. Die Leute seien dort weniger arm und es gebe genug zu essen: Fisch aus dem Meer, Reis, Bananen, Kokosnüsse. Sie hätten sich unter die Hippies an der Anjuna Beach gemischt, gefaulenzt und an einer einsamen Stelle nackt im Meer gebadet.

      Das sei ein schönes Bild, sagte Johann.

      An Werktagen stand Johann spätestens um sechs Uhr auf, schlich ins Badezimmer, putzte seine Zähne, wusch und rasierte sich. Mit Hose und Bademantel bekleidet ging er in die Küche und richtete das Frühstück für seine Töchter und sich - Corn Flakes, Vollkornbrot, Frischkäse, Kirschmarmelade, Joghurt, Fruchtsaft, Milch, Kakao und Tee. Danach weckte er die beiden Schülerinnen, nicht ohne vorher noch einen Blick auf die an der Tür des Küchenschranks hängenden Stundenpläne geworfen zu haben; bloß nicht zu früh wecken!

      Conny will Wissenschaftlerin werden - wie Marie Curie, verkündete sie in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit. Sie lernt leicht und gleicht nicht nur mit ihrem hellwachen Geist sondern auch mit ihrem braunen Wuschel aus Naturlocken und ihrem zierlichen Äußeren ihrer Mutter. An der Oberlippe trägt sie ein Piercing, einen kleinen Ring aus Nickel-freiem Silber. Johann neckte sie mit der Bemerkung, dass der Ring farblich gut zu der Zahnspange in ihrem Mund passe.

      Marion schlägt mehr nach ihm, ist im Körperbau größer und kräftiger als Conny und