Ein zerrissenes Leben. Benno Wunder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benno Wunder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742787736
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möglichen Zeitpunkt gegeben, hatte ihr Vater präzisiert, direkt nach seiner Meisterprüfung.

      „Ich habe wunderbare Eltern“, murmelte sie vor sich hin und räkelte sich wohlig in ihrem Bett.

      Horst hatte in Berlin Medizin studiert und in seiner Doktorarbeit die zunehmende Verbreitung tropischer Parasiten in Deutschland untersucht. Die Geschichte, wie er zu einem Praktikum nach Südindien kam, hatte sie mehrmals gehört. Er hatte sie ihr erzählt, und sie war dabei, wenn er sie anderen erzählte. Sie klang immer gleich: Während er in Berlin seine Erkenntnisse zusammenschrieb, habe er im tropenmedizinischen Institut einen Vortrag von Professor Rao, einem Gast aus Mysore, gehört. Die geschilderten Fallstudien aus Südindien hätten seinen Horizont gewaltig erweitert. Seine eigene Arbeit sei ihm auf einmal stümperhaft vorgekommen.

      Nach dem Vortrag hätten zunächst einige deutsche Professoren den indischen Kollegen umringt und mit ihm gefachsimpelt. Er habe in der Nähe auf seine Chance gewartet. Als Professor Rao einen Augenblick allein gelassen um sich blickte, sei er auf ihn zugegangen, habe ihm von seiner Doktorarbeit erzählt und ihn gefragt, ob er ein Praktikum bei ihm machen könne. Der Inder habe ihm mit freundlicher Miene zugehört und geantwortet, er solle seinen Lebenslauf und die englische Zusammenfassung seiner Dissertation an sein Institut in Mysore schicken, dann könne er in Ruhe eine Entscheidung treffen. Bezahlen könne er ihn nicht, dafür müsse er selbst sorgen, ein Stipendium beantragen. Und dann kam in Horsts Erzählung ein Satz, der ihr im Gedächtnis geblieben war, weil sie ihn blöd fand: „Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Professor Rao mich annahm, denn sonst hätten wir uns in Mysore nicht begegnen können.“ Natürlich nicht, und sie hätten sich auch nicht getroffen, wenn der Deutsche Akademische Austauschdienst ihm ein Stipendium verwehrt hätte.

      Nachdem er sich in Mysore eingelebt und mit seinen Studien über tropische Parasiten begonnen hatte, machte Horst wahr, was er sich in Berlin vorgenommen hatte: An einem Tag in der Woche begleitete er eine Krankenschwester, die mit der regionalen Sprache Kannada und den Sitten vertraut war, in die umliegenden Dörfer und half ihr die Armen medizinisch zu versorgen.

      Er trug die gleiche Kleidung wie seine indischen Kollegen, ein kragenloses Hemd, dreiviertellang und darunter eine lange Hose, beide aus heller, ungefärbter Baumwolle. Auf dem Kopf ein weißes Schiffchen und an den Füßen Flip-Flops. Er hatte sich für dieses Outfit entschieden, nicht weil er sich gleich machen wollte, vielmehr weil er der Ansicht war, dass diese Kleidung sich für das dort herrschende Klima am besten eignete. Sie war das Produkt einer jahrhundertelangen Selektion; auch in der Kleidung galt Spencers survival ft he fittest, davon war er überzeugt.

      Ein Ausrutscher hatte Susanne zu Horst geführt. Sie war in Mysore auf unebenem Gelände mit ihrem rechten Schuh in eine Bodendelle geschlittert, war gestürzt und mit einer Platzwunde am linken Knie aufgestanden. Zwar hatten sie Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial in ihrem Gepäck, aber die Wunde sah so schlimm aus, dass Petra ihr davon abriet, selbst herumzudoktern. Mist! Sie fragte die erste Einheimische, die ihnen entgegenkam, nach der Adresse eines Arztes. Kurz angebunden sagte die nur „Hospital“ und wies mit der Hand in eine Richtung.

      Ein indischer Junge, der sie beobachtet hatte, kam unaufgefordert näher und erklärte in lautem Ton, er kenne den Weg zum Hospital, sie sollen ihm folgen. Susanne schaute dem mageren, ungefähr zwölf Jahre alten Jungen ins Gesicht und wandte sich dann mit einem fragenden Blick an ihre Freundin. Der sehe ehrlich aus, meinte Petra. Darauf lächelte sie den Jungen an und sagte „okay“ und „thank you“.

      Mit dem kleinen Fremdenführer vorneweg erreichten sie nach wenigen Minuten das Krankenhaus. Es war ihr klar, dass der Junge sich für seinen Dienst ein Trinkgeld erhoffte. Die Frage war, wie viel? Ob fünf Rupien genug seien, fragte sie Petra. Die nickte; sie solle es mit diesem Betrag versuchen und sehen, wie der Junge reagiere. Er strahlte, also war es eher zu viel.

      Sie freute sich mit ihm, wenigstens solange, bis sie in die Eingangshalle trat. Dort wimmelte es von Menschen, von großen und kleinen Patienten und deren Angehörigen, und die Luft roch fett nach Schweiß und Wunden. Mit ihren blonden Haaren und ihren hellen, blaugrauen Augen zog sie stierende Blicke auf sich. Das war ihr unangenehm. Sie beneidete Petra, die mit ihren braunen Augen und braunen Haaren auf die Inder weniger exotisch wirkte. Aber ihre helle Erscheinung hatte den Vorteil, dass eine der Inderinnen an der Rezeption sie bemerkte und, nach Rücksprache mit ihren Kollegen, zu sich winkte. Na dann los. Mit viel „sorry“ und „excuse me“ und reichlichem Körperkontakt bahnte sie sich einen Weg durch die gaffende Menge.

      Petra rief ihr nach, sie werde draußen auf sie warten, drinnen würde sie es nicht aushalten.

      Wie sie ihr helfen könne, fragte die Inderin. „Disinfection“ sagte sie und deutete auf die Wunde an ihrem Knie. Durch die vielen Menschen und den Lärm war sie so verwirrt, dass sie keinen vollständigen Satz heraus brachte. Die Inderin bewegte ihren Kopf hin und her. Das war gut, denn diese Geste bedeutete in Indien ja. Ja, sie würde hier verarztet werden. Die Dame schien zu überlegen, wie sie vorgehen solle. Schließlich verlangte sie in strengem Ton ihren Reisepass und schrieb ihre persönlichen Daten in zwei oder drei Bücher. Danach rief sie eine Krankenschwester herbei und trug ihr auf, die Weiße zu dem weißen Arzt zu führen.

      Sein Anblick - groß, athletisch, in einem weißen indischen Gewand - traf sie wie der Hieb eines Boxers. Ihm sei es ähnlich gegangen, gestand er ihr später. Wärme habe seinen Körper durchströmt, als er in ihre strahlenden Augen blickte. Mit Freude entdeckten sie, dass sie beide aus Deutschland kamen.

      Das Bild, wie sie in ihren olivfarbenen Bermuda Shorts auf dem Behandlungsstuhl saß, hatte sie auch nach vielen Jahren noch deutlich vor ihren Augen. Auf seine Frage, ob sie gegen Tetanus geimpft sei, antwortete sie „ja, natürlich“ und kramte ihren Impfpass hervor.

      Die Wunde sei weniger schlimm als sie aussehe, sagte er in einem beruhigenden Tonfall; er müsse sie reinigen und desinfizieren, das würde kurz weh tun. Und so war es dann auch. Sie spürte einen brennenden Schmerz, der sich aber schnell in ein wohliges Kribbeln verwandelte, ausgelöst durch die sanfte Berührung seiner Hände, als diese mit einem Heftpflaster die Wunde bedeckte.

      Sie bedankte sich für die Behandlung und für die Pflasterstücke, die er ihr zum Wechseln zuschob, fragte dann, wie viel das kosten würde.

      Das sei privat und gratis, sagte er und fügte lächelnd hinzu, dass er sie zum Essen einladen möchte.

      Auch noch heute, viele Jahre später, schlug ihr Herz schneller, wenn sie an diese Episode dachte. Sie sei zusammen mit einer Freundin hier, erklärte sie ihm mit einer Miene, die ihr Bedauern nicht verbarg. Dann lade er die Freundin auch ein, antwortete er ohne zu zögern, und verabredete sich mit ihr für sechs Uhr am Eingang des Hospitals.

      Mit wackeligen Knien war sie zu Petra gelaufen und hatte ihr freudig erregt von dem deutschen Arzt berichtet. Er habe sie beide zum Abendessen eingeladen und wolle sich mit ihnen in zwei Stunden hier am Eingang treffen.

      Petra, die gerne selbst die Fäden zog, tat sich schwer, wenn andere für sie entschieden. Sie rümpfte ihre Nase und gab ihre ablehnende Haltung nur zögernd auf. „Petra verdirb mir bitte nicht diesen Abend“, hatte sie in ernstem Ton gesagt, „er ist ein super Typ und wird bestimmt auch dir gefallen.“

      Später, als sie Horst gegenüber saßen und mit ihm redeten, seine positive Ausstrahlung und seine ruhige, auf die Menschen eingehende Art wahrnahmen, fand auch Petra, dass Horst ein besonderer Mensch war. Er hatte sie in ein Restaurant geführt, das bekannt war für ein gutes Tandoori chicken und eher auf moderate Art würzte. Scharf genug für ihren Geschmack. Zu trinken gab es Kingfisher, ein in Bangalore gebrautes Bier. Das Hühnchen kam mit Reis, Joghurt und gebratenen Bananen. Einfach köstlich. Was für ein Unterschied zu dem Gericht von Linsen und Reis, das Petra und sie am Abend zuvor in einer offenen Garküche gegessen hatten.

      Es gab viel zu fragen - woher, wohin, weswegen? - und viel zu erzählen - die prächtigen Bauwerke, die schönen Landschaften, die Vielfalt der Sprachen und Kulturen. Geradezu zwanghaft tauschten sie ihre Eindrücke aus und versuchten Unfassbares, wie die extreme Armut der meisten Menschen, zu verarbeiten. Frauen, Männer, Kinder, die von der Hand in den Mund lebten,