Vielleicht war es Zufall, sinnierte Johann. Ist Zufall Gott?
Das Stadtoberhaupt biss sich an den Umbauten und Anbauten des Theaters fest und schilderte haarklein welcher seiner Vorgänger für welche bauliche Veränderung zu loben sei. Ungeniert gab er eine Banalität nach der anderen von sich. Johann rutschte auf seinem Sessel hin und her, blickte gelangweilt nach links und rechts, sah hier und da jemand gähnen. Leidensgenossen.
Auf den Vortrag von Konstantin Beschle, der irgendwann doch zu Ende ging und mit mäßigem Applaus quittiert wurde, folgte ein Grußwort der Landesregierung, überbracht von der Kultusministerin Monika Müller-Winterhalter, die eigens aus der Landeshauptstadt angereist war. Sie löste bewunderndes Geraune aus, als sie in einem silberfarbenen Abendkleid die Bühne betrat. Apart sah sie aus, groß und schlank, mit kurzen brünetten Haaren und einem von großen braunen Augen und hohen Wangenknochen geprägten Gesicht. Ihre Rede hatte deutlich mehr Schwung als die des Bürgermeisters, und sie fasste sich für eine Politikerin erstaunlich kurz, sagte, sie wolle dem gemütlichen Teil des Abends nicht im Wege stehen.
Laut Programm sollte nun der Theaterintendant eine Brücke zwischen Politik und Schauspiel schlagen. Aber der kam nicht. An seiner Stelle trat ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem großen Kopf und kastanienbrauner Mähne auf die Bühne, stellte sich als Regisseur Sebastian Holzherr vor und teilte mit, dass der Intendant erkrankt sei. Deshalb wollten sie gleich zum nächsten Programmpunkt, den Aufführungen, kommen. Aufführungen seien, wie allen bekannt sein dürfte, der Sinn und Zweck eines Theaters.
Ja, das war allen bekannt.
Schauspieler boten Sketche dar, gespielte Scherze, die die Zuhörer zum Lachen brachten und die langweilige Ansprache des Bürgermeisters vergessen machten. Im letzten Sketch trat Jean-Pierre auf, ein mit einer Baskenmütze als Franzose verkleideter Akteur. Der fabulierte mit französischem Akzent und spöttischem Gesichtsausdruck:
„Ich liebe Deutschland, die schönen Frauen, die herrlichen Landschaften. Ich liebe auch die deutsche Sprache.“ Hier machte er eine Kunstpause, schien nachzudenken, ehe er fortfuhr: „Na ja, manchmal benutzen sie komische Rede-wendungen: Wenn etwas sehr trocken ist, sagen sie, es sei fürztrocken.“
Einige Zuhörer kicherten, was ihn anzufeuern schien, denn er fuhr erregt und teilweise ins Französische fallend fort:
„Mais non, das ist falsch, ein Fürz ist nicht trocken, ein Fürz ist feucht. Ich habe das gemessen.“
Zur Unterstützung seiner Worte zog er ein Messgerät mit röhrenförmigem Feuchtesensor aus der Tasche und zeigte auf die gespeicherten Messwerte: „99,9 Prozent relative Feuchte bei einer Temperatur von 36,8 Grad Celsius. Ich kann diese Messung jederzeit wiederholen – auch hier und jetzt.“ Auffordernd blickte er zu den Honoratioren in der ersten Reihe: „Wenn sie einen Fürz auf Lager haben, kommen sie zu mir auf die Bühne.“ Da sich niemand meldete, schloss er resigniert: „Lauter Feiglinge, kein Interesse an Experimenten. Dann müssen sie mir einfach glauben: Was aus feuchtem Milieu kommt, kann nicht trocken sein.“
Gelächter und Beifall belohnten ihn.
Als der Applaus verklang, erhoben sich die Gäste und strömten vom Theatersaal ins Foyer, einen mit vier Kristalllüstern hell erleuchteten rechteckigen Raum, der durch große Spiegel an den Wänden geräumiger wirkte, als er tatsächlich war. Zum Jubiläum hatte man, finanziert mit Spendengeldern, die Stuckdecke restauriert und den alten ramponierten Parkettfußboden abgeschliffen und neu versiegelt.
Zwischen den beiden zweiflügeligen Türen zum Theatersaal gab es eine fest installierte Theke, hinter der zwei Barkeeper sich bewegten und den Gästen Getränke und Häppchen reichten. Kellnerinnen und Kellner in dunkelblauer Kleidung mit weißer Schürze - für diesen Abend von einer Leiharbeitsfirma angeheuert - schoben sich durch die dicht stehenden Gäste und brachten auf silbernen Tabletts Sekt, Orangensaft und leckere Hörnchen mit Schinken oder Käse zu denen, die nicht bis zur Theke vordringen konnten. Unter ihnen Johann.
Er stand allein herum, bis ein vertrautes Gesicht in einem fliederfarbenen Kleid auf ihn zukam: Lisa, die langjährige Freundin und Geschäftspartnerin von Sophie, seiner verstorbenen Frau. Er begrüßte Lisa mit einem Küsschen auf die Wange. Lächelnd zeigte sie auf den Mann hinter ihr und stellte ihn als ihren Freund Paul vor. An Paul gewandt sagte sie, Johann sei der Mann ihrer Freundin Sophie, mit der sie gemeinsam vor sechzehn Jahren die Marien-Apotheke übernommen habe.
Hallo. Hallo. Johann und Paul sahen sich in die Augen und drückten sich die Hand.
Sie plauderten über das Fest und die fade Rede des Bürgermeisters.
„Das Beste waren die Sketche“, meinte Paul und erntete zustimmendes Kopfnicken.
„Wisst ihr etwas über die plötzliche Erkrankung des Intendanten?“, fragte Johann.
Lisa grinste. „Ja, der hat vor zwei Tagen einen Herzinfarkt erlitten, und peinlich, peinlich...“
Was daran peinlich war, blieb vorerst im Dunkeln, denn mitten im Satz stoppte Lisa, weil Johann so derb von hinten angerempelt wurde, dass er beinahe auf sie gestürzt wäre. Verdutzt drehte er sich um und blickte in die strahlenden Augen einer zierlichen Frau mit blonden hochgesteckten Haaren und Schillerlöckchen an beiden Seiten.
„Entschuldigen Sie bitte, ich musste einer Kellnerin ausweichen“, sagte sie mit einer warmen Stimme.
Er lächelte zurück und erwiderte: „Ich habe überlebt.“ Und dann in einem spontanen Einfall, über den er sich später wunderte, weil er meistens langsam reagierte, hängte er an seine wenig intelligente Bemerkung ‚ich habe überlebt‘ den Satz, „wenn Sie nachher mit mir tanzen, bin ich mehr als entschädigt.“
Sie sah ihn prüfend an, lachte und sagte: „Einverstanden.“ Danach trieb sie in einem Menschenstrom von ihm weg.
Ist heute mein Glückstag, fragte er sich, und blickte in ihre Richtung. Alles an ihr wirkte elegant, ihre Haltung, ihr violettes Kleid, ihr Perlenschmuck. Sie war in Begleitung von zwei Frauen, von denen eine im Theatermilieu heimisch zu sein schien, denn ständig begrüßte sie jemanden und immer mit Bussi.
Lisa, die sofort spannte, dass Johann von der schönen Remplerin fasziniert war, zog ihn auf: „Vielleicht findest du heute eine neue Liebe.“
„Ja, vielleicht“, antwortete er schmunzelnd. Dann kam er zurück auf die Erkrankung des Intendanten. „Du wolltest mir vorhin verraten, was an dem Herzinfarkt des Intendanten peinlich ist.“
„Sein Herz soll im Bett einer jungen Schauspielerin gestreikt haben. Der alte Bock.“
Als wolle er abwiegen, was er gehört hatte, bewegte Johann seinen Kopf langsam nach rechts, dann nach links, und kam zu dem Schluss: Was für ein langweiliger Kleinstadtklatsch. Weil Lisa ihm einen Blick zuwarf, in dem er die Frage: Na was meinst Du dazu? las, lachte er und sagte: „Oh, oh.“
An einer schmalen Seite des Foyers öffnete sich eine breite Tür zu einem Raum, der seit einigen Jahren als Studiobühne diente, bei dem Fest jedoch als Tanzsaal aushalf. Die Wände waren mit Bühnenbildern aus Dramen der diesjährigen Spielzeit dekoriert: Rechts ein belebter, südländischer Marktplatz mit farbenfroh gekleideten Menschen und bunten Obst- und Gemüseständen, links die Kulisse von New York mit Wolkenkratzern und einem Gewusel von grauen Menschen in den Straßenschluchten, und an der Stirnseite eine rotbraune Burg mit einem Ritter, der mit eiserner Hand die Hose runter ließ.
Eine Drei-Mann-Kapelle mit den Instrumenten Klavier, Bass und Schlagzeug fing leise an Evergreens zu spielen. Johann meinte The winner takes it all von ABBA herauszuhören. Die ersten Paare schlängelten sich aus dem überfüllten Foyer hin zur Musik und begannen zu tanzen.
Lisa tuschelte mit Paul, lachte, wandte sich dann an Johann: „Wir gehen, wir wollen nicht tanzen.“
„Okay“,