SIE HABEN SICH ALLEINE GELASSEN GEFÜHLT.
„Ja.“ Und schon wieder rinnen mir Tränen übers Gesicht.
Im Anschluss an diese Geburt wollte ich mich sterilisieren lassen. Die Ärzte rieten mir jedoch davon ab, der Zeitpunkt kurz nach einer Geburt sei nicht günstig.
Ich sehe auf den Zettel, auf dem ich mir die Stunden notiert habe, die Schneider wöchentlich neu festlegt. Ich habe zweimal Dienstag und einmal Freitag aufgeschrieben. Die beiden Stunden am Dienstag müssen ein Irrtum sein. Vielleicht hat er gesagt Montag, Dienstag? Ich gehe also am Montag hin und bin ziemlich sicher, dass das so stimmt. Setze mich wie immer vor die Tür und warte. Schneider kommt, ist überrascht und sieht mich ganz lieb an. Ich werde unsicher: „Bin ich falsch?“
JA, MONTAG IST KEINE STUNDE.
Ich ziehe meinen Zettel aus der Tasche und erkläre, wie es dazu gekommen ist. Er nimmt seinen Kalender und kontrolliert seine Eintragungen.
MONTAG, 8.30 UHR …
Ich unterbreche: „Montag, 8.30 Uhr, Montag nicht.“
A JA, sagt er, MONTAG NICHT, er wirkt verwirrt.
Er erklärt, dass er trotzdem eine Stunde Zeit hätte und fragt, was mir dazu einfällt, während ich verkrampft wie immer daliege.
„Das war ein netter Zug von Ihnen.“
SONST NICHTS? Er wirkt über diese Antwort unzufrieden.
Als ich die nächste Stunde beginne, sage ich, dass mir alles weh tut und erzähle auch von den Präservativen, die Peter gekauft hat. Auf der Packung steht „Mehr Freude für beide“.
IHRE SEXUALITÄT TUT IHNEN WEH und in Schneiders Stimme liegt etwas, das ihm selbst weh tut. BIN ICH NICHT NETT ZU IHNEN?
Ich sage, dass ich ihn mit meinem Vater vergleiche: Immer die Wahrheit sagen.
ICH BIN ABER NICHT IHR VATER, sagt er eindringlich.
Ich sage, dass ich Angst habe, mich in ihn zu verlieben.
WAS WÄRE DA SCHLIMMES DABEI?
Ich meine, ich hätte genug Probleme. Und ich will nicht noch eines hinzufügen, das mir lächerlich erscheint, künstlich. Ich habe gelesen, dass alle Klienten ihre Therapeuten lieben. Ich nicht, sage ich mir, ich will nur Therapie machen. Von aussichtslosen Dingen halte ich mich prinzipiell in sicherer Entfernung.
Zu Hause habe ich ein „unausstehliches Wochenende“. Mein Bruder besucht uns. Christian, der immer in meinem Schatten stand, immer kränklich war, von dem überhaupt nichts erwartet wurde, der als Erwachsener die HTL im Abendstudium absolviert hat, der sehr stolz auf seine Ersparnisse ist: Christian berichtet wieder einmal, wie viel er bereits auf dem Sparbuch hat.
Ich reagiere gereizt: „Du wirst nie begreifen, worauf es ankommt, nie.“ Er verabschiedet sich bald.
Ich erzähle Schneider von meiner Gereiztheit.
DAS IST, WEIL SIE MICH AM WOCHENENDE NICHT SEHEN.
Ich sehe ihn sowieso nicht, weil ich ihn immer noch nicht ansehen kann, aber irgend etwas hat es schon auf sich damit…
Er empfiehlt mir einen netteren Umgang mit meinem Bruder: SCHLIESSLICH WOLLEN SIE, DASS ER WIEDER KOMMT.
Bis jetzt habe ich bei Schneider nur Frauen gesehen. Vielleicht ist er auf Frauen spezialisiert? Seine Patientinnen sind alle ziemlich schlank, wahrscheinlich mag er keine dicken. Zwei Mal in der Woche treffe ich ein blondes Mädchen, das ich sehr hübsch finde. Sie ist ein ganz anderer Typ als ich und ich spüre so etwas wie Eifersucht. An einem Tag habe ich vor ihr Therapie, am anderen nach ihr.
Wenn ich aus Schneiders Zimmer komme, sieht sie mich jedes Mal groß an. Wenn sie rauskommt, sehe ich immer beiläufig weg.
An Tagen, an denen sie vor mir ihre Stunde hat, fängt meine Stunde immer ein paar Minuten später an, und das ärgert mich. Schneider hat zu Beginn gesagt, er würde sich bemühen, pünktlich zu sein. Falls er später dran sei, würde er die Stunde anstückeln. Ich höre jedes Mal genau zu der Zeit auf, zu der meine Stunde zu Ende wäre, wenn sie pünktlich begonnen hätte. Und ich höre ein paar Minuten früher an den Tagen auf, an denen das blonde Mädchen draußen wartet.
SIE HABEN NOCH EIN PAAR MINUTEN.
„Draußen wartet sowieso schon jemand.“
ICH KANN MIR MEINE ZEIT SELBER EINTEILEN, sagt er verärgert.
Peter hat einen Freund, dessen Frau Viktoria in der Terroristen-Szene bekannt ist. Die beiden wissen, dass ihr Telefon von der Polizei abgehört wird. Seit Peter mir das erzählt hat, mag ich Viktoria nicht mehr.
Einmal kommt sie zu uns und geht sofort mit Peter in ein anderes Zimmer. Wenige Tage später gibt sie mir ein Kuvert für ihn, das zusätzlich mit einem Klebeband verschlossen ist. Ich lege es auf seinen Schreibtisch.
In der drauffolgenden Woche suche ich Briefmarken und in einer Lade, ganz oben auf, liegt dieses Kuvert. Ich bin neugierig und sehe hinein. Der Inhalt besteht aus einem Führerschein, einem Personalausweis (der auf einen anderen Namen lautet), einem Foto und 100 S.
Peter arbeitet in einer Druckerei, mir ist sofort alles klar.
Ich verstehe nicht, dass er bei so etwas mitmacht. Auf Viktoria bin ich böse, dass sie sich an ihn wendet, seine Gutmütigkeit ausnützt. Wenn das Ganze schief geht, ist er der erste, den man verdächtigt. Am liebsten würde ich alles auffliegen lassen. Wenn ich nur wüsste, wie ich Peter heraushalten kann. Ich habe Angst.
Als er abends nach Hause kommt, mache ich ein Theater:
„Scheiß-Terroristen! Du machst einen Ausweis, damit so ein Kerl ein paar schuldlose Leute in die Luft fliegen lassen kann. So etwas würde ich nicht einmal für 10.000 S machen!“
„Die 100 S sind fürs Klischee“, klärt er mich auf.
Ich heule vor Verzweiflung. „Wenn du wieder im Häfen sitzt, werde ich keine Zeit haben, dich zu besuchen. Denkst du bei solchen Sachen auch an dein Kind?“
Peter meint, er habe seinem Freund zuliebe zugesagt.
Den Ausweis macht er dann doch nicht. „Der Mann schaut so blöd aus“, ist seine Begründung.
Viktoria ruft noch ein paar Mal an, Peter ist die Sache unangenehm. Schließlich sagt er, er hätte die Schrift nicht und entschuldigt sich wortreich.
IHRE SITUATION IST ZIEMLICH VERFAHREN.
„So empfinde ich das auch.“
„Auf seinen Bruder ist er eifersüchtig“, ich erinnere mich an eine meiner ersten Streitereien mit Peter:
Wir waren zu seiner Mutter gefahren, sie wollte mir beim Abschied ein paar Hunderter fürs Benzin in die Hand drücken. Meine Schwiegermutter gibt ihren beiden großen, kräftigen Söhnen jedes Mal Geld, wenn sie kommen. Ihr ist es ein Bedürfnis und den Söhnen ist es nicht einmal peinlich, von einer alten Frau, die ihr ganzes Leben geschuftet hat, Geld zu nehmen.
Ich hatte damals noch wenig Überblick über die Familienverhältnisse und nahm das Geld nicht. Daraufhin gab sie es Peter, der die Hunderter wie selbstverständlich einsteckte. Ich war wütend: Er hatte Geld fürs Benzin genommen,