Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
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Mike sie auf eine kleine Plattform neben der Treppe dirigierte, weg von der Masse der Schlafenden, die sich auf der anderen Seite aneinanderreihten. Sie schliefen auf Stroh, das die sie unter sich aufgehäuft hatten. Der Boden zwischen diesen Schlafinseln war nacktes Holz. Für Decken musste jeder selbst sorgen, viele hatten sich nicht zugedeckt. Ihre Habe hatten sie am Kopfende abgelegt, jederzeit erreichbar, falls sich jemand daran zu schaffen machte. Sofern der den Schläfer noch wach werden ließ.

      Mike ließ sie neben der Treppe stehen und ordnete das Stroh auf dem Boden. Am Ende hatte er eine gleichmäßige handspannendicke Schicht zusammengescharrt. Seinen Tornister hatte er abgestellt und öffnete ihn nun. Nach einigem Kramen förderte er eine dünne Decke aus einem Gewebe zutage, das Julia nicht kannte, und warf sie geschickt über das Stroh aus. Auf dem Schlafplatz kniend, schob er den Tornister von der Treppe fort an den Rand der Plattform und lehnte ihn dort an die Wand. So konnte sich niemand an dem Rucksack zu schaffen machen.

      Julia sah nun, dass ihr Platzangebot war größer als das jeden anderen Schläfers.

      Er bemerkte ihr Erstaunen darüber.

      »Für diese Bequemlichkeit musste ich auch einen höheren Preis bezahlen. Aber das war es mir wert.«

      Sie war ihm dankbar dafür.

      Zusammen mit der Decke über dem Stroh hatte er noch zwei kleinere aus dem Tornister gezogen, eine reichte er ihr als Zudecke. Voneinander abgewandt entkleideten sie sich bis auf die Leibwäsche. Julia schlüpfte unter ihre Decke und wickelte sich darin ein, bevor Mike sich ausgezogen hatte. Die Decke kratzte. Sie rollte mit den Augen und fragte sich, ob sie darunter überhaupt Schlaf finden konnte. Er legte sich neben sie und blickte sie an. Sie schaute über ihn hinweg, als ob sie ihn nicht wahrnähme, und beobachtete die anderen Schläfer. Der Anblick derer, die keine Decke hatten, brachte ihr die Überzeugung, dass sie die einzigen waren, die Leibwäsche überhaupt kannten. Alle anderen schliefen in ihren Kleidern. Nun kannte sie mit Gewissheit den Ursprung des strengen Geruchs in der Gaststube und anderswo, wo sich Menschen versammelt hatten. So fiel ihr der Vorfall mit den vier Kerlen bei ihrem Eintreffen im Dorf wieder ein, und sie spürte Panik in sich aufsteigen.

      Ohne sich dessen bewusst sein zu können, weckte Mike sie aus ihren trüben Gedanken. Er wünschte ihr eine gute Nacht und fragte sie halblaut, ob sie noch das Bedürfnis hätte zu reden und ob sie ihm ihre Fragen jetzt oder erst morgen stellen wollte.

      Es dauerte lang, bis sie sich entschieden hatte. Sie drehte sich auf den Rücken und betrachtete den hölzernen Dachstuhl, dessen Balken sich an einigen Stellen durchbogen. Lücken hatten sich in das Dach gefressen, die Schindeln waren wohl vom Wind abgetragen worden. Erkennen konnte sie nichts. Keinen Mond, keine Sterne. Als ob der Nebel die Scheune auch von oben eingehüllt hätte. Ihr Schlafplatz hatte dank des darunter ruhenden Viehs eine für die Nacht recht annehmbare Temperatur. An den Geruch hatte sie sich nach kurzer Zeit gewöhnt.

      »Wo bin ich? Wie komme ich wieder heim?« waren ihre am meisten drängenden Fragen.

      »Das Land heißt Siebenreich. Den Namen sollen ihm vor Menschengedenken die sieben Stammesführer gegeben haben, die sich im Krieg gegen ihre Feinde zusammenschlossen und dazu ihre Stammesgebiete zusammenlegten.«

      Er setzte sich auf, winkelte die Beine an und schlag die Arme um seine Knie.

      »Soweit ich gehört habe, ist genau dieser Jahrhunderte lang vergessene Krieg jetzt wieder aufgeflammt.«

      Es folgte eine Pause, bevor er im Flüsterton fortfuhr.

      »Siebenreich ist ein Königreich. Frag mich nicht, wie der König heißt! Die einen sagen, er sei verschollen oder vor dem Krieg geflohen, und der Statthalter von Königstein würde regieren. Andere erzählen, er befehlige die Truppen im Norden, denn nur er sei in der Lage, die konkurrierenden Soldaten und Magier zum gemeinsamen Vorgehen zu bewegen. Auf jeden Fall ist langsam auch hier die Wirkung des Krieges zu spüren. Keine Hungersnot, aber marodierende Orks und Goblins. Das macht auch diese Gegend unsicher. Und der Abzug der Landsknechte nach Norden begünstigt Raub und Wegelagerei durch Räuberbanden. Alles in allem finsteres Mittelalter.«

      Er schaute sie an. Sie hatte sich auf die Seite gerollt, blickte ihn fest an. Seine Worte sog sie auf wie ein Schwamm. Immerhin beschrieb er gerade, was das Schicksal ihr zugedacht hatte.

      »Orks und Goblins? Gibt es die wirklich? Ich dachte, das wären Erfindungen von Märchen-Autoren, um ihre Bücher zu füllen.«

      Bei seinem Lachen erkannte sie die Reihe weißer Zähne, die sich vom Halbdunkel abhoben.

      »Abgesehen davon, dass es sie gibt, sind sie eine echte Plage. Ich rede jetzt nicht vom Krieg. Der ist für hiesige Verhältnisse weit weg – noch. Ich rede davon, dass sie von den Morgenbergen her einsickern. Bis jetzt überfallen sie nur einzelne Höfe und kleine Dörfer, die sich überraschen lassen. Ihre militärische Struktur ist einfach, mit Masse triffst du auf einfältige Schläger. Sie sind aber geschickt mit ihren krummen Schwertern, sie sind stark und brutal. Alle. Ihre Grausamkeit habe ich erst mit der Zeit erkannt. Seitdem versuche ich, sie zu erlegen, wo immer sie in meiner Nähe auftauchen.« Ein kurzes Seufzen unterbrach seine Erzählung. »Deswegen will ich auch nach Süden. Im Norden kann ich wenig ausrichten, da sind schon die Soldaten und Magier. Sie und die Zwerge aus der nördlichen Tundra nehmen die Orks in die Zange. Ich hoffe, sie halten sie noch lange auf. Weiter im Süden sind es nur einzelne Trupps. Bis jetzt bin ich mit ihnen fertig geworden. Aber ich brauche eine Basis.«

      »Militärische Struktur?« Sie schaute ungläubig. »In den Filmen sind das doch hirnlose Horden, die ohne erkennbares Ziel einfach das Land überschwemmen.«

      »Mitnichten.« Er lachte heiser, wusste er es doch aus Erfahrung besser. Nun glaubte er, sie mit dieser Erwiderung zufriedengestellt zu haben. Eigentlich kein Thema, für das sich eine Frau interessiert, wunderte er sich, als sie doch nachhakte. Das irritierte ihn. Kopfschüttelnd gab er nach. Ihm leuchtete ein, dass sie so viel wie möglich über ihre neue Umgebung wissen wollte, auch wenn sie sicherlich nicht alles behalten würde.

      »Fünf Kämpfer, Orks und die beweglicheren Goblins zusammen, bilden einen Trupp. Wenn ich also von Orks rede, sind fast immer Goblins dabei. Drei Trupps bilden einen Zug. Mit dem Zugführer, seinem Schamanen und den Meldern um die zwanzig Krieger. Vier Züge sind eine Kompanie. Dazu kommen Kompanieführer, eigene Schamanen und der Tross, also über hundert Mann. Von einer größeren Truppe habe ich noch nichts gehört.«

      Er holte Luft.

      »Ich bin bisher nur auf Trupps gestoßen und einmal auf einen Zug, der im Begriff war, einen Bauernhof zu überfallen. Die Trupps hatten sich getrennt, um den Hof von zwei Seiten anzugreifen. Ein Fehler.« Was er damit meinte, ließ er offen.

      »Das reicht jetzt über Orks«, beendete er das Thema. »Kommen wir nun zu deiner großen Frage!«

      Sie wusste nicht, ob er nur eine Kunstpause machte oder ob er sich seine Gedanken zurecht legen musste. Sie rollte sich auf den Bauch, stützte sich auf die Ellenbogen. Ihr Kinn lag auf ihren gefalteten Händen. Sie sah ihn direkt an. Er hatte sich gerade auf den Rücken gelegt.

      »Also«, begann er, »du gehst spazieren und stehst auf einmal im Wald. Ist mir genauso gegangen. Vor rund zwei Jahren. Du bist durch ein magisches Tor marschiert. Das merkst du aber erst, wenn du durch bist, dich umdrehst und nicht mehr zurück findest. Du läufst hin und her auf dem Weg, den du glaubst gekommen zu sein. Läufst ein paarmal um die Bäume, von denen du meinst, dass sie das Tor bilden. Schüttelst den Kopf über deine blöden Fantasien und weißt nicht weiter. Das passiert dir, egal, ob du allein bist oder mit anderen zusammen. Nicht alle aus deiner Gruppe müssen mit durch das Tor gegangen sein. Von meiner Gruppe fehlten die meisten.«

      Die Erinnerung daran, wie er selbst hierhergekommen war, ließ seine Stimme zittern.

      Julia konnte seine Anspannung förmlich spüren.

      Er richtete den Oberkörper halb auf und ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken.

      »Irgendwann hältst du es nicht mehr aus, und du fängst an zu rennen. Egal, wohin, schließlich