Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
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nahm einen langen Zug, bevor er wieder ins Grübeln verfiel. Wie so oft analysierte er auch jetzt seine eigene Situation und verband sie mit dem eben Gehörten. Sein beinahe stummes Selbstgespräch bekam niemand mit.

      »Bist du deiner Aufgabe jetzt noch gewachsen? Sie wird von Tag zu Tag schwieriger, verlangt mehr Beweglichkeit und noch mehr Vorsicht. Aber froh kannst du sein, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben. Du hast dich angepasst, eingelebt. Die ersten Erlebnisse in diesem Land waren ja nicht gerade geeignet, dich auf ein langes Leben hoffen zu lassen, mittlerweile ist deine Zuversicht aber sicherlich gerechtfertigt. Das Klima tut dir gut, ebenso die Bewegung in der freien Natur. Dazu kommt Magie als Naturgesetz. Dem ist wohl zu verdanken, dass du dein Alter nicht mehr spürst. Dein Gehör ist geschult, es ist, als wären die durch deinen Tinnitus unterdrückten Frequenzen wiedergekehrt. Und abgenommen hast du fernab deiner alten Zivilisation, bist beweglich und ausdauernd.« Er lachte kurz auf. »Kein Wunder, wenn du jeden Tag meilenweit läufst!« Seine Brauen zuckten. »Verdammt! Trotzdem will ich endlich einen festen Platz. Einen Rückzugsort, an dem ich meine Ruhe finde.« Er seufzte kurz, straffte die Schultern und setzte sich wieder gerade. »Wenn ich alles erledigt habe.«

      Sein immer noch sonnengebräunter Teint kontrastierte gefällig mit dem hellen Haar. Er fand, mit seinem Haar, Oberlippen- und Kinnbart, alles weiß und zu lang, sah er aus wie Buffalo Bill Cody in seinen späten Jahren. Unwillkürlich schmunzelte er, als er sich klarmachte, dass mit diesem Vergleich hier niemand etwas hätte anfangen können. Während er fast der einzige Gast war, der sich so gut wie täglich rasierte, hatte er Schwierigkeiten, eine brauchbare Schere aufzutreiben. Dass seine Bräune an anderen Körperstellen nachließ, bedauerte er. Das Klima wie auch sein unruhiges Leben versagten ihm die ausgedehnten Sonnenbäder, die er früher so genossen hatte. Seine Eitelkeit musste er wohl ablegen.

      »Du fühlst dich bedeutend jünger als Ende fünfzig. Im Grunde kannst du zufrieden sein. Mit der Welt und mit dir selbst.«

      Er verschränkte die Hände hinter dem Nacken und lehnte sich entspannt zurück.

      3.

      Die Tür des Wirtshauses stand offen. In ihrer Nähe fand ein beschränkter Luftaustausch statt, weshalb die Gäste sich eng beieinander stehend mit Vorliebe dort aufhielten.

      Aus Gewohnheit hatte der Fremde die Tür im Blick. Nun sah er, wie sich eine Frau von der Seite in den Türrahmen schob, scheu, unentschlossen. Sie machte keine Anstalten, den Gastraum zu betreten, sondern drückte sich halb drin, halb draußen unter dem Vordach herum. Er beobachtete sie ohne besonderes Interesse, zumal er gegen das helle Viereck und durch die Menschengruppen hindurch nur einen Teil ihrer Silhouette wahrnahm und weder ihr Alter noch sonstige Details ausmachen konnte. Die Dämmerung spendete draußen mehr Licht, als die schummrige Schankstube hergab.

      Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck und schob sich an einer keifenden Bauersfrau vorbei, die ihren schwankenden und lallenden Mann mit leichten Schlägen und Kopfnüssen ins Freie dirigierte.

      Sie hatte den Gastraum betreten und stand jetzt im Licht einer der Lampen, die von eingedicktem Tierfett gespeist wurden und die mehr Qualm als Helligkeit abgaben. Um sie herum verstummten die Gespräche. Die Männer und die wenigen Frauen begafften sie ohne Zurückhaltung, einigen stand der Mund offen.

      Aus ihrer starren Haltung schloss er, sie sei sich ihrer Situation bewusst und hoffe, nur angestarrt, aber nicht begrapscht zu werden. Er schätzte sie auf Anfang fünfzig und bewunderte ihre tadellose Figur.

      »Aber wer hat die nur angezogen?« murmelte er überrascht. Dann setzte er sich gerade, als ob er sie so noch besser sehen könnte.

      Das geblümte helle Sommerkleid aus einem locker fallenden Stoff war an mehreren Stellen eingerissen, am Saum fehlte ein Stück. Ihr Kleid war aus seiner alten Welt! Nun endlich schenkte er ihr die Aufmerksamkeit, die ihr Auftritt verdiente. Offensichtlich hatte sie schon bessere Zeiten erlebt. Aus ihrem ergrauten Haar wuchs die Tönung heraus, sie hatte es wohl nur mit den Fingern halbwegs geordnet. Sie trug keine Strümpfe, weshalb ihm ihre blutigen Beine auffielen. Seine Erfahrung sagte ihm, dass sie einen längeren Weg durch Wald und Flur hinter sich gebracht haben musste. Wäre sie jünger gewesen, hätte er sie hübsch genannt, so lief sie unter gut aussehend. Sie passte ebenso wenig hierher wie er selbst.

      Sie atmete tief durch, richtete sich aus ihrer gebeugten Haltung auf und zog die Schultern zurück. Sie reckte den Hals und sah sich nach einem freien Sitzplatz um. Sekundenlang blieb ihr Blick am letzten Tisch hängen, dem einzigen, an dem sich die Zecher nicht drängten, dann schritt sie auf ihn zu, zwischen den Gruppen hindurch. Dem Tisch in der dritten Nische kam sie zu nah.

      »Schätzchen, bleib hier!«

      Der am Gang sitzende Kerl packte sie mit seiner Rechten. Seiner groben Kleidung nach zu urteilen, an der Erde und Rinde hafteten und die nach Holz und Rauch roch, schien er Holzfäller oder so etwas Ähnliches zu sein. Sich seinem Griff um ihre Taille zu entwinden, brachte sie nicht fertig. Er zog sich an ihr halb in die Höhe. Frauen galten bei diesen wilden Kerlen als Freiwild, besonders, wenn sie ohne Begleitung waren und hilflos wirkten. Die anderen auf seiner Bank johlten und ermunterten ihn durch zweideutige Zurufe. Sie wehrte sich, zappelte, und beide plumpsten auf die Bank, sie kam auf seinem Schoß zu sitzen. Er grinste zufrieden. Genau so hatte er sich das vorgestellt.

      Im Beifall für den Kerl verhallte ihr Protest ungehört. Sie zitterte. In der kurzen Zeit, die sie in dieser Gegend verbracht hatte, hatte sie Schreckliches mitbekommen, zum Glück aber nicht selbst erlebt. Das stand ihr nun wohl bevor.

      Der Fremde hatte die Entwicklung kommen sehen. Als die beiden auf die Bank fielen, stand er schon neben ihnen.

      »Schluss jetzt! Lass die Frau los!«

      »Was geht … dich das an? Kümmer´ dich … um dein´ eigenen Kram«, kam es unwirsch zurück. Der Alkohol ließ ihn stammeln.

      Für seine versuchte Hilfeleistung erntete der Fremde rundum Gelächter. Schließlich hatte sich der Unhold vorhin nur halb aufgerichtet und schon dabei eine hünenhafte Statur gezeigt. Im Stehen würde er den Fremden gut und gern um Haupteslänge überragen. Außerdem hatte er Muskeln wie Seilstränge, und die Kerle am Tisch waren seine Kumpane. Doch der Fremde ließ sich nicht beirren. Ruckartig riss er die Frau aus seinen Armen und zog sie neben der Bank auf die Beine. Langsam überwand der Hüne seine Überraschung. Schwerfällig schob er sich aus der Bank, fand sich jedoch sofort an beiden Schultern unsanft zurückgedrückt. Sein zweiter Versuch scheiterte ebenso kläglich. Mit wildem Blick zog er nun unter dem Tisch ein schartiges Messer. Unübersehbar waren die Blutrinne und eine schwarze Kruste vom Heft bis zur Spitze. Sicherlich stammte sie nicht vom Verzehr des letzten Bratenstücks.

      »Kerl, ich bring´ dich...« Den Satz brachte er nicht zu Ende. Der Mund stand ihm offen, sein eben dunkelrot angelaufenes Gesicht verlor alle Farbe. Vor Schrecken gelähmt starrte er auf sein Bein, sah es schon verloren. Orkschwerter mit ihrer Schärfe und ihrem Gewicht hatten einen schrecklichen Ruf. Einmal in Schwung, waren sie durch nichts aufzuhalten. Der Fremde hatte, anstatt sich aus der Reichweite des Messers zu retten, in einer einzigen flüssigen Bewegung eins der Schwerter gezogen und von der dicken Tischplatte die Ecke abgeschlagen. Die Klinge verharrte eine Handbreit über dem Bein.

      Der Wirt hatte schon Ärger gewittert, als der Fremde sich erhoben hatte. Er hatte sich von seinem Aussichtspunkt abgestoßen und sich ihm nachgedrängt. Nun wippte er nervös von einem Fuß auf den anderen und traute sich nicht einzugreifen angesichts des fürchterlichen Schwerts. Noch schwerer wog der Umstand, dass ein Mensch diese zu schwere Waffe so virtuos beherrschte. Niemand hatte bemerkt, dass der Fremde sein Handgelenk auf dem Oberschenkel abgestützt und den Schwung gezielt aufgehalten hatte. Er seinerseits hatte den Wirt kommen gesehen, drehte sich zu ihm um und lachte ihn an. Dabei zeigte er ein Gebiss, das für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich war. Zumindest für jemanden in seinem Alter, das ohnehin nur die wenigsten erreichten. Seine Zähne waren ordentlich ausgerichtet, fast weiß und so gut wie vollzählig, nicht die bräunlichen Stummel, die einem hier üblicherweise blieben. Deutlich waren nun im Licht auch die beiden Narben zu sehen, die sich von seiner Schläfe bis an