Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
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Weil immer wieder jemand in seltsamen Kleidern – so wie du jetzt und früher ich – hier aufschlägt, sich nicht zurechtfindet und lauter komische Fragen stellt. Was ist das hier? Wieso ist alles anders? Wie komme ich zurück? Ganz selten triffst du jemanden von drüben. Die meisten, die hier gelandet sind, fühlen sich gestrandet, sind depressiv und weigern sich, dies hier als Realität anzuerkennen. Naja, das Leben hier macht es einem ja auch nicht gerade leicht. Krieg, Orks, Magie. Da stehen die Leute dann neben sich. Die wenigsten sind noch vernünftig. Deswegen habe ich dich vorhin auch zu mir rübergezogen. Allein kommst du hier nicht zurecht. So, und nun zum Rückweg! Richte dich mal auf einen längeren Aufenthalt ein. Der kann ein Leben lang dauern. Auch hier soll es magische Tore geben. Mir hat man nur den Standort von einem einzigen beschrieben. Und das auch nur ganz vage. Es liegt mitten im Orkland, in einer steinigen Wüste weit ostwärts der Berge, durch die die Orks auf das Schlachtfeld strömen. Das heißt, solange Krieg herrscht, gibt es kein Durchkommen. Außerdem …« Er zögerte, als fürchte er sich davor weiterzusprechen. »Außerdem, wer weiß schon, was auf der anderen Seite liegt? Landest du wieder in Freiburg, oder führt dich das Tor in ein urzeitliches Land mit Sauriern? Oder triffst du auf Mad Max und Aunt Entity mit ihrer Donnerkuppel? Ich mag gar nicht dran denken. Sogar ich hab´ Angst davor. Hier leben wir wenigstens!«

      Er versank für eine Weile stumm in Grübeleien. Er hatte ihr alles erzählt.

      »Tut mir Leid, dass ich so wenig Trost für dich habe. Aber je eher du dich mit dem Gedanken anfreundest, erst mal hier bleiben zu müssen, umso schneller gewöhnst du dich daran und verzweifelst nicht.«

      Sie starrte ihn an. Sein Bericht war unglaublich. Unerhört. Dennoch hatte sie nicht den Eindruck, er habe ihr Hirngespinste aufgetischt. Aber sie brauchte Zeit, seine Erzählung zu verdauen.

      Sie wickelte sich in ihre Decke, schlang die Arme rund um sich, drehte ihm den Rücken zu und flüsterte.

      »Halt mich fest! Ich brauch´ das jetzt.«

      Er drehte sich zu ihr auf die Seite und legte seinen freien Arm um den Kokon, in den sie sich eingesponnen hatte. Die Berührung erweckte ein Gefühl der Begehrlichkeit. Er unterdrückte die Regung, obwohl Julia ihm gefiel. Die Mission, der er sich insgeheim zur Rettung Siebenreichs verpflichtet hatte, war zu gefährlich, als dass er ein Verhältnis hätte eingehen dürfen. Obwohl er spürte, dass sie trotz ihrer Erschöpfung noch lange wach liegen würde, schlief er bald ein. Er kannte das ja mittlerweile alles und hatte seinen Frieden mit dieser Welt geschlossen. Aber wie würde sie mit alldem umgehen? Sie brauchte Schutz. Wie konnte er ihr helfen? Wollte er das überhaupt?

      7.

      Es musste kurz nach drei sein. Das sagte ihr zumindest ihr Gefühl, als sie aus ihrem unruhigen Schlaf tauchte und durch die kaum geöffneten Lider in das Halbdunkel schaute. Sie drehte sich um und wollte ihren Radiowecker befragen, aber keine roten Ziffern leuchteten ihr entgegen. Stattdessen schirmte ein Schatten sie in dieser Richtung ab. Nach Betasten und Nachdenken erkannte sie ihren Tischgenossen vom Vorabend. Zuerst fragte sie sich, wie viel sie getrunken hatte, denn es war wohl das erste Mal seit zu langer Zeit, dass sie jemanden über Nacht zu sich nach Hause mitgenommen hatte. Die Erinnerung an ihre neue Realität traf sie wie ein Schlag vor den Kopf. Erschrocken fuhr sie hoch. Der Verlust der alten Welt und der alten Gewohnheiten schockierte sie, aber in dieser Nacht konnte sie nichts daran ändern. Sie legte sich wieder auf die Seite, schlang die Arme um ihre Knie und wartete mit leisem Schluchzen auf den Schlaf. War das alles wirklich wahr? Und wie oft würde sie sich noch in ihre alte Umgebung zurückwünschen?

      Als sie wieder aufwachte, fand sie sich allein auf ihrem Lager. Ihr Herz raste vor Panik, er habe sie allein zurück gelassen. Nicht nur, weil sie ihn inzwischen sympathisch fand. Sie war nach seinem Bericht in der Nacht zu dem Schluss gekommen, dass sie ihn brauchte. Wenn sie überleben wollte, wozu sie sich nun fest entschlossen hatte. Und zurück nach Freiburg! Sie war überzeugt, er könne ihr helfen, auch, wenn er es selbst noch nicht glauben wollte. Sie würde es ihm schon beibringen.

      Als sie die Decken um und unter sich fühlte und den Tornister neben sich stehen sah, beruhigte sie sich wieder. Durch die Lücken im Dach lugte ein blauer Himmel, der Heuboden war in Zwielicht getaucht, in dem sie nun Einzelheiten erkennen konnte. Unendlich viele kleinste Teilchen von Stroh schwirrten schwerelos durch die Luft und glitzerten, wenn sie in einen der Sonnenstrahlen gerieten, die durch die Ritzen zwischen den Schindeln herein fanden. Der Anblick verursachte bei Julia einen Niesreiz, allergisch war sie keineswegs. Sie lag allein auf der ganzen Fläche, die übrigen Schläfer hatten ihre Habseligkeiten zusammengeklaubt und waren verschwunden. Die ihr gegenüber liegende Seite des Heubodens war nach außen offen. Von dort glaubte sie den Geruch von frischem Brot wahrzunehmen. Das machte ihr klar, dass sie lange geschlafen haben musste.

      Sie fuhr zusammen. In diesem Moment steckte Mike den Kopf in ihren Schlafplatz. Er stand weiter unten auf der Treppe, seine nassen Haare klebten ihm am Kopf. Er war angezogen. Er stieg vollends die Treppe hoch, wünschte ihr einen guten Morgen und beugte sich über sie, um seinen Tornister über sie und das Schlaflager hinweg zu sich zu ziehen. Er zog eine lederne Hose und sein zusammengerolltes Lederhemd heraus und reichte ihr beides.

      »Das steht dir besser als das dünne Fähnchen von gestern. Ist zwar ein paar Nummern zu groß, aber da achtet niemand drauf.«

      Jetzt erst gewahrte sie, dass ihr Kleid nicht mehr über dem Geländer hing. Stattdessen erkannte sie einen Zipfel des Stoffes in einer Tasche des Tornisters.

      »Vorher will ich mich waschen. Eine Dusche wäre noch besser«, gab sie zurück, während sie ihm Hemd und Hose aus der Hand nahm.

      »Gibt´s unten im Hof«, erklärte er ihr mit schelmischem Lachen, »zwei Waschtröge für zwanzig Mann, gemischter Freilicht-Waschraum.«

      »Waaas?« Sie war entsetzt. Das fehlte noch, dass alle ihr bei der tagelang vermissten Körperpflege zuschauen konnten! Sie richtete sich auf und stieg in die Hose. Dann schnüffelte sie an dem Hemd, zog die Nase kraus und zog es trotzdem an. Sorgsam achtete sie darauf, alle Knebel zu schließen. Sie drehte ihm den Rücken zu.

      »Komm frühstücken!« Er grinste immer noch.

      »Was gibt es? Und einen Kaffee brauch´ ich!«

      »Das gleiche wie gestern Abend. Oder statt Fleisch etwas Honig. Die haben hier auch eine Biene«, flachste er. »Kaffee kannst du dir abschminken, den kennt man in dieser Welt nicht. Zu trinken gibt es etwas, das an Pfefferminztee erinnert. Ich war schon unten und hab´ eine Wegzehrung in Auftrag gegeben. Wir sollten bis Mittag aufgebrochen sein, um unser Tagesziel zu erreichen. Es sei denn, du willst hierbleiben.«

      »Wohin gehen wir?«

      »Königstein. Du triffst vielleicht die Alte wieder, von der du gestern erzählst hast. Außerdem kann man da vernünftig einkaufen, und es ist sicherer. Du bleibst dann dort. Ich will weiter nach Süden, und in Königstein werden gerade von den Bürgermeistern aus dem ganzen Land Orkjäger angeheuert. Vielleicht schaff´ ich´s ja, mich an die Südgrenze verpflichten zu lassen.«

      Inzwischen hatte er die Decken ausgeschüttelt und in seinem Tornister verstaut und war schon auf dem Weg die Treppe hinab.

      Sie folgte ihm auf den Fersen, ging aber vor der Scheune auf Abstand. Sie erinnerte sich, dass sie am Schauplatz des nächtlichen Überfalls vorbei mussten und scheute sich davor. Schließlich gab sie sich einen Ruck und schloss zu ihm auf. Am Tatort angekommen, gewahrte sie Reisende wie Gesinde um die beiden Toten herum stehen. Die hatte man inzwischen aus ihrer Körperhaltung gelöst, in der sie zusammengesunken waren. Die Totenstarre war vorüber. Sie lagen nun hintereinander längs des Zaunes ausgestreckt. Die Umstehenden waren ratlos darüber, wie zwei Leichen, die keinerlei Verletzungen aufwiesen, unbemerkt im Gehöft abgelegt worden sein konnten. Dass sie hier gestorben sein mochten, daran dachte man nicht. Schließlich waren sie hier unbekannt. Man reimte sich die ersten Gerüchte zusammen.

      Sie drängten sich an den Neugierigen vorbei und betraten die Gaststube. Unterwegs hatte er ihr den Platz zum Waschen gezeigt. Nackte oder halbnackte Männer und Frauen zankten sich um einen freien Platz an den hölzernen