Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
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aufgebrochen. Eine Wanderung im Allgäu, kein Klettern, kein Kraxeln. Nach einem Frühstück auf einer Alm, die Verpflegung hatten wir in unseren Rucksäcken dabei, hatte sich die Gruppe auseinandergezogen. Ich hatte mich mit ein paar Kollegen und ihren Ehefrauen an die Spitze gesetzt. Obwohl vorher schon die nächste Wiese durchgeschimmert hatte, erwies sich ein Wäldchen plötzlich als unendlich. Da erst entdeckten wir den natürlich gewachsenen Torbogen, durch den wir gerade marschiert waren: Zwei mächtige Bäume mit ineinander verschränkten Kronen. Eben noch hatten wir uns mit der Gruppe hinter uns unterhalten, und nun waren wir schlagartig allein! Alles Suchen und Rufen fruchtete nichts, unsere Mobiltelefone brachten keine Verbindung zustande. Übernachten mussten wir auf dem Waldboden. Am zweiten Morgen wurden wir immer noch im Wald wach. Besser gesagt: Wir wurden geweckt. Von einer Überzahl grobschlächtiger Gestalten.«

      »Holzfäller? Räuber? Die musst du mir genauer beschreiben!«

      »Klar«, gern ging er auf ihren Wunsch ein. »Alle waren mehr als mannsgroß. Schultern und Hüften breit, Brustkorb voluminös, die Beine stämmig, die Arme kräftig, und Hände wie Schraubstöcke. Alle trugen derbe Kleidung aus grobem Stoff mit Leder- oder Fellbesatz, dazu die meisten eiserne Harnische und flache Helme. Die Füße steckten in gebundenen Stiefeln aus Fell oder grobem Leder. Ihre Gesichter waren rundlich mit einem Teint zwischen hellbraun und gelblich-oliv. Unter der fliehenden Stirn schauten kleine Augen neben einer breiten Nase über runde Wangen. Der Mund war breit, und alle hatten sie einen ausgeprägten Unterbiss. Nicht nur deshalb verstand ich ihre gutturale Sprache nicht, ich hatte sie noch nie gehört gehabt. Starke Körper- und Gesichtsbehaarung hatten alle. Dem Körpergeruch nach Schweiß und Urin war nicht auszuweichen. Jeder trug ein Schwert mit gezahnter Klinge, die unterhalb der hakenförmigen Spitze um drei Fingerbreit nach hinten versprang.«

      Er schluckte.

      »Ich hatte schon genug über sie gelesen, sodass ich sie ganz gut kannte. Nie jedoch hatte ich geglaubt, dass es sie wirklich gibt.«

      Er holte tief Luft.

      Erwartungsvoll blickte sie ihn von der Seite an.

      »Orks.«

      »Mein Gott! Und was ist dann passiert?«

      „Keiner von uns hat sich gewehrt. Sie haben uns die Hände gefesselt und uns vor sich hergetrieben. Es war ein beschwerlicher Marsch. Sie hatten weitere Gefangene dabei. Zwar durften wir nicht miteinander sprechen, aber die erzählten uns, wir würden auf einem Sklavenmarkt im Süden verkauft. Deshalb haben die Orks auch keinem von uns etwas angetan. Schließlich waren wir gutes Geld wert.«

      »Sklaverei? Heute noch? Wie bist du daraus freigekommen?«

      »Sie hatten mich gar nicht bis zum Sklavenmarkt gebracht. Ich hab’ die erste Gelegenheit zur Flucht genutzt, hab’ Glück gehabt.«

      »Und deine Kollegen? Was ist mit denen geschehen?«

      Mit einem schnellen Schritt stellte sie sich direkt vor ihn und vertrat ihm den Weg. Sie platzte vor Neugierde.

      Er musste abrupt stehen bleiben, prallte dennoch fast gegen sie. Sein Schlitten stieß ihm in die Kniekehle. Er bückte sich, rieb die schmerzende Stelle. Als er sich aufrichtete, zuckte er mit den Schultern.

      »Ich habe keine Ahnung, habe nichts mehr von ihnen gehört. Ich hatte mich verkrochen, bin ihnen nicht gefolgt. Vor den Orks hatte ich Angst, wollte mich nicht nochmal erwischen lassen. Ein schlechtes Gewissen hab’ ich immer noch, weil ich nicht versucht habe zu helfen. Aber darüber möchte ich nicht reden. Außerdem sind wir fast am Ziel, und ich will mich vorher noch umsehen. Lass uns weitergehen!«

      Er ging so knapp um sie herum, dass sein Schlitten ihre Beine streifte, als er ihn mit einem Ruck anzog. Eine kleine Rache für ihr Abblocken eben.

      2.

      Während des Marsches war ihr aufgefallen, dass die Büsche weniger dicht wuchsen, je näher sie dem Wald kamen. Einzelne Birken durchsetzten eine sandige Heidelandschaft. Den Waldrand hatten sie beinahe erreicht, als er ihr ein Zeichen gab anzuhalten. Dankbar setzte sie sich auf eine etwas höhere Grasinsel und massierte ihre Waden. Die fast zwei Meilen strammen Schrittes hatten sie nicht überfordert, aber sie hatte sich anstrengen müssen, mit ihm Schritt zu halten. Er wickelte den Riemen des Schlittens ab, ließ ihn fallen und rieb sich das Handgelenk. Tief eingeschnitten hatte der Riemen nicht, aber doch rötliche Streifen auf seiner leicht gebräunten Haut hinterlassen.

      Helle Spuren, die vom Tragen einer Armbanduhr in sonnigen Zeiten hätten zeugen können, entdeckte sie nicht. Also musste es stimmen, dass er schon länger hier lebte. Dafür bemerkte sie erst jetzt seinen Ehering. Sie schüttelte den Kopf über die späte Entdeckung. Bei attraktiven Männern hatte sie immer als erstes auf so etwas geachtet, das war normal gewesen. Heute aber war der fünfte Tag, an dem eben nichts mehr normal war. Die Zeitspanne kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Sie riss sich von ihren Gedanken los und sah zu ihm auf.

      »... alleine zum Waldrand«, hörte sie noch. Den ersten halben Satz hatte sie verträumt. »Das ist immer eine kritische Situation«, verstand sie, da sie sich nun auf ihn konzentrierte, »du wartest hier. Ich bin in einer Viertelstunde zurück, es sei denn, dort ist etwas. Dann komm bloß nicht nach, sondern renn’ zum Dorf zurück. Und lass dich unterwegs nicht erwischen!«

      Hastig nickte sie zur Bestätigung. Eine unbestimmte Furcht mischte sich in ihre Enttäuschung darüber, dass er sie nicht gleich zu dem klaren, frischen Waldbach mitnahm, nach dem sie sich so sehnte. Unwillkürlich duckte sie sich.

      Er reckte sich und schritt langsam auf eine markante, einsam vor dem Wald stehende Eiche zu. Zwei magere, nicht einmal schulterhoch gewachsene Sträucher drückte er auseinander und zwängte sich hindurch. Und war plötzlich verschwunden!

      Ungläubig rieb sie sich die Augen, sie hatte ihm doch nachgeschaut. Sie arbeitete sich hoch und rannte ihm bis zu den Sträuchern nach. Von der Stelle seines Verschwindens an war die Ebene so gut wie unbewachsen und leicht zu überschauen. Deutlich erkannte sie am Waldrand die licht stehenden Laubbäume. Vereinzeltes Gesträuch dazwischen, kein Unterholz. Der Weg zum Bach war offenbar gut begehbar. Und ihr Orkjäger? Weg! Sie schüttelte den Kopf und war sich sicher, einer optischen Täuschung zu unterliegen: In Richtung der Eiche vermeinte sie, kleine Staubfontänen zu erkennen, jeweils eine gute Schrittweite von der vorigen entfernt. Zum Wald hin entstanden neue, während die älteren verflogen.

      Verwirrt kehrte sie zu ihrem Platz zurück und setzte sich wieder.

      Irgendwann versuchte sie, von da aus die Last auf dem Schlitten zu erkennen. Die graue Decke darüber gab die Konturen nur schemenhaft preis, also stand sie auf und ging hinüber. Die Decke war mit locker gespannten Lederriemen gegen Herunterrutschen gesichert. Sie schob eine Hand darunter und tastete. Harte, runde Formen und … Ein plötzlicher Schmerz fuhr ihr in die Fingerspitze. … und scharfe Gegenstände! Sie schrie kurz auf, hastig zog sie ihre Hand zurück. Instinktiv steckte sie den Finger in den Mund, sog an dem Schnitt und betrachtete dann ihre Fingerkuppe. Sie blutete nicht, der Schnitt war nur oberflächlich. Nun war ihre Neugierde so groß, dass sie sich gar nicht mehr zu beherrschen versuchte. Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob es richtig wäre, seine Habe bloßzulegen. Auf einer Seite band sie die Decke los und schlug sie zurück. Was sie sah, machte ihr wieder deutlich, in welch verrückte Welt sie eingetaucht war: eiserne Waffen und Rüstungen. Die Helme waren flach, und vereinzelt gewahrte sie an ihnen dicke, störrische Haarsträhnen innen und an den Riemen. Dass sich Haare auch in den Brustpanzern fanden, konnte sie sich zuerst nicht erklären. Ja, doch, sie schienen ausgerissen, als habe sich jemand nicht die Mühe gemacht, die Schnallen ganz zu öffnen. Dass einige Riemen abgerissen waren, gab ihr wohl recht. Alle Rüstungsteile wie auch die schweren, am Ende gebogenen Schwerter mit gezahnter Schneide wiesen Rost auf. Einige dazu dunkle Verkrustungen, an den Waffen flächig, an den Rüstungen Spritzer. Blut, schoss es ihr durch den Kopf. Wer die früheren Träger dieses Eisenwarenlagers waren, hatte er ihr ja angedeutet. Die großen Größen waren von Orks gewesen, die kleineren hatten Goblins gehört. Nun wollte sie unbedingt mehr über ihn erfahren. Und darüber, wie er lebte.

      »Verdammt«, murmelte sie halblaut,