Siebenreich - Die letzten Scherben. Michael Kothe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kothe
Издательство: Bookwire
Серия: Siebenreich
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909401
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in Ruhe! Als sie über das niedrige Gatter geklettert war, hatte sie ein paar Ziegen, Schweine und Geflügel verscheucht, die wie sie selbst langsam wieder zu Atem kamen. Sie war froh, dass sich offenbar niemand die Mühe machte, der Unruhe auf den Grund zu gehen. Nun nahm sie sich Zeit, das Umfeld ihrer Zuflucht in Augenschein zu nehmen, soweit es ihre Sicht erlaubte.

      2.

      Das Fachwerkhaus duckte sich hinter die Mauer aus gebrannten Ziegeln. Scherben aus Glas und die scharfen Bruchstücke zahlreicher Tonkrüge waren in die Mauerkrone eingelassen und machten ein einfaches Überklettern unmöglich. Auch ein Ork hätte ohne Hilfsmittel die Oberkante nicht erreichen und sich hinüberziehen können. Zumal Orks gewöhnlich ihr Schwert in der Hand hielten und ihre restliche Habe in einem über die Schulter geworfenen Beutel trugen. Zudem fügte sich das Anwesen, selbst rundum von jener Mauer geschützt, in die Umfriedung des Wehrdorfes ein und bildete einen Teil des Schutzwalls. Früher waren die Dorfbewohner ohne Furcht ihrem Gewerke nachgegangen, auch wenn sie dafür das Dorf verlassen mussten. In diesem und im letzten Jahr jedoch hatten sie ihre Ernte zitternd eingefahren. Solche Wehrdörfer gab es zuhauf im Land zwischen den Morgenbergen und dem Lafer, dessen Quelle irgendwo nördlich der von Menschen bewohnten Lande lag.

      Das Haus selbst war alt und L-förmig. Eine Längsseite nahm der Gastraum ein, das verbleibende Innere war die von dort einsehbare Küche mit gemauerten Kochstellen und einer Feuergrube. Über der hielt ein Küchenjunge einen Bratspieß in Bewegung. Der Platz neben dem Gebäude war zum Dorf hin durch ein Gatter aus roh behauenen Fichtenstämmen begrenzt, an den Hauswänden reihten sich Tröge mit Wasser, Gras und Essenresten aus dem Wirtsraum aneinander. Es roch nach Heu und Dung. Hier war das Kleinvieh untergebracht, das demnächst am Spieß oder in den großen Töpfen zubereitet werden sollte.

      Eigentlich hieß das Gasthaus Zur gebratenen Wildsau. Jedermann, der regelmäßig hierher kam, hatte jedoch selten mehr Worte übrig als mitzuteilen, er ginge »zur Sau«. Die Sprache in diesem Land war derb, nicht selten zotig. Der Innenraum des Wirtshauses war zum Dachstuhl hin offen. An den vom Alter gekrümmten Balken und Sparren fanden sich vereinzelt Nester, vor allem Spatzen versuchten, mit ihrem Gezwitscher die Erzählungen und das Lachen unter sich zu übertönen. In Nischen standen große Tische. Die Bänke darum füllten sich nun zur Zeit der Abenddämmerung. Bauern und Handwerker hatten ihr Tagwerk verrichtet und gaben sich dem Wenigen an Vergnügen hin, das ihr Land und ihre Epoche ihnen ließen: dem säuerlichen Apfelwein, der nach einigen Krügen doch lustig machte, und ihren Gesprächen. Oder der Wiederholung von Erzählungen, die reisende Händler aus anderen Ecken des Reiches hierher gebracht hatten. Geraucht wurde nicht, Tabak war unbekannt. Das war gut, denn die Luft war ohnehin zum Schneiden dick.

      In der Küche hatten die Mägde alle Hände voll zu tun. Beaufsichtigt und angewiesen wurden sie von der resoluten Frau des Wirts. Die hatte beide Fäuste in die breiten Hüften gestemmt und scheuchte ihr Personal mit lauter Stimme hin und her. In diesem Haus hatte sie die Hosen an. Am Ende des Gastraumes lehnte selbstgefällig der Wirt an einem Pfeiler, da, wo der Raum sich zur Küche hin öffnete. So konnte er beide gut überblicken und hatte auch noch ein Auge auf die Eingangstür. Zufrieden beobachtete er den Zustrom neuer Gäste, die sich ohne Zögern auf die Bänke verteilten oder in Gruppen stehenblieben. Die Mehrzahl waren Männer. Ihre laut erzählten Witze und Geschichten waren derb, die Gesänge schräg und einfältig. Musikinstrumente gab es nicht. Hierher, wo getrunken und geschwitzt wurde, fanden nur sehr wenige Frauen. Und die machten einen robusten, fast männlichen Eindruck. Sie passten hierher.

      Der Fremde saß allein in der hintersten Nische, in der Nähe des Pfeilers, an dem der strahlende Wirt lehnte. Er saß am Kreuzungspunkt der Räume und war dort einem Potpourri aus Gerüchen ausgesetzt. Der Wind von der Tür her hatte unterwegs seine Frische verloren, er trug den Geruch der Zecher nach Erde, Schweiß und Alkohol. Von der anderen Seite drängte sich ihm die Küche auf mit ihrem Fett, aufgebrühten Kräutern und säuerlich gewordenen Abfällen.

      Obwohl sich an allen Tischen die Gäste drängten, fragte keiner, ob er sich zu ihm setzen dürfe. Ihm war es recht, er gehörte nicht hierher. Er war anders, was sich auch in seiner Kleidung ausdrückte. Er trug nicht die derbe Tracht der Dorfbewohner. Auch nicht die Gewänder aus feinen Stoffen und in bunten Farben, in denen sich die Händler in der benachbarten Nische offenbar wohl fühlten. Die genossen es sichtlich, von den Dörflern bewundert und beneidet zu werden. Er trug Waldläuferkleidung. Seine Schuhe hatten keine Absätze, sondern eine durchgehende derbe Sohle und knöchelhohe Schäfte. Die Hose war aus Leder, die Hosenbeine vorn fester als hinten, am Gesäß ebenfalls. Bestens geeignet für ein Leben draußen, wo die Wildnis sich mühte zu schneiden, zu reißen und zu kratzen. Darüber eine lederne Weste mit aufgesetzten Taschen. Ursprünglich war das Material Wildleder gewesen, die samtige Oberfläche war mit der Zeit durch Fett, Wasser und Erde abgenutzt, glatt und glänzend geworden. Ihn störte das nicht. Im Gegenteil, er freute sich über die Gebrauchsspuren. Sie machten sein Aussehen robuster, weshalb er glaubte, weniger oft angepöbelt zu werden. Vielleicht lag der Grund dafür, dass kaum jemand mit ihm Streit suchte, aber auch darin, dass er die meisten Bewohner Siebenreichs um einen halben Kopf überragte. Unter der Weste trug er ein Hemd aus Leinen. Er hatte es mittags angezogen, als er nur noch eine halbe Meile vom Dorf entfernt war. Sein wärmeres Lederhemd, das er bis dahin getragen hatte, lag zusammengerollt zuoberst in seinem ledernen Tornister neben ihm. Auch durch seine Waffen unterschied er sich. Auf dem Rücken trug er über Kreuz zwei Schwerter in trichterförmigen Scheiden. Die Klingen mit den gebogenen Spitzen Orkschwertern gleich, die Griffe jedoch beinahe eine Elle lang. So waren sie perfekt ausbalanciert. Die Waffen wiesen einen hierzulande unbekannten Handschutz auf, einen einfachen, vom unteren Viertel des Griffs zur Klinge hin breiter werdenden Bügel, der in einer kurzen Parierstange auslief. War er unterwegs, steckten sie in Scheiden rechts und links am Tornister.

      Der barg seine gesamte Habe, von der Beute abgesehen, die er vergraben hatte, als das Dorf ins Blickfeld rückte. Die Beute bestand aus Helmen, Brustpanzern und Orkschwertern. In der Stadt oder auch beim Dorfschmied würde er dafür einen guten Preis erzielen, aber er wollte das alles nicht mitschleppen, ohne sich vorher erkundigt zu haben. Eisen war knapp, und man hätte es ihm leicht abnehmen wollen.

      »Mein Mann ist im Krieg, die Landsknechte des Königs haben ihn an den Nordwall verschleppt.«

      Mit dieser Erklärung hatte die Frau des Schmieds ihm jäh die Aussicht auf ein einträgliches Geschäft genommen.

      Mehr Beute hatte er nicht gemacht. Orks und Goblins trugen keine Schätze bei sich, außer gelegentlich die Schamanen ihre manchmal magischen Ringe und Amulette. Aber meist traf man eben auf gemeine Mannschaftsdienstgrade.

      Er stocherte mehr in seinem Essen herum, als dass er aß. Er hatte bekommen, was alle aßen: ein Stück Braten, dunkles Brot und zwei fingerdicke Scheiben von dem kräftigen Käse, der nach Ziegenmilch schmeckte. Er war aufgestanden und hatte sich an der protestierenden Wirtin vorbei in die Küche gedrängt und mit einem Becher den Saft vom Spießbraten aufgefangen und über sein Essen gegossen. Sein Fleisch blieb trotzdem kalt. Wenigstens war das Brot nicht mehr so trocken. Er hatte sich den hier üblichen Apfelwein kommen lassen. Der dritte Krug stand vor ihm.

      Am Nebentisch hatten sich offensichtlich zwei Händlergruppen kennengelernt.

      »Habt ihr schon gehört? Die Schiffspassagen im Süden, in Seeland, werden knapper, und die Überfälle um die Hafenanlagen häufen sich. Alles, weil die reichen Kaufleute infolge des Krieges in ihre überseeischen Kontore fliehen.«

      »Aber im Norden ist´s noch schlimmer! Orks und Goblins fallen in Horden durch Pässe aus dem Gebirge ein, nördlich der Morgenberge. Auf einem riesigen Schlachtfeld führen sie Krieg. Am Rande zur Tundra im Norden verteidigten die Zwerge ihre Heimat, durch den Schutzwall werfen die Menschen aus Siebenreich vom Süden her ihre Soldaten und Magier in die Schlacht«

      »Ja, und neuerdings hört man auch hier im Landesinneren vereinzelt von Überfällen auf Gehöfte und sogar auf ganze Dörfer.«

      Der Fremde hatte sich zur Seite geneigt, sein Ohr berührte beinah die dünne Trennwand. Er sog die Informationen förmlich auf, sie würden Einfluss haben auf seine Pläne für die nächsten Wochen. Am Ende der