„Wenn ich groß bin, möchte ich einmal die Welt sehen!“ Das seufzte Johannes mehr als dass er es sagte, mit leuchtenden Augen, mitten aus seinem lebhaften Bericht von den Eindrücken des Tages heraus. „Glaubst du, ich kann das schaffen?“
„Ach, Junge, ich wär schon froh, wenn du es schaffen könntest, hier ein bisschen besser zu leben als deine Eltern. - Aber dein Vater hätte sicherlich anders geantwortet. Der hätte gesagt, du kannst das schaffen, wenn du nur willst. Lerne, so viel du kannst, bleib wach, schau dich um und behalte dein Ziel fest im Blick ... so in der Art hätte er gesprochen. Und ich will, dass du mehr auf deinen Vater hörst als auf mich. Denn wenn ich auch selbst fast nichts gelernt habe, eins weiß ich ganz bestimmt: dein Vater war ein kluger Mann, er wusste, worauf es ankommt, und wenn er hätte leben dürfen, dann hätte er Dich und deine Geschwister, die du dann wohl gehabt hättest, ermutigt und unterstützt, eure Träume zu erfüllen. - Und wo wir schon vom Lernen sprechen: du solltest dich jetzt schlafen legen, morgen hast du wieder Schule und solltest ausgeruht sein.“
Irgendwann in der Nacht schreckte er hoch, mit dem letzten Bild aus seinem Traum noch vor Augen, der ihn so unsanft wachgerissen hatte. Er sah, selbst in einem großen Wäschekorb stehend und über den Rand gelehnt, wie seine Mutter sich verzweifelt an den Korb klammerte, der höher und höher in die Lüfte stieg, sah ihr Gesicht mit den erschrockenen Augen zu ihm emporblicken, versuchte, ihre Hände zu fassen zu bekommen und sie zu sich herauf- und in den Korb hereinzuziehen, konnte sie nicht erreichen und musste hilflos mit ansehen, wie sich schließlich ihr krampfhafter Griff löste, sie abglitt und in die Tiefe fiel.
Während er mit klopfendem Herzen dalag und in die Dunkelheit starrte, versuchte er, sich an die Anfänge des Traums zu erinnern. Da hatte auf einem weiten, von Wäldern umgebenen Feld dieser Korb gestanden, und er hatte in braunes Papier eingeschlagene Pakete mit sauberer und warmer Kleidung, Lebensmittelvorräten und Ausrüstungsgegenständen hineingepackt. Zum Schluss kletterte er selbst in den Korb hinein, nahm einen Blasebalg und begann, nach Kräften zu pumpen; da richtete sich ein riesiger Ballon allmählich auf, der bislang seitlich im Gras gelegen hatte, bis er gerade über ihm schwebte, und schon hob sich der Korb unendlich sanft von der Erde ab, ein süßer, freudiger Schreck durchrann ihn und verschlug ihm den Atem. In diesem Moment aber sah er noch in einiger Entfernung eine Gestalt auf sich zu rennen und mit sich überschlagender Stimme schreien: „Johannes, nein, nein! bitte nicht, warte auf mich! Bitte, Hannes, lass mich nicht allein!“; da war seine Mutter herangekommen, doch der Korb hatte schon zu sehr an Höhe gewonnen, und sie konnte nur gerade noch einen Griff unten an der Seite erwischen...
Nachdem er unter der Erinnerung an diese Bilder wieder eingeschlafen war, fand er sich erneut in seinem Wäschekorb wieder, der inzwischen aber weit weg von seinem Aufstiegsort hoch oben am Himmel dahinschwebte. Wälder, Seen, Gebirge zogen unter ihm hinweg, dann wurden die Seen zu einer endlosen blauen Fläche, das musste das Meer sein. Nach einer Weile kam wieder Land in Sicht, das aber keine Ähnlichkeit mehr hatte mit irgendetwas, das er je selbst oder auf Bildern gesehen hatte. Landschaft und Vegetation hatten verrückte Farben, schimmerten bläulich, rötlich, lila, er überflog Paläste und Städte in bizarren Formen. Irgendwann bemerkte er erschrocken, dass der Ballon über ihm in bedenklicher Geschwindigkeit schrumpfte und immer kleiner zusammenschnurrte, gleichzeitig der Korb in zunehmendem Tempo an Höhe verlor; schnell fing er an, von den mitgeführten braunen Paketen immer mehr über den Rand hinauszuwerfen. Das half offensichtlich, den Fall abzubremsen. Als er so einigermaßen sanft auf der Erde gelandet war, fand er sich auf einem Platz in einer dieser wunderlichen Städte wieder; heilloses Stimmengewirr umgab ihn und herrliche Düfte; schließlich umringte ihn eine Menge von fremdländisch gekleideten, sehr braunen Menschen. In weiten weißen Kitteln wie Schlafröcken steckten sie, hatten bunte Hüte wie umgestülpte Blumentöpfe auf den Köpfen und hielten ihm sogleich eine Auswahl an exotischen Waren hin. Der eine hatte gelbe, rote, grüne Pulver in Gläsern zu verkaufen, ein anderer zeigte ihm unter dem Deckel eines Korbes eine zusammengerollte Schlange, ein Dritter bot ihm ein wunderschön verziertes, bunt besticktes purpurgrundiges Tuch an, und wieder ein anderer streckte ihm - „na, das nenn’ ich Chuzpe!“, dachte er - ein Paket in braunem Packpapier hin. Offenkundig hatte sein Schwebekorb ihn genau auf einem belebten Marktplatz abgesetzt. Er schaute, staunte und bewunderte, begeistert von seiner freien Fahrt und weiten Reise und den neu zu entdeckenden Gegenden. Immer jedoch begleitete ihn tief unter dem freudigen Reisefieber ein Gefühl der Schwermut, der Traurigkeit und auch der Reue, ohne dass er sich darauf besinnen konnte, woher das kam...
3. Lehrer Mäuthis
Am nächsten Morgen trafen sie sich alle auf dem Schulweg oder im Klassenzimmer wieder. Mit vierzig, fünfzig anderen Kindern ihres Stadtteils versammelten sie sich in einem großen, durch hohe Bogenfenster beleuchteten Saal. Es roch nach Putzlauge, nach Bohnerwachs, ein wenig nach Kreide und immer noch nach feuchtem Mörtel, Fensterkitt und Kalk, denn die Schule war erst vor ein paar Jahren neu errichtet worden. Die Fensterseite lag noch im Schatten, aber über die gegenüberliegenden Gebäude sah man die Morgensonne freundliche Streifen malen. Die Kinder standen in Gruppen zwischen den Bänken zusammen oder rannten zwischendurch herum, lärmten, lachten, stritten, die Jungs und die Mädchen jeweils unter sich; manche hatten sich auch schon gleich an ihren Platz gesetzt und warteten, schon jetzt ermüdet vom frühen Aufstehen und ersten Alltagspflichten, auf den Beginn des Unterrichts. Unter denen war auch Fritz: bleich, kraftlos vom ausgefallenen Abendbrot und noch ganz in dem Abgrund befangen, in den ihn die abendliche Szene gestürzt hatte, saß er, den Kopf in die Hand und den Arm auf das Pult gestützt, und nahm keinerlei Anteil am Treiben seiner Kameraden.
Die Neugier der Klasse auf den Lehrerwechsel ließ die übliche vorunterrichtliche Unruhe heute geradezu vibrieren, alle waren gespannt, ob sie vom Regen in die Traufe kommen würden oder ob ihnen eine Verbesserung vergönnt sein würde. Nur wenige bemerkten daher, dass schließlich tatsächlich die Tür aufgegangen und jemand auf das Podest gestiegen war, das den vorderen Teil des Klassenzimmers einnahm und auf dem das Lehrerpult und die Tafel platziert waren. Erst als sich ein lautes, eindeutig erwachsenes Räuspern vernehmen ließ, hörten Rangeleien, Knuffereien und Stimmengewirr sofort auf, und blitzschnell spritzten alle Kinder an ihre Plätze, die Gesichter erschrocken und gespannt auf den Mann gerichtet.
„Guten Morgen, Kinder!“, sprach der in die Runde; und, sollte man es glauben, es schien dabei die feine Andeutung eines Lächelns um seine Lippen zu spielen, das nichts Sarkastisches, nichts Süffisantes, nichts Gemeines und nichts Bedrohliches an sich hatte, sondern einfach nur ein wenig amüsiert schien, ein wenig - na, freundlich eben? - konnte das wahr sein? Die Kinder wagten, Hoffnung zu schöpfen, und als ihnen auffiel, dass der Neue ein junger Mann war, entspannten sie sich noch etwas mehr.
„Guten Morgen, Herr Lehrer!“, riefen sie zurück, setzten sich auf sein Geheiß und schauten ihm erwartungsvoll entgegen.
„Ihr wusstet sicher schon“, fing er an, „dass Herr Schultze vor den Ferien in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist“ - hier gab es ein halbunterdrücktes Grummeln aus den Schülerreihen, das aber von Herrn Schultzens Nachfolger wohlweislich übergangen wurde - „und dass ihr also von jetzt an einen neuen Lehrer haben werdet.“ Zustimmendes „Hmmm“ und Nicken. „Nun gehört es sich ja wohl, dass man sich gegenseitig vorstellt, wenn man eine neue Bekanntschaft macht. Und da es einfacher ist für fünfzig Leute, eine Person kennenzulernen, als dass eine Person sich gleich fünfzig neue Menschen merkt, werde ich euch zuerst einmal etwas über mich selbst erzählen.“
Er ging zur Tafel, nahm ein Stück Kreide und schrieb ein Wort an. „Mäuthis“, sagte er, auf das Wort deutend, „ich heiße Johann Hermann Mäuthis.“ („Komischer Name!“, flüsterte Rudolph seinem Nachbarn Karl zu). Er fuhr fort, mit der Kreide zu hantieren. „Vielleicht habt ihr mir