Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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fahren werden, da brauchen wir uns eigentlich auch keine Gedanken darüber zu machen, wohin wir damit wollten, oder?“

      „Ja, was machen wir aber jetzt noch mit dem angefangenen Nachmittag? Wollt ihr etwa schon heim?“ fragte Rudolph unternehmungslustig. „Also, ich muss mit den Kleinen zuhause sein, wenn Vater zurückkommt, sonst kriege ich Ärger. Ich muss ja noch beim Abendbrot helfen“, sagte Agnes. „Dann begleite ich dich und helf’ dir mit der Karre“, sagte Karl schnell, was wieder von einem amüsierten Augenzwinkern der anderen kommentiert wurde.

      „Kommt denn niemand mit? Ich will noch in die Innenstadt, ins Panoptikum. Ich hab auch genug Geld, ich kann jemandem den Eintritt spendieren“, plusterte sich Rudolph ein wenig großspurig, schaute aber gleichzeitig so drein, als wäre es ihm lieber, nicht beim Wort genommen zu werden. „Danke, die paar Kröten habe ich selber“, sagte Johannes, „ich muss aber noch die Wäsche für meine Mutter austragen.“ - „Ach was, dafür ist doch noch genug Zeit“, widersprach Rudolph. „Ich geh hinterher doch auch noch zu meiner Sonntagsarbeit. - „Zu deinem reichen Kaufmann, nicht?“ - „Ja, genau, Schuhe putzen für die ganze Familie - und ich kann euch sagen, die haben aber Schuhe! Wenn die wollten, könnte jeder von denen jeden Tag ein anderes Paar anziehen und hätten sie nicht mal alle durch, bis ich wiederkomme. Na ja, sie zahlen aber ganz ordentlich, und irgendwas Feines zum Abendbrot kann ich auch immer noch abstauben.“ - „Also gut, ich komme mit“, gab Johannes nach - das eben frisch erweckte Fernweh machte ihm schon Lust, sich die exotischen Sehenswürdigkeiten und die Illusionsbilder ferner Landschaften anzusehen.

      Also gingen die Kinder noch ein Stück Wegs gemeinsam, bis sie sich, teils lachend, teils seufzend „Bis morgen!“ verabschiedeten und in verschiedene Richtungen auseinander liefen.

      Rudolph und Johannes stürzten sich in das Gewimmel der Hauptstraßen, dem man den Unterschied zur werktäglichen Geschäftigkeit anmerkte: Pferdebusse, Elektrische, Automobile und Droschken klingelten, hupten, schrien sich den Weg frei wie sonst, und doch wohl eine Spur gelassener, und die Fußgänger hatten meistenteils kein eilig angestrebtes Ziel sondern nur den Wunsch zu flanieren, zu schauen, sich zu zeigen, aus der Entfernung die Hüte vor einander zu ziehen, die freie Zeit unter Leuten und doch in nur lockerem, unverbindlichem Kontakt mit ihnen zu genießen. Nur da und dort mischten sich solche Menschen dazwischen, die so etwas wie Freizeit und Müßiggang an keinem Tag der Woche kennen durften - Straßenverkäufer, fliegende Händler, Werbeläufer, Boten zu Fahrrad oder zu Fuß und Bettler schoben sich durch die Menge und versuchten, noch ein paar Feiertagsgeschäfte zu machen.

      Nach einer Weile waren die beiden Jungen vor der Ladenpassage angekommen, in der sich das Panoptikum befand, das in prangenden schnörkeligen Lettern unter all den anderen Schildern an der Häuserfassade auf sich aufmerksam machte. Da sie dem Kassierer umstandslos den verlangten Eintritt hinstreckten, begnügte sich der mit einem abschätzigen Blick auf schmutzige Barfüße und schäbige Kleider und ließ sie wortlos hinein. Sie verschwanden in den kühlen, labyrinthischen Gängen, um vor Wachsfiguren bekannter Persönlichkeiten, seltsamen Gebrauchsgegenständen fremder Völker, ausgestopften Tieren und Guckkastenpanoramabildern von historischen Schlachten den Attraktionen dieses erlebnisreichen Tages noch einige hinzuzufügen.

      Agnes kam heim mit ihrer Karre voller Geschwister, heim zu einer überforderten, kränkelnden Mutter, die den kinderfreien Tag zu ausgiebiger Bettruhe genutzt hatte. Sie kam mit den Kleinen zur Tür herein direkt in die nicht eben wohnliche Wohnküche, in der sie mit ihren zwölf Jahren schon mehr ihre Hauptwirkungsstätte hatte als die Mutter, und, ohne auf die schwächlich-quengelnden Vorwürfe zu reagieren, mit der diese sie vom Nebenzimmer aus begrüßte - spät sei es, wo sie so lange geblieben sei, das Abendessen müsse doch noch gekocht werden, und sie selbst sei heute wirklich zu unwohl dafür -, ging sie wortlos in die Ecke, wo Herd und Kochutensilien sich befanden und machte sich daran, einen Eimer voll Kartoffeln zu schälen. Kein Wort, keine Frage, keine Neugier für ihren Tag konnte sie erwarten, und so saß sie still und konzentriert an ihrer Arbeit, beflissen, das Essen rechtzeitig zur Heimkehr des Vaters fertig zu haben, um dessen Zorn nicht auf sich zu ziehen. Den hatte man nur zu leicht angefacht, glomm er doch eigentlich beständig unterschwellig vor sich hin, genährt vom Gefühl des Versagens, der Resignation, von alkoholgetränkten Kneipenstunden gemeinsam mit anderen ebenso unnützen und unzufriedenen Männern, bestärkt von dem Bewusstsein, ein gesetzlich verbrieftes Recht darauf zu haben, zum Ausgleich für dieses Scheitern eine gnadenlose Willkür- und Gewaltherrschaft über sein persönliches kleines Privatreich auszuüben. Nur hier und da kamen vor ihr inneres Auge noch Reste der heutigen Eindrücke - ein frei und hell wehender Sonnenwind, fröhliche Menschen, ein paar Stunden annähernder Sorglosigkeit, ein blauer Himmel voller lustig bunt dahinschwebender Ballons -; doch verblassten diese Erinnerungen unter dem freudlosen Realismus ihres Alltags sehr rasch, und als sie später müde in ihrem Bett lag, eng an die Schwester geschmiegt, mit der sie es teilte, konnte sie nur froh sein, dass der Abend einigermaßen glimpflich überstanden war - einer ihrer weniger schlimmen Sonntage lag hinter ihr.

      Auch Frieda fand zuhause nicht viel Interesse an ihren Erlebnissen. Der Vater ließ sich verächtlich über das „unnütze Zeug, Zeit- und Geldverschwendung, Spielkram reicher Leute“ vernehmen, die Mutter und die große Schwester waren vertieft in die viel wichtigeren Vorbereitungen der letzteren für ein Tanzvergnügen, das sie an diesem Abend noch besuchen wollte, und von dem man sich, besonders im Hinblick auf einen neuen Verehrer, der sie dorthin ausführen wollte, einiges versprach. Die Mutter hörte gar nicht zu, als Frieda zu erzählen begann, sie hatte den Mund voller Stecknadeln und maß und steckte an Luises Kleid herum, während diese nur die Nase rümpfte und sich wieder Federn, Glitzerschmuck und Lippenrouge zuwandte. „Du solltest dich lieber langsam mit ernsthaften Sachen beschäftigen“, riet sie der kleinen Schwester weise. „Du bist ja schließlich auch schon bald groß genug... („Nu aber mal halblang!“, zwängte die Mutter da zwischen den Nadeln hervor) ...na, stimmt doch, nur ein, zwei Jährchen noch, und ein bisschen Übung braucht’s immerhin doch dafür. Schau, das ist schließlich immer noch die einfachste und beste Art, wie wir’s zu was bringen können, wenn wir nicht zu den ganz Hässlichen gehören...“ Frieda wurde rot und lächelte teils peinlich berührt, teils geschmeichelt, und hatte bald selbst nichts anderes mehr im Kopf als schöne Kleider, Schmuck und Schminke. Und statt von den Erlebnissen des Tages träumte sie von ihrem zukünftigen ersten Ausgang, wo sie Bewunderung auf sich ziehen wollte, und von einem reichen Verehrer, der sie auf Händen tragen und verwöhnen sollte, und der natürlich noch viel mehr hermachen würde als Luises neuer Freund, mit dem sie sich so dicke tat.

      Als der kleine Fritz zuhause ankam, schob er sich mit panisch klopfendem Herzen und kreidebleichem Gesicht durch die kaum ausreichend geöffnete Tür und hoffte, sich unbemerkt irgendwie in eine Ecke drücken oder gleich im Hinterzimmer verschwinden zu können. Auf den letzten Metern vor der Haustür erst hatte er festgestellt, dass seine Hosentasche ein Loch hatte und das Geld, das ihm seine Eltern in ungewohnter Großzügigkeit mitgegeben hatten, dort herausgefallen sein musste. Viel war es nicht gewesen - er hätte dem Vater davon Tabak und Zigarettenpapier mitbringen sollen und für sich selbst ein paar Bonbons oder ein süßes Gebäck kaufen dürfen, musste aber auf Heller und Pfennig Rechenschaft über die Verwendung ablegen und den Rest zurückgeben. Die Besorgung für den Vater hatte er vollkommen vergessen, und nun musste er den Eltern auch noch gestehen, dass das ganze Geld weg war! - Warum passierten auch immer ihm solche Sachen? Die anderen, besonders sein größerer Bruder, schienen immer alle Situationen ohne irgendwelche unverzeihlichen Nachlässigkeiten zu meistern. In Wirklichkeit war es wohl eher so, dass auch sein Bruder Versäumnisse beging oder ihm Missgeschicke zustießen, er aber mit einer selbstbewussten Souveränität lachend darüber und über die ihnen folgenden Strafen hinwegging. Die kleine Schwester aber, das Nesthäkchen, konnte gar nichts falsch genug machen, um in den Augen der Eltern einmal Strafe verdient zu haben. Er, Fritz, dagegen, blass, kränklich, ängstlich, lebte beständig in vorauseilender Furcht vor dem strafenden Zorn des Vaters und zog das Unheil scheinbar magisch auf sich. In den Zeiten zwischen den tatsächlichen Vorfällen lebte er in stummer, resignierter Hinnahme seiner Rolle und in leidenschaftlicher, wenn auch mehr oder weniger versteckter Bewunderung solcher Jungen, die sichtbar besser mit dem Leben und seinen Tücken zurechtkamen als er. Unter denen hatte er zuletzt speziell Johannes zu seinem Idol