Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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von einzelnen Informationsbrocken zum hartnäckigen Verfolgen von Gedankengängen, ging er Anregungen und Hinweisen auch außerhalb der Schulstunden nach, die in den Unterricht ganz zufällig eingeflossen waren. So hatte Herr Mäuthis einmal davon erzählt, wie seit einigen Jahren immer mehr Arbeitervereine gegründet wurden, die mit Bücherstuben, Vorträgen und Gesprächszirkeln, Alphabetisierungskursen und vielem mehr sich bemühten, den Bildungsstand der Arbeiterklasse aus eigenen Kräften anzuheben. Von seiner Mutter wusste Johannes, dass sein Vater damals einem solchen Verein beigetreten war. Nun ruhte er nicht, bis er den ausfindig gemacht und die Erlaubnis erwirkt hatte, trotz seiner Jugend dort zu verkehren und vor allem den Buchbestand in der Lesestube für die Befriedigung seiner Neugierden zu nutzen. Ein paar Leute dort konnten sich noch an seinen Vater erinnern und fanden es jetzt einerseits kurios, andererseits auch erfreulich, dass dessen „Kleiner“ nun den Weg zu ihnen gefunden hatte.

      Noch eine Gewohnheit machte er sich in dieser Zeit zu eigen: Wann immer möglich, das hieß, wenn er rechtzeitig vor der Schule mit seiner Runde fertig wurde, dann las er in dem Blatt, das er austrug, den einen oder anderen Artikel, der ihm ins Auge fiel und interessant zu sein versprach. Dabei weckten nicht nur Kuriosa und die so genannten unerhörten Begebenheiten seine Neugier, er las auch über Entdeckungen aller Art - technische, wissenschaftliche, geographische -, verstand natürlich vieles nicht oder nur halb und fragte dann bei allen Erwachsenen, die er kannte, nach, ab und zu auch bei Herrn Mäuthis in der Schule.

      Eines Morgens fand er da bei dem spärlichen Licht, das sich nur mühsam aus der Herbstdämmerung herausschälte und das nur gerade eben zum Lesen ausreichte, folgende Schlagzeile: „Den Adam gefunden!“. ‚Was soll das denn heißen?’, fragte er sich neugierig und las: „Vor einigen Tagen wurde bei Aushebungsarbeiten in einer Sandgrube bei Schirmtal ein versteinerter prähistorischer Schädelknochen gefunden, der inzwischen durch die unverzüglich hinzugezogenen Experten eindeutig als von einer Ur- und Vorform des heutigen Menschen stammend identifiziert wurde. Die Paläontologen bewerten den Fund als mindestens ebenso wertvoll für die Aufklärung des Entwicklungsweges von den vorzeitlichen Affenwesen hin bis zum modernen Menschen, wie das seinerzeit dem Fund des homo neanderthalensis zukam. Man schreibt der Gattung ein sogar noch bedeutend höheres Alter zu als dem Neanderthaler.“

      Johannes kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Was war das denn nun? Was sollte das bedeuten: „Vorform des Menschen“, „Entwicklung vom Affenwesen zum modernen Menschen“? War denn nicht der Mensch, so, wie man ihn kannte, einfach immer schon da gewesen, wobei dieses „immer schon“ ein unbestimmt dehnbares und auch wieder zusammenschnurrendes Gebilde darstellte - neunzehn Jahrhunderte seit Christi Geburt, ein paar Generationen darüber hinaus - Abraham, Noah, Moses, die Geschichten aus dem Religionsunterricht, die das Altehrwürdigste waren, das er kannte, weit weg und fremd, aber in Denken, Handeln, Fühlen auch wieder menschlich nah genug - so lange war das nun vielleicht auch wieder nicht her? Und wo bitte sollten da irgendwelche Affenwesen ihren Platz haben?

      Er las weiter: „Der Arbeiter, dessen Schaufel das Fossil gehoben hatte, soll abends seinen Kumpanen im Wirtshaus berichtet haben, heute habe er ‚den Adam gefunden’“.- Ah, da war er wieder auf vertrauterem Boden - also einen Knochen des ersten, von Gott aus Lehm geformten Menschen hat man da gefunden? Das war ja natürlich schon toll und sehr faszinierend, aber was sollte das dann mit den Affen und dem Entwicklungsweg und diesem ... diesem - ah ja, diesem homo neanderthalensis? Er schloss die Augen und glaubte, in ein bodenloses Unbekanntes hinabgesogen zu werden, gleichzeitig fand er die Sache aber auch überaus aufregend. Er musste diesmal unbedingt Herrn Mäuthis ausfragen, das hier wollte er einfach genauer verstehen. Er holte rasch Schulheft und Bleistift aus der Tasche und schrieb alle Wörter auf, die er nicht kannte - „prähistorisch“, „versteinert“, „Paläontologe“, „Neanderthaler“, „Fossil“ - er war sicher, dass sich hinter diesen geheimnisvollen Begriffen Türen zu ganz neuen und ungeahnten Dimensionen aufstoßen würden. Vor lauter Aufregung vergaß er ganz, die Zeitung noch ihrem rechtmäßigen Empfänger zuzustellen, das merkte er erst, als er schon fast bei der Schule angekommen war. ‚Na, nichts zu machen’, dachte er, ‚dann bekommt er sie heute eben ausnahmsweise erst mittags.’

      In der Schulstunde konnte er sich kaum auf das behandelte Thema konzentrieren, und die Zeit bis zum ersten Pausenläuten wurde ihm viel zu lang. Endlich war es so weit, und während die anderen hinausliefen, ging er nach vorn zum Lehrerpult und brachte sein Anliegen vor. Er zeigte Herrn Mäuthis den Artikel und die Liste der unverstandenen Wörter und bat ihn dringlich um Erklärung. Der blickte erstaunt von Zeitungsblatt und Schulheft auf in das eifrig gespannte Gesicht des Jungen und meinte: „Aber gerne - jedenfalls das Wenige, das ich darüber weiß, will ich gerne weitergeben; ich möchte das aber lieber in der nächsten Stunde vor der Klasse tun, so kriegen es alle mit.“

      Und so hörten die Kinder nach der Pause, statt Dreisatzaufgaben zu lösen, zum ersten Mal von Charles Darwin und seinen Forschungsreisen, von dem Mönch Gregor Mendel und seinen Versuchen im Klostergarten, von der Evolutionstheorie und von dem Streit, den sie entfacht hatte, und eben davon, dass man die Erzählungen der Bibel über Herkunft und frühe Geschichte der Menschen wohl nicht mehr wörtlich nehmen dürfe, dass man das Alter der Erde viel höher veranschlagen müsse als bislang für möglich gehalten; von ausgestorbenen Tierarten, Funden riesiger Skelette berichtete er, und nicht zuletzt davon, dass die Kinder sich wohl mit dem Gedanken würden anfreunden müssen, ihre Ur-ur-ur-ur-ur-Vorfahren unter den Affen zu suchen.

      Auch wenn Darwins Veröffentlichungen schon ein halbes Jahrhundert zurücklagen, war all dieses den Kindern völlig neu. Sie waren ja erst zwölf, dreizehn Jahre alt, und die Erwachsenen in ihrem Umkreis hatten andere Dinge im Kopf und andere Gesprächsthemen als die Abstammung des Menschen und das geologische Alter der Erde. In der Minimalbildung, die man den sogenannten niederen Ständen zubilligte, kamen naturkundliche Themen höchstens in Form von Pflanzenbeschreibungen und Erzählungen über Tierarten und ihre Lebensweisen vor; und ein Lehrer vom Schlage eines Herrn Schultze zumal hatte gar nichts davon gehalten, seinen Schülern etwas anderes als Bibel- und Traditionsgläubigkeit beizubringen.

      Naturgemäß gab die Affen-Urahn-These willkommenen Anlass zu allgemeiner, auch durchaus ungläubiger, Erheiterung, wobei sich Rudolph wieder einmal besonders hervortat.

      „Im Übrigen“, sagte Herr Mäuthis dann noch abschließend, „sollte es wohl im Naturkundemuseum das eine oder andere Interessante zu sehen geben. Eins aber steht auch fest: nämlich dass es auf diesem Gebiet wohl noch weitaus mehr Unklarheiten, offene Fragen und unbekannte Zusammenhänge gibt, als dass die Wissenschaft schon besonders viel mit Sicherheit herausgefunden hätte. Da wird noch so mancher Knochen ausgegraben und manche Theorie verworfen werden müssen, bis wir wissen, wie das alles wirklich vor sich gegangen ist. - Und zum Schluss, bevor wir uns dann leider doch wieder unseren Textaufgaben zuwenden müssen, möchte ich doch gerne Johannes noch für die Anregung zu diesem spannenden Thema danken.“ Der bekam ganz rote Backen und senkte verlegen die Augen, während er aber schon eifrig Pläne für einen nachmittäglichen Besuch dieses Museums schmiedete.

      Fast wäre dieser Besuch an einem strengen Museumswärter gescheitert, der dem Jungen in schäbiger Kleidung wohl nichts Gutes zutraute, ihm jedenfalls am liebsten den Zutritt durch das prächtige Portal verwehrt hätte. Doch konnte er einen unaufmerksamen Moment nutzen und an dem uniformierten Türhüter vorbeiwischen. Drinnen dann empfing ihn eine solch ungewohnte, ehrfurchtgebietende Atmosphäre von Kühle, Stille und glatten, sauberen Oberflächen, dass er fast geneigt war, dem Wächter recht zu geben und sich als hier fehl am Platze wieder zurückzuziehen. Das tat er dann allerdings doch nicht und ging stattdessen staunend durch ganze Fluchten von Ausstellungsräumen mit langen Reihen von Vitrinen. Schaukästen mit Hunderten aufgespießter Schmetterlinge, Käfer, Spinnentiere; große flache Laden mit sortierten Vogeleiern in allen möglichen Farben und Größen, bunten Mineralien und versteinerten Muscheln und Schnecken; Glasschränke, in denen sich ausgestopfte Vögel fast auf die Füße traten, an den Standsockeln bereits vergilbende Etiketten mit ihren seltsamen, nie gehörten Namen; andere, in denen sorgfältig präparierte Einzelexemplare in lebensnahen Posen oder gar mehrere Tiere gemeinsamer Herkunft in ihren mit Hilfe von ein paar Requisiten und gemalten Landschaftskulissen angedeuteten Lebensräumen sich vorstellten: Da gab es einen Kauz, der mit eingesetzten Glasaugen von der Spitze einer Tanne