Aber sie hatten Glück und keine Wolke stand der Vorfreude auf einen erlebnisreichen Tag im Wege, der gleichzeitig ein gebührender Abschluss für die zu Ende gehenden Ferien werden sollte. Ab morgen würden sie wieder zur Schule gehen müssen. Die größeren unter ihnen wussten schon, dass sie einen neuen Lehrer bekommen würden, weil Herr Schultze, der sie seit Jahren unterrichtet hatte, in den Ruhestand gegangen war - endlich! wie die meisten von ihnen seufzten.
„Schlimmer kann es mit dem Neuen jedenfalls nicht werden“, meinte einer der großen Jungs.
„Ich glaub nicht, dass es so was noch mal gibt - gleichzeitig so trottelig und so streng!“, vermutete ein anderer.
„Ich hoffe, der Neue wird nicht auch so tun, als zählten wir Mädchen überhaupt nicht.“
„Genau, als wären wir überhaupt zu doof für alles.“
„Ich hoffe bloß, dass der nicht so fest haut wie der Schultze, dann bin ich schon zufrieden“, ließ sich ein schmächtiger, blasser, grundsätzlich verängstigt wirkender Bub hören.
Einer der Jungen hatte sich noch überhaupt nicht am Gespräch beteiligt, er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein - was sich auch bestätigte, als er plötzlich sagte: „Ich wüsste nur zu gerne, wie die das überhaupt machen mit dem Fliegen - wie soll das denn eigentlich funktionieren?“
„Na, Johannes, da kannst du ja gleich morgen den neuen Lehrer auf die Probe stellen und ihn danach fragen“, meinte Rudolph, der Kohlenhändlerssohn.
„Mensch, am allerliebsten würde ich sowieso gleich selbst mitfliegen - ihr denn nicht?“
„Nee, nee, ich glaub, ich bleibe lieber bei Mutter Erde, da fühl ich mich sicherer - Gucken ja, das ist bestimmt spannend...“-
„... und wunderschön!“, rief eines der Mädchen dazwischen.
„Na, meinetwegen auch schön, wir werden’s ja sehen.“
„Hoffentlich bekommen wir gute Plätze“ - „Na, wenn die einmal oben sind, können wir ganz sicher gut sehen, da kann einem ja keiner die Sicht verstellen.“ - „Ja, ganz demokratisch!“, grinste einer altklug.
„Ja, schon, aber ich würd halt schon gerne mitkriegen, wie sie starten und so“, insistierte Johannes.
„Na, wir sind ja wirklich früh dran, da werden schon noch genug Bäume und Masten frei sein.“
Unterdessen - der Morgen, der schon einen herbstlichen Biss gehabt hatte, entwickelte sich bereits zu einem der letzten sommerheißen Tage - schienen sie ihrem Ziel endlich nahe zu kommen. Wenn man dies an nichts anderem bemerkt hätte, so aber jedenfalls an den immer kompakter werdenden Strömen von Menschen, die sich der unterschiedlichsten Fortbewegungsmittel bedienten - Fußgänger, von denen ganze Pulks aus den von der nahegelegenen Endhaltestelle der Stadtbahn herführenden Seitenstraßen quollen; Fahrradfahrer schlängelten sich hindurch, hie und da schob sich die Menge träge auseinander, um irgendeiner Art Pferdegespann Platz zu machen, und noch seltener, aber dafür umso effektvoller verschaffte sich auch mal ein Automobil mit herrischem Hupen freie Bahn und ließ die Scharen erschreckt zur Seite spritzen und ihnen erzürnte Beschimpfungen hinterherschicken.
Längst gingen die Füße schon nicht mehr über Straßenpflaster sondern versanken angenehm weich in trockenem, noch kühlem Sand. Nur der Bollerwagen mit den Kleinkindern zog sich hier noch einmal so mühsam, aber zwei der anderen erbarmten sich und schoben von hinten nach. Da hörte man über all das Stimmensummen, das Hupen, Pfeifen, Klingeln und Schreien hinweg, das sich zu einem allgemeinen, die Luft fast sichtbar erfüllenden Brausen vermischte, abgerissene Töne und Melodiefetzen einer Blaskapelle, die sich offenbar irgendwo hinter dem langen Bretterzaun einstimmte, der den Schauplatz des Geschehens umgab. An diesem liefen die Kinder nun entlang, den Einlass mit dem Kassenhäuschen links liegen lassend - man hatte ja nicht vor, den Eintritt zu bezahlen, sondern wollte außen von notfalls zu erkletternden erhöhten Stellen zuschauen -, bis sie um die nächste Ecke biegen konnten. Nur ein paar wenige andere Kinder waren ihnen dort bisher zuvorgekommen. Das Gelände hob sich hier leicht, so dass man schon, wenn man nicht zu den ganz Kleinen zählte und sich auf den Zehenspitzen reckte, einen Blick über den Zaun werfen konnte. Aber damit wollten sie sich natürlich nicht zufrieden geben. Manche reservierten sich ein Stückchen vom Zaun, wo sie nach oben klettern und sich am oberen Brett oder einem Pfosten halten konnten. Ein, zwei andere, darunter Johannes, konnten in den paar Bäumen, die in der Nähe der Umzäunung standen, Stellen finden, wo die Belaubung lückenhaft genug für eine gute Sicht war und wo sie sich auf einem kräftigen Ast durchaus für länger einrichten konnten. Die Mädchen begnügten sich mit einem Lagerplatz auf dem kleinen Hügel, wo sie für die Kleinen aus dem umgestülpten Leiterwagen sogar eine richtige kleine Tribüne machten. Nur Elsa schloss sich Rudolph an, der noch schlauer sein und sich durch irgendeine Lücke im Zaun heimlich in das abgesperrte Gelände stehlen und dort umsonst einen richtig tollen Platz ergattern wollte. Besser gesagt, sie tat es ihm gleich, denn dass sie sich ihm anschlösse, ließ er nicht zu, da er fürchtete, mit einem Mädchen im Schlepptau eher erwischt zu werden. „Nix da, such du dir mal bloß dein eigenes Schlupfloch!“, wies er sie stattdessen zurecht.
Gerade hatten die Kinder sich auf ihren verschiedenen Posten niedergelassen und begonnen, sich einen ersten Überblick über das Areal hinter dem Zaun zu verschaffen, da ertönte ein Tusch und die Militärkapelle begann jetzt im Ernst, zur Unterhaltung der Menge aufzuspielen. Schmissige Märsche, beliebte Tanzstücke und Schlager klangen von der entferntesten Ecke aus einem eigens errichteten Pavillon herüber.
Immer mehr Zuschauer drängten durch den engen Einlass und verteilten sich dann über die Wiesenfläche zwischen dem Zaun und einer Absperrungskette, die einen großen Kreis um das Gebäude der Gasanstalt herum freihielt. Man bummelte auf dem Grasplatz einher, nahm die in der Mitte des Feldes zusammengetragenen Gegenstände und die sich dort entfaltenden Aktivitäten in Augenschein, stand in Gruppen so dicht wie möglich an der Absperrung herum und kommentierte offensichtlich in angeregten Gesprächen das Ereignis. Viele gönnten sich auch noch eine Stärkung oder Erfrischung in einer der Restaurationsbetriebe, die unter den aufsteigenden Zuschauertribünen improvisiert worden waren. Zwischen letzteren hatte man sogar eine getrennte Loge eigens für illustre Persönlichkeiten eingerichtet und mit dicken Girlanden aus Buchsbaumzweigen und den Insignien des Herrscherhauses geschmückt. Über den Platz verstreut waren Sanitätsstationen, um etwa unter der Sonnenhitze und dem Menschenandrang zusammenbrechenden Zuschauern zu Hilfe zu eilen oder gar bei Unfällen mit Verletzungen zur Stelle zu sein. Polizisten patrouillierten zwischen der Menge, um Ordnung und reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, schwitzend unter ihren Uniformen und Pickelhauben, aber dennoch steif und aufrecht Haltung bewahrend. Und - besonders faszinierend für die Kinder - waren hier und da Tische aufgestellt und als Post- und Telegraphenstationen ausgerüstet, mit den Titeln ausländischer Zeitungen beschriftet, von wo aus Reporter so unmittelbar wie möglich Bericht an ihre Heimatredaktionen erstatteten. Fliegende Händler schoben sich mit ihren Körben und Bauchläden zwischen all diesen Gruppen hindurch und versuchten, ihre Süßigkeiten, Backwaren oder Tüten mit Obst loszuwerden.
Währenddessen ließ Johannes in seinem Baum die Mitte des Feldes nicht aus den Augen und erstattete den anderen nach unten Bericht, wann immer er im Gewirr von umeinanderlaufenden Menschen und scheinbar durcheinander liegenden Gegenständen einen Sinn zu erkennen vermochte. Als sie angekommen waren, wurden gerade bunte Bündel auf das Feld gebracht, jedes davon hatte wie Schleppenträger vier, fünf Männer hinter sich, die einen großen Korb trugen. Inzwischen waren die Stoffbündel aufgefaltet und am Boden ausgebreitet worden, so dass dieser von weitem wie ein überdimensionaler farbenfroher Flickenteppich aussah, während sich die