Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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Norddeutschland, aus einer ganz kleinen Stadt, ihr würdet es sicher noch eher ein Dorf nennen, in der Nähe von Hamburg“, und während er erzählte, malte er eine angedeutete Landkarte an die Tafel, die Umrisse von Schleswig-Holstein, die Elbmündung, ein großer runder Punkt stellte Hamburg vor, und ein Kreuz etwas weiter oberhalb davon war seine Vaterstadt Pinneberg. Er sprach das so drollig aus, „Pinnäbäech“ oder so ähnlich, dass die Kinder lachen mussten. Da drehte er sich kurz zu ihnen um, zwinkerte, grinste und zuckte die Achseln, wie um zu sagen „Tja, was soll man da machen? - Aber ich lern’s schon noch!“

      „Hier bin ich geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen; mein Vater hat dort eine Uhrmacherwerks-tatt (erneutes Kichern), und er wollte immer, dass auch ich sein Handwerk erlerne und einmal das Geschäft weiterführe. Ich hab damit auch angefangen, ich meine mit dem Lernen, aber eigentlich wollte ich immer etwas anderes. Obwohl ich das einen sehr schönen Beruf finde. Aber seit meiner Schulzeit war mein großes Vorbild unser Klassenlehrer, dem wollte ich immer nacheifern. Schließlich haben meine Eltern mir erlaubt, auf ein Seminar in Hamburg zu gehen, und, na ja, wie ihr seht, jetzt bin ich tatsächlich selbst ein Lehrer und bin hier bei euch gelandet. Vorher habe ich zwei Jahre an einer Dorfschule in unserer Gegend unterrichtet, aber es hat mich doch wieder weitergezogen. Ich wollte in die große Stadt, Neues sehen und erfahren, und auch meine Ausbildung ergänzen, da habe ich mich hierher beworben. Und jetzt hoffe ich natürlich, dass wir gut mit einander auskommen werden und dass ich euch beibringen kann, was ihr später in eurem Leben brauchen könnt.“

      Hier machte er eine Pause. „Will vielleicht jemand von euch mich etwas fragen?“ Nach kurzem Zaudern hob Johannes da die Hand. Seit Herr Mäuthis von seiner Herkunft gesprochen hatte, seit der Name „Hamburg“ gefallen war, zogen, während er weiter aufmerksam zuhörte, Visionen von großen Schiffen, geblähten Segeln, blauem, weitem Meer vor seinen Augen auf. Reichlich verlegen fragte er: „Und wenn Sie in Hamburg waren, kennen Sie dann nicht auch den Hafen?“ - „Aber ja, dort habe ich sogar manchmal in den Ferien etwas Geld verdient.“ - „Oh!“, machte der Bub da nur. „Ja, aber nur mit Kisten Schleppen und Lastkarren Schieben und so weiter. Auf einem Schiff war ich höchstens, um Güter oder Gepäck raus oder rein zu befördern.“ Aber auch das reichte schon, um Johannes’ Phantasie Nahrung zu geben.

      Jetzt war das Eis gebrochen, und auch die anderen Kinder wollten Verschiedenes wissen und, ermutigt durch die offenkundige Umgänglichkeit des Neuen, riefen sie bald ganz ungezwungen ihre Fragen und Kommentare durcheinander in den Raum, bis Herr Mäuthis dem Einhalt gebot und mit beschwichtigend erhobener Hand sagte: „Jetzt wollen wir aber mal nicht vergessen, dass wir in der Schule sind, und uns an die Regeln halten. Wer etwas fragen will, der meldet sich und wartet, bis ich ihm das Wort erteile – einvers-tanden?“. So funktionierte es dann auch, und, ohne dass es den Kindern richtig zu Bewusstsein kam, brachte er in dieser freien Fragestunde, die noch so ganz aus dem üblichen Unterrichtsrahmen fiel, ein paar Belehrungen unter, nutzte jede Gelegenheit, ihnen ein paar Kenntnisse in Geographie, in Technik und was sich eben noch so ergab, unterzuschmuggeln. Und es sprach sehr für sein pädagogisches Geschick, dass es ihm gelang, diese Kinder - ungezähmte freche Großstadtgören zumeist, ganz und gar nicht auf den Mund gefallen, die auch noch spürten, dass der disziplinierende Druck eines hart durchgreifenden, unnachsichtigen Autoritätsmenschen plötzlich weggefallen war - diese Kinder also nicht gleich außer Rand und Band geraten zu lassen, auch ohne sich als strafandrohender strenger Feldwebel zu präsentieren.

      So wurde es schon Zeit für die Pause, durch die Gänge tönte scheppernd die vom Pedell geschwungene Schelle, und die Kinder strömten hinaus, die Treppen hinunter und ins Freie des Pausenhofes.

      Natürlich steckte man die Köpfe zusammen und tauschte die ersten Eindrücke von „dem Neuen“ aus.

      „Na, ich denke, jetzt brechen bessere Zeiten für uns an“, meinte Rudolph und stubste Fritz in die Seite. „Vor dem braucht sich ja nicht mal unser Fritzchen hier zu fürchten.“

      „Ja, der scheint wirklich richtig nett zu sein“, stimmte eins der Mädchen zu. „Schon dass er die ganze erste Stunde mit Erzählen zugebracht hat...“

      „Na, und dass er es überhaupt für nötig gehalten hat, uns so viel von sich zu erzählen!“

      „Aber reden tut er schon komisch, nicht? Das klingt ja wie... wie... wie ein Frosch! Hahaha - ‚Pinnäbäech’! ‚Hämbuäch’! ‚Wäeks-taad’! Quaakquaak!“

      „Das ist wieder richtig typisch, Rudolph - dafür, dass einer dich nicht klein macht, bedankst du dich, indem du ihn verspottest! Was kann er denn dafür, wo er herkommt, dass man da anders spricht als hier? Wahrscheinlich würde man uns dort genauso komisch finden. Und es sieht ganz so aus, als könnten wir heilfroh sein, dass er von dort hierhergekommen ist!“

      „Ach was, Johannes! Weil der mal ein Schiff aus der Nähe gesehen hat, lässt du schon nichts auf ihn kommen! Das ist ja doch albern!“

      „Albern bist du selber, weil du nichts kannst als dich lustig machen!“

      Der Streit hätte noch ausufern können, wenn nicht eben die Pause zu Ende gewesen wäre und sie alle wieder hätten in die Klasse zurückkehren müssen.

      In der nächsten Stunde wollte Herr Mäuthis nun seinerseits mehr über die einzelnen Kinder wissen. Er ging Reihe um Reihe durch, fragte ein Kind nach dem anderen, wie es heiße, was der Vater von Beruf sei, ob es noch Geschwister habe und was es selbst einmal werden wolle. Das machte sie nun direkt sprachlos vor Verwunderung - dass man sich so für sie persönlich interessiere, das waren sie überhaupt nicht gewohnt, und besonders die Mädchen konnten es kaum glauben, dass auch sie nach ihren Zukunftsplänen gefragt wurden. Dabei tat es gar nichts zur Sache, dass die meisten dazu wenig zu sagen hatten - was sollten sie schon für Pläne schmieden: die Einen, dass sie Fabrikarbeiter werden würden wie ihre Väter und hoffentlich nicht arbeitslos wie ihre Väter, die Anderen, dass ihnen das Gleiche bevorstand wie ein paar Jahre früher ihren Müttern, nämlich Kinder in die Welt zu setzen und sie unter Mühsal und Abrackern einigermaßen anständig durchzubringen und großzuziehen.

      Der junge Lehrer aber hatte sich dieses Verfahren wohl überlegt: Selbst aus der Kleinstadt, also mehr oder weniger vom Lande, aus einem weit entfernten Landstrich mit einer völlig anderen Mentalität stammend, war er schon mit dem festen Vorsatz hergekommen, sich möglichst schnell ein eigenes Bild von seiner neuen „Kundschaft“ zu machen, über deren Lebensverhältnisse und Charaktereigenschaften er natürlich bereits einiges gehört hatte. So hoffte er, sich selbst das Einleben erleichtern, aber auch, je besser er diese Kinder einzuschätzen wüsste, desto effizienter seinen Unterricht gestalten zu können.

      „Und wer bist du?“, war Agnes an der Reihe. Sie stand auf und antwortete „Agnes Meister.“ - „Und, was macht dein Vater?“ - „Nichts. Vater ist arbeitslos. Manchmal hat er für einen oder ein paar Tage irgendwas. Aber meistens tut er nichts.“ - „Dann verdient deine Mutter das Geld für die Familie?“ - „Die ist immer krank, die kann nicht arbeiten.“ - „Ja, aber, in Gottes Namen, wovon lebt ihr denn dann?“ - „Meine beiden Brüder gehen in die Fabrik.“ - „Und wie alt sind die?“ - „sechzehn und siebzehn.“ - „Und hast du noch mehr Geschwister?“ - „Ja, wir sind sieben.“ - „Ach Du meine Güte!“, seufzte Herr Mäuthis und traute sich kaum weiterzufragen: „Und weißt du denn schon, was du einmal tun willst?“. „Naja, ich werde wohl auch Kinder kriegen...“ - „Ja, und der Vater dazu wird der Karl sein!“, ließ sich Rudolphs freche Stimme hören. Agnes schaute ihn mit gerunzelter Stirn an und war ganz aus dem Konzept gebracht. „Danke, du kannst dich setzen“, erlöste sie der Lehrer, „und wer ist nun Karl?“. Der erhob sich mit rotem Kopf, nachdem er seinem Nachbarn unter der Bank einen festen Tritt versetzt hatte.

      „Karl Gulach. Mein Vater ist Schuster. Ich hab nur zwei Geschwister.“ - „Und willst du denn auch mal Schuhmacher werden?“ - „Nein, ich werde wohl in die Fabrik gehen. Alle arbeiten doch heute in der Fabrik. Da verdient man sein Geld doch schneller und leichter, glaub’ ich.“ Er durfte sich setzen, und seine Gesichtsfarbe normalisierte sich allmählich wieder, als er merkte, dass auf das Thema einer Familiengründung nicht näher eingegangen würde.

      Nun wurde die unterbrochene