Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
Скачать книгу
sie an den Hüllen fest“, rief er nach unten. „Und jetzt drehen sie an so Rädern. Hört ihr das Pfeifen und Zischen? Bestimmt pusten sie jetzt die Ballons auf!“.

      Die eben noch flach und schlaff daliegenden Stoffkreise gewannen an Dicke, wuchsen zu unförmig wulstigen Landschaften, rundeten sich langsam zur Halbkugel, Einzelne bäumten sich an einem Ende etwas auf, lupften sich vom Boden, schienen plötzlich selbständige Wesen mit Eigenleben und Bewegungsdrang. Der Eine oder Andere formte sich schon prall und rund, füllte das Netz, in dem er gefangen war, völlig aus, richtete sich auf und begann, an den Seilen zu zerren, mit denen starke Gewichte ihn ringsherum am Boden festhielten. Es war, als würde eine außerweltliche Mannschaft absurder überdimensionaler Kobolde nach und nach aus einem kollektiven Tiefschlaf erwachen und Tatendurst entwickeln. Wo die Vorbereitungen schon am weitesten fortgeschritten waren, ließ man den Ballon vorsichtig so weit hochsteigen, dass man den Korb unterhalb des Netzes befestigen konnte. So entstand schließlich ein Bild von absonderlicher Schönheit aus der Vielzahl an Farben und Mustern der Ballons in den unterschiedlichen Stadien des Aufblasens, sich gegenseitig halb verdeckend, vor-, neben-, hinter-, übereinander, manche noch fast flach am Boden, andere schon ein paar Meter darüber schwebend, im leichten Wind hin und her tanzend und ungeduldig an ihren Fesseln zerrend, fast wie eine Ansammlung bunter Seifenblasen, die sich nach und nach aus der Lauge lösen und aufsteigen.

      Mit einem Mal verstummte die Blaskapelle und über ein Megaphon wurde den Zuschauern irgendetwas angekündigt, was man hier außerhalb des Zaunes nicht mehr verstehen konnte. Da stiegen von irgendwoher eine ganze Anzahl kleiner feuerroter Versuchsballons auf und entschwand rasch im blauen Himmel, und die kleinen Geschwisterkinder kreischten auf vor Vergnügen. „Bestimmt geht es jetzt bald los!“, rief man aufgeregt, und wer gerade sich im Grase ausruhte, sprang schnell auf und kletterte auf seinen Posten. Johannes klopfte das Herz schneller vor Spannung, da plärrte einer von Agnes’ kleinen Brüdern verzweifelt, er könne nichts sehen, und heulte laut los. Schnell stieg er bis zu den unteren Zweigen herunter - „Jetzt aber schnell, komm, Maxe, ich hol dich rauf“. Der Kleine lief zu dem Baum, er zog ihn herauf und wies ihm einen Platz zu, wo er sich gut festhalten konnte; dann kehrte er zu seinem eigenen Ast zurück, hoffend, dass er nicht gerade in dieser Minute Entscheidendes versäumt hätte. Kaum saß er wieder, da legte die Militärkapelle mit doppeltem Elan los, und einer der Ballons löste sich langsam aus dem Gesamtbild, stieg über die anderen hinaus, bald tauchte der Korb mit drei Männern darin auf, die jeder mit einem Sandsack hantierten und dessen Inhalt allmählich über Bord schütteten. Schon sah man bei einem weiteren Korb zwei Männer mit Hilfe einer Strickleiter hineinklettern, während eine Hilfsmannschaft sich an den Fesseln mit den Gewichten zu schaffen machte. Johannes wusste gar nicht, wohin er schauen sollte, aber dann wollte er für diesmal doch den ersten Start nicht aus den Augen verlieren. Da war dieser Ballon bereits über das Startfeld, die Zuschauerreihen und über den Bretterzaun hinweggesegelt und stand groß und mächtig gerade nur ein paar wenige Meter - so schien es doch wenigstens - dicht vor und über ihm, verdeckte ein riesiges rundes Stück Himmel, die amerikanische Flagge, die ihm an der Seite lang herabhing, wedelte im Wind, und fast glaubte er, er müsse nur die Hand ausstrecken, um den Weidenkorb berühren oder die Hände der Insassen schütteln zu können. Das dauerte jedoch nur einen Moment lang, denn schon schwebte das seltsame Gefährt, indem es gleichzeitig immer weiter an Höhe gewann, mit dem Wind davon. Immer kleiner wurde die eben noch so imposante blau-gelb gestreifte Kugel, der Korb und erst recht die Menschen der Besatzung, die gerade noch hörbar fröhlich lachend der jubelnden Menge und den Kindern hier zugewunken und sie gleichzeitig großzügig mit Sand bestreut hatten. Inzwischen war der zweite Ballon startklar und hob zu den Klängen einer anderen Hymne ebenso unaufgeregt, ruhig und um die begeisterten Zuschauerscharen völlig unbekümmert ab, löste sich von der Erdenschwere und trug seine Besatzung über die Köpfe der Menge davon. Nun folgte in ein- bis zweiminütigen Abständen, jeder mit der ersten Strophe seiner eigenen Nationalhymne geehrt und gegrüßt, ein prächtig bunter Ballon auf den anderen. Der Junge schaute und schaute sich fast die Augen aus dem Kopf, wollte noch den letzten stecknadelkopfgroßen Rest jedes einzelnen verfolgen, und fühlte sich dabei ergriffen von einer ganz neuartigen Mischung aus Euphorie, Sehnsucht und einer winzigen Spur Traurigkeit - so einfach davonschweben zu können, dem Himmel nah, und doch gerade die Erde entdeckend, erobernd - was für ein Gefühl der Freiheit und Allmacht musste das sein; neue Horizonte, heraus aus der Enge des Bekannten und Eingeschränkten, erfahren, wie es anderswo wäre, und das in der Ungebundenheit der Lüfte und nicht mühsam auf der Erde dahinkriechend wie ein Wurm; Abenteuerlust, Entdeckerdrang regten sich in ihm, und ohne klar artikulierbare Gedanken entstand in ihm die Sehnsucht, selbst einmal irgendeine Art von Pionier zu werden...

      Eine Weile hatte er sich diesen Visionen hingegeben, mit heftig klopfendem Herzen, und nicht mehr auf die Dinge geachtet, die unmittelbar vor seinen Augen sich abspielten. Da erhob sich plötzlich ein tausendkehliger Aufschrei. Erschrocken sah er sich um; aber die Laubkrone seines Baumes verdeckte die Seite, nach der alle schauten. „Was ist denn los?“, rief er nach unten. „Einer ist abgestürzt! - Ein Ballon ist kaputtgegangen!“, rief es aufgeregt durcheinander. Alles Blut wich ihm aus dem Gesicht und seine Hand krampfte sich um den Ast, an dem er sich hielt. „Hast du das nicht gesehen, Hannes? - Zuerst ist er an den Zaun gestoßen, dann haben sie ein paar Säcke hinausgeworfen - Nein, die sind ihnen dabei heruntergefallen - Und er ist pfeilschnell nach oben geschossen - Und dann ist er geplatzt - Und heruntergefallen - Aber ich hab gesehen, dass so was wie ein Fallschirm aufgegangen ist, und er ist ein bisschen langsamer gefallen - Jedenfalls war er ziemlich schnell nicht mehr zu sehen.“

      ‚Ach, du großer Gott!', dachte Johannes. So etwas konnte also auch passieren. So schön hatte er sich gerade alles ausgemalt, aber, wie es schien, konnte aus der großen Freiheit auch ein großes Unglück werden! Er überlegte schon, ob er hinunterklettern sollte, da ging zunächst ein Raunen durch die Zuschauerreihen und dann doch tatsächlich ein lautes Lachen. Da kam auch schon Elsa über den Zaun gesprungen und rannte auf die Freunde zu: „Stellt euch nur vor, sie sind auf ein Hausdach gestürzt, irgendwo nicht weit von hier, es ist aber nichts weiter passiert - höchstens vielleicht dem Dach - und dann sind sie durchs Dachfenster hineingeklettert und trinken jetzt bestimmt Kaffee bei den Leuten!“ Da lachten sie alle erleichtert mit und waren froh, sich am Rest der Veranstaltung weiter freuen zu können, die jetzt, nachdem man sie natürlich aufgrund der Beinahe-Katastrophe erst einmal unterbrochen hatte, wieder fortgesetzt wurde.

      Nun dauerte es nicht mehr lange, bis alle Luftschiffe gestartet waren und die Menge begann, in Richtung Ausgang zu drängen und allmählich sich zu verlaufen. Aber erst, als von dem letzten Ballon nicht einmal der kleinste Punkt mehr zu erahnen war, stieg Johannes von seinem Baum, half dem kleinen Max auch hinunter, und die Freunde kamen bei Agnes’ Leiterwagen wieder zusammen, um den Rückweg anzutreten.

      „War das nicht wirklich einfach toll?“ rief Elsa begeistert. „Ja!“, seufzte Johannes nur. „Schön sah es schon aus, mit den vielen bunten Farben“, gab Agnes zu. „Aber wie man sieht, können sie auch abstürzen, das fand ich weniger nett.“ - „Ach was, die hatten doch einfach nur Pech. Und dann ja sogar noch Glück im Unglück. Schließlich kann einem hier unten am Boden auch so allerhand passieren.“ - „Wohin man nicht alles fliegen könnte!“, sinnierte Frieda, sichtbar mit lebhaften inneren Bildern beschäftigt. „Na, wohin wirst du denn wohl fliegen wollen, Frieda?“, spottete Rudolph. “Jedenfalls könnte man selbst nicht groß bestimmen, wohin die Reise geht, die Dinger kann man ja nicht mal lenken!“, krittelte er noch pragmatisch. „Ist doch egal! Hauptsache fliegen, Hauptsache reisen und sehen, wie es anderswo ist!“, rief Johannes. „Ah pah! Du würdest doch nie wegfahren und deine Mutter allein lassen, das glaubst du doch selber nicht!“, versetzte Rudolph. „Aber warum müsste es denn gleich weit weg sein?“, fragte Karl. „Man könnte doch jedenfalls wenigstens hier in der Gegend ein bisschen spazieren fahren. Wir würden die Kleinen in den Korb packen und einen tollen Ausflug zum Badesee machen, nicht wahr, Agnes? Und bräuchten uns schon nicht die Füße wund zu laufen.“ (Hier tauschte der Rest der Gruppe ein heimliches Grinsen aus). „Ja, oder wir könnten übers Schloss fahren und der Kaiserin ins Schlafzimmer gucken“, meinte Frieda. „Oder vielleicht“, ließ sich der stille, blasse Fritz hören und schaute dabei um Anerkennung buhlend zu Johannes hinüber, „vielleicht könnten wir wenigstens über unsere Mauer fliegen und endlich sehen,