Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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etwas davon zu ahnen und hatte die Aufgabe, nur halb bewusst, sich ein wenig zu eigen gemacht. Mindestens bei Auseinandersetzungen oder Hänseleien unter den Straßenkindern nahm er ihn öfter in Schutz - vor den Leiden in der Familie konnte er ihn selbstverständlich nicht behüten.

      Natürlich gelang es Fritz nicht, unbemerkt ins Haus zu kommen. Als die Eltern ihn erblickten und ihn ansprechen wollten, dabei seine vor Schreck aufgerissenen Augen sahen, aus denen schon die ersten Tränen traten, verlor der Vater schon gleich die Geduld, und Mutters Brauen zogen sich in unwilliger Furcht düster zusammen. „Was ist denn nun schon wieder? Wie kommst du denn daher? Da denkt man, der Junge muss doch wohl einen schönen Tag gehabt haben, und man hat doch schließlich das Seine dazu getan, da kommt er hier hereingeschlichen wie die arme Sünde selbst. Also, was gibt’s?“ Inzwischen stand Fritz längst schon mit hängenden Schultern, abgewandtem Gesicht und tropfenden Augen da. „Jetzt wollen wir dann erst mal das Taschengeld abrechnen - wie viel hast du ausgegeben?“ Keine Antwort, nur ein tieferes Senken des Kopfes. „Antworte endlich! Steh nicht hier rum wie ein begossener Pudel! Was ist mit dem Geld, und wo ist mein Tabak?“, fuhr der Vater ihn an. Ein unverständliches Murmeln ließ sich hören, und der Junge zuckte unwillkürlich weiter vom Vater weg. Der packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn roh und schrie ihn an: „Wirst du mich wohl ansehen, wenn ich mit dir rede, und laut und deutlich antworten wie ein Mann??!“ - „Ich hab’s verloren“, flüsterte Fritz mit gesenkten Augen und konnte vor Angst sich schon kaum mehr auf den Beinen halten. „Wie?! Ich versteh’ wohl nicht gut? Verloren??!“ Und schon schallten die Ohrfeigen, griff der Vater sich die Rute, die handlich in einer Nische bereit steckte, und drosch schimpfend und fluchend auf das schluchzende Kind ein, das vor Schmerz, Reue und Verzweiflung außer sich war und, den Kopf zwischen den beiden Armen vergraben, vergeblich wenigstens den schlimmsten Schlägen auszuweichen suchte. Die Mutter ließ das alles mit abgewandtem Kopf und zusammengekniffenem Mund geschehen, die kleine Schwester stand gegen die Knie der Mutter gedrückt, ein Stückchen von deren Rock fest umklammernd, und schaute mit großen, ernsten Augen zu. Keiner der Beteiligten ahnte, dass es viel mehr Fritzens schwächliche Furcht war, der unruhig ausweichende, angsterfüllte Blick, der gar nichts anderes als rohe Gewalt zu erwarten schien, was den Vater zu solch ungezügeltem Zorn provozierte. Ralph, der Bruder, hätte einfach dagestanden und mutig gesagt „Loch in der Hose, Geld verloren, ’tschuldigung“, hätte eine Ohrfeige kassiert und wäre schulterzuckend seiner Wege gegangen.

      Als der Vater endlich seine Wut abreagiert hatte, schob er den Jungen unsanft in das Hinterzimmer, wo die Betten standen, und verbot ihm, sich heute noch einmal zu zeigen. „Abendbrot gibt’s keines, klar?!“ Da lag er über eines der Betten geworfen, von wilden Schluchzkrämpfen durchschüttelt, mit brennenden Gliedern, aber des körperlichen Schmerzes kaum bewusst: In unaufhaltsamem Fall war er abgestürzt, in eine tiefe Nacht aus grenzenloser Selbstverachtung und bitterstem Überdruss, die nicht nur sein Inneres sondern das ganze ihn umgebende Universum restlos ausfüllte, und worin er so vollständig versank und sich auflöste, dass diese schwarze Finsternis ihm fast schon wieder eine paradox tröstliche Betäubung bescherte. Als nach einer ganzen Weile, während derer er so gelegen hatte und seine Schluchzer seltener und schwächer geworden waren, die Mutter leise hereinkam, sich zu ihm setzte, ihm wortlos ein Stück Brot in die Hand schob und die ihre auf seine Schulter legte, reichte der halbherzige Tröstungsversuch gerade aus, um den Schmerz mit einem leisen Wimmern neu aufleben zu lassen. Bald ging die Mutter hilflos seufzend wieder hinaus. Mit dem Stück Brot in der Hand schlief er dann endlich ein, und so ging für Fritz der Tag der bunten Ballons und schwebenden Verheißung zu Ende, indem er nur gerade eben in einer wenigstens vorübergehend heilsamen Bewusstlosigkeit erlittene Schmach und Schmerzen, seine Angst vor dem neuen Tag, dem neuen Schulzyklus, dem Rohrstock des neuen Lehrers und den mitleidlos überlegenen Altersgenossen vergessen durfte.

      Ein lautes und kunterbuntes Hallo begrüßte Elsa, als sie zur Tür hereingesprungen kam und sogleich begann, fröhlich schwatzend zu erzählen. Von dem Chaos aus Gegenfragen, Widersprüchen der Brüder, die selbst dort gewesen waren, Unterbrechungen aus Geschwisterneckereien und -zankereien und elterlichen Zurechtweisungen, gegen das sie anreden musste, ließ sie sich nicht im Geringsten aufhalten. Wer nicht zuhörte, verpasste eben ihren Bericht, selber schuld, und so beschrieb sie mal den einen, mal den anderen Mitgliedern ihrer großen Familie, was sie gesehen, getan, aber auch, was sie nicht gesehen hatte - wo ihr eigene Anschauung fehlte, ließ ihre Phantasie sie so schnell nicht im Stich. Die Eltern waren auf gutmütig zerstreute Art selbst fast kindlich interessiert, und während die Mutter in dem Durcheinander, das hier herrschte, die nötigen Sachen zum Richten des Abendbrotes zusammensuchte und der Vater nebenher in einer alten Zeitung blätterte, gaben sie beeindruckte oder ungläubige Kommentare ab - „nein, wie ist das nur möglich! - Da würden mich ja keine zehn Pferde hineinbekommen!“, oder „Nu mach aber mal halblang, jetzt flunkerst du sicher wieder!“

      Irgendwann schlug sich Elsa an die Stirn. „Ich muss euch ja was zeigen!“, rief sie und zog aus irgendeinem Winkel ihrer Kleidung einen bunten Gegenstand hervor. Den hielt sie ins Licht, und zum Vorschein kam ein Traum von einem Schal oder indischen Überwurf: ein großes quadratisches Tuch, diskret seidig schimmernd, mit orientalischen Stickereien von Vögeln und Schmetterlingen zwischen zart verästelten Zweigen in schweren, intensiven Farben, hier und da mit Silhouetten aus Goldfäden abgesetzt, alles auf einem Untergrund von verhalten leuchtendem, samtigem Burgunderrot. In der ärmlichen Umgebung aus schäbigem, ramponiertem Mobiliar, nicht eben vorbildlich sauberen Menschen verschiedensten Alters, abgetragenen, vielfach geflickten oder auch gar nicht ausgebesserten Kleidern und einem wilden Sammelsurium von ebenso vernachlässigten Gebrauchsgegenständen nahm sich das edle Tuch wie ein Fremdkörper aus einer anderen Welt aus. Elsas Augen strahlten glücklich, als sie das Prachtstück in die Runde hielt.

      „Ist er nicht wunder-, wunder-, wunderschön??!“

      „Wo in drei Teufels Namen hast du denn den schon wieder her?“, fragte der Vater erschrocken.

      „Den? Den ... hab ich gefunden“, meinte Elsa nicht sehr überzeugend.

      „Gefunden? Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“

      „Naja, der hing über einer Sitzbank, auf der Tribüne.“

      „Ja, sicher, und bestimmt ganz herrenlos, weit und breit keine Eigentümerin zu sehen, was?“

      „Hm, wahrscheinlich hat er der Dame gehört, die gleich daneben saß... Aber es war ganz leicht, sie war so abgelenkt mit Schauen.“

      „Kind, Kind, du bringst uns noch in Teufels Küche!“, klagte die Mutter.

      „Aber es hat mich wirklich bestimmt niemand bemerkt“, versicherte Elsa.

      „Na, nun ist es ja jedenfalls geschehen, zurückbringen wirst du ihn ja wohl nicht gut können. Aber was willst du überhaupt damit anfangen? Tragen kannst du ihn doch auf gar keinen Fall, da kassiert dich die Polizei ja gleich vom Fleck weg.“

      „Nein, ich will ihn nur hier haben und ihn immer wieder anschauen. Er ist sooo herrlich!“

      „Na, Geschmack hat die Göre ja, und Sinn für Qualität, das muss man ihr lassen“, brummte der Vater, „das ist mit Sicherheit Eins-A-Material und ein ganz wertvolles Stück. Lass dich nur ja nicht damit erwischen!“

      Nun hätte man ja nicht gerade behaupten können, dass alle Bewohner dieses Viertels sich immer fest an das siebte Gebot gehalten hätten. Manche Leute hier waren so arm, dass ihnen schier nichts anderes übrig blieb als den Mangel ein wenig auszugleichen, indem sie hin und wieder Essbares oder Bargeld, oder was man dazu machen konnte, mitgehen ließen. In manchen Familien überließ man das, selten durch direkte Anweisung, eher durch stillschweigendes Hinnehmen, den Kindern, bei denen man glaubte, auf Nachsicht von Seiten der Justiz hoffen zu dürfen. Trotzdem legten aber doch die meisten großen Wert darauf, sich halbwegs unbescholten zu halten, schon aus dem Bewusstsein heraus, in einer Gegend zu wohnen, die den Argwohn der Bürgerschaft und der Gesetzeshüter auf sich ziehen musste. In jedem Fall wurde, wenn, dann pragmatisch und zweckgebunden gestohlen. Bei Elsa dagegen war es etwas Anderes: Sie hatte offenbar eine angeborene Begabung, eine Flinkheit und Geschicklichkeit, die sie geradezu zur Taschendiebin prädestinierte, und dieses Talent übte einen starken