Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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sich vor dem Hintergrund einer mit Gelb- und Ockertönen angedeuteten Savannenlandschaft ein paar exotische Exemplare - bunte Schlangen und Vögel, Antilopen, Zebras und ein massiges, furchterregendes Nashorn.

      All dies war für das Stadtkind, dessen persönliche Bekanntschaft mit der Tierwelt naturgemäß äußerst begrenzt war, durchaus interessant und horizonterweiternd. Jedoch konnte er dabei nicht recht froh werden, konnte sich eines leicht unangenehmen, befremdeten Gefühls nicht erwehren angesichts all dieser steifen, stummen, staubig wirkenden Gestalten. Eine wirkliche Anschauung des durch sie repräsentierten Lebens wollte sich einfach nicht einstellen.

      Aber so richtig gruselte es ihn erst, als er vor solche Vitrinen trat, die in Gläsern konservierte Organismen zeigten: Kleintiere, Jungvögel, einzelne Organe; einige dieser Glaszylinder waren dicht gedrängt angefüllt mit umeinander gewundenen Schleichen, Fischen, Schlangen, bleich und farblos wie zu lange im Einmachglas verbliebene Kirschen; mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen betrachtete er gar den Fötus einer Katze, nicht mal so groß wie seine Handfläche, der hier nackt, zusammengekrümmt, blind, vergilbt und verschrumpelt in seiner Formalinlösung schwebte. Er schüttelte die aufkommende schwache Übelkeit ab und ging schnell weiter.

      Am Ende einer kurzen breiten Zwischenhalle atmete er dann erleichtert auf: ein Bogendurchgang gab den Blick frei in einen hohen und weiten Saal, eher ein gedeckter Innenhof, in den durch eine raffinierte Glasdachkonstruktion ein angenehmes indirektes, dennoch helles und freundliches Licht fiel - eine Wohltat nach der eher schummrig-trüben Beleuchtung in den Vitrinenräumen. Die Zugänge zu diesem Bereich waren auf allen vier Seiten durch provisorische Absperrungen gesichert. Wenn man aber schon nicht hineingehen konnte, so konnte man doch dem regen und fleißigen Treiben zusehen, das sich darin entfaltete: ein großes Gestell, eine Vielzahl unterschiedlich hoher Leitern und vor allem ein ganzer Schwarm weißbekittelter Menschen, die leiterauf, leiterab herumwuselten und dabei den Eindruck vermittelten, sie wüssten genau, was sie taten. Als einer von ihnen einmal in seiner Nähe vorüber ging und dabei dem Jungen freundlich zulächelte, fasste dieser Mut und fragte schnell, was denn hier wohl vor sich gehe? „Sieh dir einfach mal die Schautafel hier neben an der Wand an. Und schau mal dort hinten rechts - was denkst du, was da liegt?“ Johannes sah eine Ansammlung großer hellgrauer unregelmäßig geformter länglicher Stücke von irgendetwas. „Das sind die Knochen von einem Saurier, die erst kürzlich bei einer Expedition in Afrika gefunden wurden und vor zwei Wochen hier angekommen sind. Und wir wollen jetzt versuchen, daraus das Skelett zusammenzusetzen, wie es zu Lebzeiten seinen gewaltigen Körper getragen hat.“

      Und tatsächlich: Wenn das die einzelnen Knochen eines Lebewesens sein sollten, dann musste dieses gigantische Ausmaße gehabt haben!

      Dank der Lehren vom Schulvormittag nicht mehr ganz unbedarft, fragte er, ob es dieses Tier heute denn immer noch irgendwo auf der Welt gebe. Da lachte der Mann und meinte: „Zum Glück nicht, sonst würde es uns wohl an den Kragen gehen. Nein, der und seinesgleichen sind vor vielen tausend und abertausend Jahren ausgestorben, und wenn er Nachkommen hinterlassen hat, dann höchstens im Schrumpfformat - Salamander, Leguane, Eidechsen und derartiges Getier.“

      Er hätte selbst nicht recht zu sagen gewusst warum, aber der Anblick dieser Knochen, die doch mindestens ebenso tot waren wie die ausgestopften und eingelegten Tiere vorhin, machte ihm überhaupt nichts aus, er hätte sich sogar vorstellen können, sie zu berühren und bei dem großen Steckspiel, das hier im Gange war, mitzuhelfen. Noch lange stand er da und schaute zu, bis die Leute offensichtlich auf den Feierabend hin aufräumten. Dann ging er, verstaubtes und vergilbtes Getier rechts und links keines Blickes mehr würdigend, hinaus.

      In den folgenden Wochen fand Johannes noch oft den Weg zum Lichthof des Museums. Auf keinen Fall wollte er den Fortgang der Arbeiten versäumen, wollte unbedingt miterleben, wie das Riesentier, von dessen Existenz er bis vor so Kurzem noch gar nichts geahnt hatte, allmählich Gestalt annahm - und was für eine Gestalt! Nach einer Weile hatte sich auch der wachsame Wärter mit ihm abgefunden und gönnte ihm sogar ein knappes Nicken. Auch für die Handwerker und Wissenschaftler im Saurierhof gehörte er bald zum Inventar, und der eine oder andere nahm ihn mit einem freundlichen Lächeln oder Augenzwinkern zur Kenntnis.

      Auf dem Heimweg von einer dieser Expeditionen sah er im winterlichen Nachmittagsdämmer ein paar Schritte vor ihm ein Mädchen den Bürgersteig entlang gehen, dessen krauses, stumpfbraunes Struwwelhaar in zwei mit einer schiefen Schleife zusammengebundenen Zöpfen nicht ganz erfolgreich gebändigt war.

      „Oh, hallo, Elster“, rief er und holte die paar Schritte auf. „Was machst du denn hier?“ - „Ach, Tag, Hannes! Na, sieht man dich auch mal wieder?“ antwortete Elsa. „Ich hab bloß Mutter mit dem Gemüsekarren geholfen.“

      „Und was machen die anderen?“

      „Die, ach, keine Ahnung. Oder doch, die meisten sind in die Stadt gezogen.“ Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, dann legte Elsa los: „Aber weißt du übrigens, es ist ganz schön schade, dass du jetzt so oft weg bist. Wenn du nicht dabei bist, ist es richtig doof. Rudolph bildet sich dann nämlich ein, er kann uns alle rumkommandieren und ist dabei blöder denn je. Es gibt Streit, aber dann auch wieder nicht richtig, einfach schlechte Laune eben. Fritzchen hält Abstand und ist, glaub ich, nur dabei, damit er nicht zuhause sein muss, sagt aber überhaupt kein Wort mehr. Trotzdem kriegt er aber immer wieder von Rudolph sein Fett weg. Wenn du da bist, ist das irgendwie anders, da nimmt er den Mund nicht ganz so voll. - Jetzt sind sie, außer Fritz, in die Innenstadt gegangen, ‚Elektrische fahren’“.

      „Ah, dazu hätt’ ich auch mal wieder Lust!“, rief Johannes.

      „Ich hätte auch mitkommen sollen“, erwiderte Elsa, „aber mit diesen blöden Mädchenkleidern macht das ja gar keinen Spaß. Das ist richtig ungerecht.“

      „Elektrische fahren“, das war ein beliebter Freizeitspaß unter den Schul- und Straßenkindern. Keineswegs bedeutete das, brav ein Billet zu lösen und im Wagen durch die Gegend zu fahren. Es hieß, der Straßenbahn an einer Ecke, wo sie das Tempo drosseln musste, aufzulauern, auf die etwas monströse Schutzkonstruktion aus Eisenstangen und Drahtnetz am vorderen Ende aufzuspringen, sich mit aller Kraft festzuhalten, ein Stück weit mitzufahren und rechtzeitig wieder abzuspringen. Das war ein bisschen gefährlich, ziemlich verboten, verlangte Geschick und etwas Mut. Ab und zu wurde man erwischt, fing sich eine Verwarnung ein oder auch mal eine Ohrfeige, aber es machte einfach großen Spaß. Für Mädchen, wie Elsa richtig beklagte, mit ihrer unpraktischen Kleidung, eignete sich der Sport allerdings weniger.

      „Und du? Wo bist du gewesen, oder besser, was hast du denn eigentlich in letzter Zeit für Esel zu kämmen, dass du so oft unterwegs bist?“

      Da berichtete er ausgiebig und begeistert von dem Ziel seiner Ausflüge. „Und nächste Woche soll es dann so weit sein, dann wollen sie das Skelett fertig haben und richtig öffentlich zur Schau stellen. Da muss ich unbedingt wieder hin.“

      „Dann hatte Rudolph ja sogar ein klein wenig recht!“, lachte Elsa da. „Der behauptet nämlich, du gehst deinen Großvater besuchen. Seit du damals in der Schule diese Geschichte vom Adam mitgebracht hast und seitdem immer wieder so geheimnisvoll verschwunden bist, hat er sein Lieblingsthema gefunden - dass manche Leute eben Affen zu Großeltern hätten. Er natürlich nicht. Überhaupt macht er dich hinter deinem Rücken andauernd schlecht, du würdest immer eingebildeter und oberschlauer und so. - Ich find’s aber toll, dass du so was machst, so... so ernsthafte Sachen, meine ich. Wenn du davon erzählst, finde ich es auch ganz spannend. Aber sonst wär das wohl leider nichts für mich. Ich hab halt ein für alle Mal bloß Flausen im Kopf!“, grinste sie spitzbübisch und zuckte komisch-resigniert mit den Schultern.

      Mit der angekündigten öffentlichen Ausstellung des fertigen Saurierskeletts wurde es dann leider doch nichts, und Johannes erlebte eine herbe Enttäuschung, als er zur festgesetzten Stunde beim Museum ankam: am Eingangsportal klebte ein großer Zettel, der „die interessierte Öffentlichkeit“ davon in Kenntnis setzte, dass die korrekte Zusammensetzung des Sauriers beim ersten Versuch leider gescheitert sei und daher die feierliche Zugänglichmachung und offizielle Übergabe an das geschätzte Publikum heute ausfallen müsse. Das Nähere sei der Tagespresse zu entnehmen.

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