Elsa hatte es unter den Nachbarskindern, was ihr Zuhause anging, wohl mit am besten getroffen: Die Eltern hatten, obwohl mindestens so arm und bedrängt im Lebenskampf stehend wie die anderen, sich eine gutgelaunte, lachende Indolenz bewahrt; mal reichte es gut, mal nicht so ganz, insgesamt herrschte Unordnung und Schludrigkeit auf allen Ebenen, aber irgendwie ging es immer weiter, alle nahmen’s recht gelassen, und mit diesem gleichmütigen Optimismus und Schlendrian wurstelten sie sich und ihre Kinderschar schlecht und recht durch, ließen sich so schnell durch nichts aus der Ruhe bringen. Die Kinder ihrerseits verband untereinander eine ebenso unaufgeregte, nicht sehr demonstrative, erst recht nicht sentimentale Geschwistersolidarität.
In Elsas Träumen dieser Nacht webte eine Flotte der schönsten, buntesten Luftballons durch die Baumkronen eines lichten Waldes, zwischen dem lockeren Gewirr graziler Zweige glitten lautlos farbenprächtige Vögel, von deren Flügeln goldener Staub herabrieselte, und riesige Schmetterlinge, so bunt und herrlich gemustert, wie sie sie im Leben noch nie gesehen hatte, ließen sich hie und da sanft nieder; sie selbst schwebte im Korb eines der Ballons durch die Lücken des Gezweiges immer höher hinauf, einem unwirklich getönten Himmel entgegen, dessen Purpurfarbe, je freier man bis zum Horizont blicken konnte, desto intensiver, geheimnis- und verheißungsvoller wurde. So schlief Elsa dem neuen Tag, dem neuen Schuljahr, neuen Erlebnissen und aufregenden Funden leise lächelnd entgegen.
„Junge, wo bleibst du denn nur so lange?“, rief Johannes‘ Mutter ihm entgegen, während sich ihre angespannte Miene zu einem erleichterten Lächeln glättete. „Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Die anderen sind ja längst schon zurückgekommen!“
„Tut mir leid, Mutter, aber ich war mit Rudolph noch in der Stadt. Er hat mich so lange überredet, bis ich mitkam, ins Panoptikum, und es war auch wirklich ganz doll interessant; und danach hat er mich immer noch aufgehalten, bis er endlich selber weiter musste. - Hast du die Wäsche fertig? Ich geh dann gleich los.“
„Aber du hast doch sicher erst mal Hunger!“
„Nein, ich will das hier zuerst erledigen. Ich weiß doch, du machst dir Sorgen, dass dir die Kundschaft wegläuft, wenn die Sachen zu spät geliefert werden.“
Mit diesen Worten schulterte er einen großen Weidenkorb, in den mehrere in braunes Papier sauber eingeschlagene Pakete geschichtet waren - die Bügelwäsche dieser vergangenen Woche, die seine Mutter bis heute Abend bei den verschiedenen Auftraggebern abgeliefert haben musste. Gewöhnlich trug sie die Sachen selbst aus, aber in den letzten Tagen fühlte sie sich nicht gut, und da hatte er sich natürlich anerboten einzuspringen. Etwas zu schwer war die Last eigentlich schon noch für seine zwölf Jahre, aber sein Stolz ließ es nicht zu, sich etwas anmerken zu lassen.
Mit solchen Bügel-, Wasch-, Flick- und Näharbeiten mühte sich die Mutter, die magere Witwen- und Waisenrente aus der Sozialkasse aufzubessern, seit ihr Mann an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorben war. Johannes war damals noch keine drei Jahre alt gewesen. Dringend hatte der Vater ihr noch ans Herz gelegt, dafür zu sorgen, dass der Junge einmal ordentlich die Schule besuchen und eine anständige Lehre machen konnte, so, wie sie es beide immer vorgehabt hatten.
Das war von früh an seine Rede gewesen, immer wieder hatte er Pläne gemacht, wie sie beide sich ins Zeug legen würden, um ihren Kindern einmal eine möglichst solide Ausbildung zu ermöglichen. Unter seinesgleichen war das nun keineswegs selbstverständlich, auch er selbst hatte kaum Bildung genießen dürfen, gerade einmal, dass er in ein paar Volksschuljahren die Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen beigebracht bekam, etwas Religion, Gottesfurcht und Gehorsam. Dann hatte er schon als ungelernter Fabrikarbeiter seinen Lebensunterhalt verdienen müssen, lange, endlos lange Arbeitstage und -wochen stand er durch, und nur weil er eine rare Mischung aus Zähigkeit, Energie, gesundem, widerstandsfähigem Organismus und einem unruhigen, neugierigen, leicht rebellischen Geist besaß, hatte er sich in seinen technisch-handwerklichen Kenntnissen so voranarbeiten können, dass er bald mit einem ausgebildeten Schlosser mithalten konnte. Darüber hinaus aber wurde er Mitglied eines Arbeitervereins und besuchte abends und sonntags die dort angebotenen Fortbildungsveranstaltungen; und als er heiratete, schwor er sich, dass er, koste es, was es wolle, seinen Kindern den Rücken frei halten wollte, damit sie einmal nicht darauf angewiesen wären, sich ein paar Brocken Wissen und Aufklärung, ein dünnes Stückchen Menschenwürde in spärlichen, der Erschöpfung und Ausbeutung abgerungenen freien Stunden zusammenzuklauben.
Seit zehn Jahren setzte Anna Reiser also schon alles daran, diesen letzten, inständigen Wunsch ihres Mannes nach besten Kräften zu erfüllen. Natürlich ging ihr Sohn in die Schule, noch unterlag er ja ohnehin der Schulpflicht; aber, anders als in vielen Familien ihrer Umgebung, ließ sie es nicht zu, dass er mehr Zeit und Kraft auf Hilfsarbeiten zum Gelderwerb verwandte als auf Schulbesuch und Hausaufgaben. Groß war die Zahl der Kinder, die noch zu nachtschlafender Zeit aus dem Haus gingen, um Milch oder Zeitungen auszutragen, nachmittags Lauf- und Botendienste verrichteten, an den Bahnhöfen herumlungerten, um Gepäck zu tragen oder Droschken zu organisieren, an öffentlichen Plätzen einen Schuhputzservice oder kleine Verkaufsartikel aus um den Hals gehängten Holzkisten anboten und abends in rauchigen und bierdunstgeschwängerten Vergnügungsetablissements Kegel aufstellten; in manchen Familien aber wurden die halbe Nacht hindurch in Heimarbeit irgendwelche Waren produziert, und alle, die aus dem Kleinkindalter heraus waren, mussten mithelfen. Von den Stunden in der Schule konnten solche Kinder natürlich kaum profitieren, saßen sie doch völlig apathisch, übermüdet, mit bleichen Gesichtern und regelmäßig zufallenden Augen da und bekamen von dem vermittelten Stoff das Wenigste mit.
Am liebsten hätte die Mutter den Sohn von solcherlei Aktivitäten ganz frei gehalten, überzeugt davon, dass sie nur so dem Wunsch des Vaters wortwörtlich gerecht würde. Doch hatte der Junge selbst in letzter Zeit sich mit seinem Wunsch durchgesetzt, nicht hinter seinen Kameraden zurückzustehen, seine Mutter zu unterstützen und ebenfalls etwas für den Erhalt beizutragen, auch zu spüren, dass er sich nützlich machen konnte, und sich gleichzeitig ein gewisses Maß an erwachsener Souveränität zu erobern. So lange hatte er gebettelt, bis die Mutter schließlich nachgegeben und ihm erlaubt hatte, wenigstens morgens vor der Schule eine Runde Zeitungen auszutragen.
Als Johannes eine Stunde später mit dem leeren Korb wieder zuhause war, stellte die Mutter den Topf mit der aufgewärmten Suppe auf den Tisch, in der zur Feier des Sonntags außer den üblichen blässlichen Kohlblättern und Kartoffelstückchen auch ein paar Brocken Speck schwammen, schnitt ein paar Scheiben Brot ab, und die beiden setzten sich zur gemeinsamen Abendmahlzeit. Dies war immer ein besonderer Moment für sie: Alltagslasten traten in den Hintergrund, Ruhe und eine Stimmung von gegenseitigem Vertrauen und tiefer Verbundenheit