Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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Verehrer haben, wie meine große Schwester, der soll mich aber dann auch heiraten. Und wenn man einen Mann hat, dann hat man doch ganz von alleine Kinder. Aber das ist nicht das Wichtigste, vor allem will ich eine feine Dame werden.“ - „Nun, dann wünsche ich dir mal viel Glück damit, Frieda“, sagte Herr Mäuthis lächelnd. „Und das nächste junge Fräulein?“

      „Ich heiße Elsa, Elsa Liebig...“ - „Nein, die heißt Elster“, ließ sich wieder Rudolph vernehmen. Knallrot wurde das Mädchen und schoss Zornesfunken in seine Richtung. Mäuthis meinte aber nur: „So, Elster nennen sie dich. Ich hoffe bloß, das soll nichts Allzuschlimmes heißen! Und willst du mir jetzt noch etwas von dir erzählen?“ - Sie warf noch einen drohenden Blick zu Rudolph hinüber und antwortete dann: „Ja, also, Papa muss sich immer wieder neue Arbeiten suchen, meistens hilft er auf dem Bau, aber manchmal ist er auch Lastenträger, am Güterbahnhof zum Beispiel. Manchmal arbeitet er auch eine Zeit lang nicht, wenn’s gerade nichts gibt, dann sitzt er zuhause, liest Zeitung, versucht, was zu reparieren, was aber meistens nicht klappt, und albert mit uns Kindern rum. Mutter kämpft gegen den Haushalt, also gegen Herdfeuer, Kochtöpfe, Essgeschirr, gegen die Löcher in den Kleidern und den Dreck in der Stube, und sie verliert meistens. Aber außerdem geht sie dreimal in der Woche für einen Gemüsehändler auf den Markt und verkauft ein paar Kisten Äpfel, Zwiebeln und so weiter. Wir sind sechs Kinder...“ - „Ja, das war ja eine sehr anschauliche Beschreibung, Elsa - und was willst du später einmal machen?“ - „Ach, das weiß ich überhaupt noch nicht. Ich glaube, ich werd einfach mal abwarten, was das Leben so bringt!“ Da lachte der Lehrer und meinte: „Ja, das ist auch keine schlechte Einstellung, man kann ja sowieso nie sicher sein, dass die Pläne, die man schmiedet, auch aufgehen.“

      Dann waren wieder die Jungen auf der anderen Seite des Mittelganges dran. „Ich heiße Fritz Schabach. Mein Vater hat eine Gerberei im Paradies...“ - „Wie bitte? Wie meinst du das denn?“ Die ganze Klasse lachte, ein Kind aber erbarmte sich und klärte ihn auf: „Das ist die Straße, wo die alle wohnen, die heißt ‚Im Paradies’.“ - „Ach so, danke, dann bin ich ja beruhigt. Also, Fritz, dein Vater ist Gerber...“ - „Der gerbt aber nicht bloß Tierfelle, hahaha!“ hörte man Rudolph schon wieder, und Fritz zuckte zusammen, wurde noch blasser und starrte Rudolph so fassungslos an, dass Herrn Mäuthis keine Zweifel blieben, wie der Einwurf wohl gemeint sein könnte. Ohne darauf einzugehen, aber mit unwillkürlich vorsichtigerer, rücksichtsvollerer Stimme fragte er weiter: „Und du wirst dann vermutlich einmal das Geschäft übernehmen?“ - „Nein“, antwortete Fritz leise und gesenkten Hauptes, um die Tränen über Rudolphs grausamen Spott zu verbergen, „das macht mein großer Bruder. Ich weiß auch noch nicht, was ich einmal tun werde.“ - „Na gut, das ist ja nicht schlimm, du hast ja noch Zeit zu überlegen. - So, und jetzt wollen wir uns mal unsere Spottdrossel vom Dienst näher ansehen - wer bist du denn also?“, rief er Rudolph auf. Der stellte sich grinsend hin und gab Auskunft: „Rudolph Köhler. Mein Vater ist Kohlenhändler, und das werde ich später auch. Eine kleine Schwester hab ich...“ - „Aha. Und nachdem du über andere Leute so genau Bescheid weißt, sagst du uns sicher auch zum Beispiel, wem du dein junges Herz geschenkt hast und wer die Mutter deiner Kinder werden soll?“ Das Grinsen erstarb zusehends - „oder vielleicht magst du uns Auskunft geben über dein Lieblingslaster, was du so anstellst, wenn keiner hinschaut...?“ Rudolphs Gesicht verfinsterte sich immer ärger. „Na, dacht’ ich’s mir doch! Austeilen kannst du, aber selbst einstecken - wo kämen wir da hin?! Jetzt sage ich dir eines: ab sofort höre ich von dir ungefragt keinen Pieps mehr, es sei denn, der Scherz geht auf deine eigenen Kosten, verstanden? Du kannst dich setzen!“ Das tat er auch, mit einer Miene, die den Zorn und die Scham über die Abkanzelung nicht zu verbergen vermochte. Die Klasse aber, obwohl sie meist bereitwillig über Rudolphs Witze lachte, empfand doch eine gewisse Genugtuung darüber, dass er auch mal in seine Schranken gewiesen wurde. Sie waren ja durchaus nicht zimperlich, und körperliche Züchtigung oder andere Unbill waren den wenigsten selbst fremd und fanden sie also nicht weiter beachtenswert, aber Fritzens Fall war denn doch noch einmal von anderem Kaliber, und den Zynismus gegen ihn hatten sie unnötig gemein gefunden.

      „So, nun fehlt uns noch einer in dieser Reihe, danach machen wir noch ein Stündchen richtigen Unterricht, und morgen sind die nächsten drei Reihen dran mit Vorstellen. Inzwischen macht Euch bitte Namensschilder aus Papier und stellt sie vor euch auf, damit’s mir für den Anfang leichter wird, eure Namen zu lernen. - Nun also noch zu dir - wie heißt du?“, sprach er Johannes freundlich an. „Johannes Reiser. Ich hab keinen Vater mehr und auch keine Geschwister. Meine Mutter verdient das Geld mit Waschen, Flicken und Bügeln. Mein Vater war aber Schlosser, ein guter, und außerdem ein kluger Mann, sagt meine Mutter.“ - „Und willst du dann selbst auch einmal ein Schlosser werden und genauso klug wie dein Vater?“ - „Ja... - nein...“, er zögerte, „das heißt, am liebsten würd’ ich Matrose werden oder so etwas, wo man viel herumkommt und fremde Länder und Menschen kennen lernt“, ließ er sich von seiner eigenen Begeisterung mitreißen, „... aber ich weiß schon, daraus wird wohl nichts werden. Aber dann würde ich schon gerne einen richtigen Beruf lernen, ich weiß bloß noch nicht welchen... und, ja, klar möchte ich auch so klug werden wie mein Vater...“. Er brach ab, als aus der Klasse hie und da unterdrücktes Kichern zu hören war. „Ja, schön, Johannes. Ich finde es im Unterschied zu deinen Kameraden überhaupt nicht komisch, Träume und gute Vorsätze zu haben. Alle wird man vielleicht nicht erfüllen können, aber auf jeden Fall geben sie Kraft und Richtung, sein Bestes zu geben.“

      Nun schellte es zur zweiten Pause, und danach hielt Herr Mäuthis noch eine Rechenstunde, fühlte ihnen ein wenig auf den Zahn, wo sie standen, was sie konnten, und damit ging der erste Schultag nach den großen Ferien zu Ende.

      4. Alte Knochen

      Allen Kindern der Klasse, als sie nun mit ihren Holzpantinen durch die widerhallenden Gänge und Treppenhäuser zum Schulausgang klapperten und sich in die verschiedenen Richtungen über den Stadtteil verstreuten, war mehr oder weniger deutlich spürbar, dass ihr Alltag eine neue Note bekommen hatte. Es schien, als sollte der tägliche Gang zur Schule von einer lästigen, womöglich quälenden, manchmal bedrohlichen Unvermeidlichkeit mindestens zu einer gut erträglichen, lässig zu absolvierenden Pflicht werden, ja, manche wollten es für möglich halten, bald gerne, gar mit Gewinn dorthin zu gehen. Für jeden war vielleicht etwas anderes der wichtigste Aspekt dieses Wandels, wie in den Gesprächen auf dem Heimweg deutlich wurde. Die Mädchen waren begeistert davon, dass sie endlich einmal auch für voll genommen wurden; Elsa fand den Neuen „einfach ganz doll nett“. Und endlich ließ auch Rudolph wieder seiner seit dem Rüffel unterdrückten Stimme freien Lauf, wie zu erwarten mit einem ärgerlichen Protest. „Ist ja klar“, versetzte Elsa ihm da, „dass du nicht einverstanden bist, Rudolph! Bei Schultze hast du schön gekuscht wie alle, und kaum ist einer freundlich, glaubst du gleich, du kannst dir jede Gemeinheit erlauben. Und wenn der dich dann auch noch mit deinen eigenen Waffen schlägt, dann bist du beleidigt!“ Es war kein freundlicher Blick, mit dem Rudolph diesen Kommentar quittierte.

      Fritz dagegen wagte fast noch nicht zu hoffen, dass das, was er bisher lediglich als Erweiterung und Variante seines häuslichen Alptraums erlebt hatte, zu einem Asyl werden könnte, in dem er jeden Werktagmorgen für ein paar Stunden frei und ohne Angst aufatmen dürfte.

      Wer aber fast beschwingt und beflügelt, begeistert und voller wirr und vager Vorsätze von diesem Schulvormittag nachhause ging, das war Johannes. Ihm war zumute, als hätte Herr Mäuthis aus seiner Heimat direkt in ihr Schulzimmer den Duft nach salzigem Wind mitgebracht, ein Wehen von Welt und Weite, und dies aber nicht nur, weil er, wie Rudolph sarkastisch behauptete, „einmal ein Schiff aus der Nähe gesehen hatte“, sondern auch durch seine ermutigenden Worte und die ganze Ausstrahlung von Neugier und Offenheit, die von seiner Person und Lebensgeschichte ausging.

      Für ihn wenigstens brach etwas wie eine neue Zeit an. Die inspirierende Begeisterung, die ihn am ersten Tag erwischt hatte, klang nicht nach kurzer Weile ab und ging in eine schließlich einfach hingenommene Alltagsselbstverständlichkeit über, sondern wurde ihm zum tragenden Lebensgefühl in dieser Zeit. Auch bislang schon war er ein recht guter Schüler gewesen und war es Herrn Schultzens Pädagogik trotz aller Bemühungen nicht gelungen, sein Interesse an manchem