Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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href="#uf7bab67d-075e-563d-8c3c-9de54f904fcb">15. Siddhartha

       16. Seiltänze

       17. „Memorial für Isaak“

       18. Das Leuchten

       ANHANG

       Memorial Concert / Gedenkkonzert

       Vorwort

       Über Christian Kuberkas Symphonische Reflexion „Memorial für Isaak“

       The Poems / Die Gedichte

       Texte aus der Matthäus-Passion:

       Quellen

       Nachwort zur zweiten Auflage

       Von derselben Autorin:

TEIL I - „Im Paradies“

      1. „Im Paradies“

      Nein, ganz ehrlich: dies hier war ja wohl alles andere als ein Paradies. Kein Mensch hätte zu sagen gewusst, wie dieses trostlose Stück Gasse zu seinem Namen kam, am wenigsten sicherlich ihre Anwohner, die allerdings auch weiß Gott andere Sorgen hatten als sich mit der Etymologie ihrer Adresse zu befassen; das vergessene Ende eines vergessenen Viertels in den Randbezirken der riesigen und immer noch wachsenden Großstadt; noch Teil der Stadt selbst, kein Vorort also, aber zum eigentlichen Zentrum war es doch schon eine längere Reise. Ein Relikt aus vergangenen und immer entschiedener vergehenden Zeiten, umgeben, umzingelt fast von Elendsquartieren jüngerer Provenienz und noch einmal ganz anderer Art, von hochaufgeschossenen, dicht an dicht sich drängenden, Luft und Licht aussperrenden, vor Menschen vibrierenden, schreienden, stinkenden Mietskasernen. Und allenfalls hätte man in einem gewissen Unterschied im Grad der Verwahrlosung und Ärmlichkeit zu diesen Nachbarn eine Rechtfertigung für den Straßennamen sehen können: Es fehlte nicht an Licht und Luft, wenn diese auch etwas düster gefärbt vom schwarzen Staub einer Kohlenhandlung und, je nach Windrichtung, manchmal unangenehm beißend vom Gestank einer Gerberei auf Dächer und Bewohner sich niedersenkten. Gegen die geradlinig abweisende Hässlichkeit jener Häuserzeilen der Umgebung hoben sich hier fast schon kurios noch eher ländlich anmutende und recht heruntergekommene Wohnhäuser ab, die meisten winzig, mit hölzernen Außentreppen und schiefen, eingesunkenen Dächern, oft hinter heuwagenhohen Bogendurchfahrten mit Werkstatt- und Lagerschuppen zu größeren Hofkomplexen zusammengefasst, eine in ungelenktem Wildwuchs und undurchschaubaren Beziehungen entstandene Wirrnis. Gras und Moos sprossen karg und staubig, wo immer Zwischenräume und Risse im Pflaster oder Streifen ungestörter Erde an Mauerrändern es erlaubten. Schmutz gab es die Menge schon allein durch den ewig aufgeweichten Boden der unbefestigten Flächen. Als mehr oder minder arm konnte man die meisten Anwohner bezeichnen, alle hatten sich zu mühen und zu rackern um das tägliche Auskommen und taten dies, nicht anders als überall sonst, mal mehr, mal weniger rechtschaffen und ehrlich. Aber die Leute hier hatten insofern Glück, als das ringsumher blühende Spekulantenunwesen diesen Flecken schlicht übersehen zu haben schien und sich an den niedrigen Mieten schon seit Ewigkeiten nichts geändert hatte. Die freien Flächen nutzten sie wo möglich zum Anlegen winziger Nutzgärtchen, um auf billige Weise die Kochtöpfe besser zu füllen, etwas Obst und Gemüse, ein Beet mit Kohl, weißen Rüben oder Kartoffeln, am Rand ein paar Beerensträucher; einige Hühner scharrten in der schwarzgrauen Erde, sogar eine Ziege hielt sich jemand. Die zahlreichen Kinder der Anwohner hatten Auslauf nach der Seite hin, über die man zwischen den Häusern hindurch und an der Gerberei vorbei zum Kanal gelangte, der in der Nähe vorbeifloss, und auf dem Gelände vor der hohen Mauer, wo die Straße endete, und das mit einem Wirrwarr aus Unkraut, staubigem Gebüsch und sogar zwei, drei mageren Bäumen in ihren wenig anspruchsvollen Augen eine richtige Urwaldlandschaft bildete; dort konnten sie sich in der allerdings knapp bemessenen Zeit, die ihnen zwischen Schule, Mithilfe im Haushalt und beim Verdienen des Familienunterhalts für unbeschwertes Spielen zur Verfügung stand, Bewegung an mehr oder minder frischer Luft verschaffen.

      Regelmäßig spielte dabei die Mauer, die das „Paradies“ zur Sackgasse machte, eine Rolle: sie war außerordentlich hoch und abweisend, und nach keiner Seite hin konnte man an eine Stelle gelangen, von der aus in das umschlossene Gebiet hineinzusehen gewesen wäre: hier stieß sie an die blinde Mauer eines der benachbarten Mietshäuserkomplexe, dort endete sie hart am Wasserlauf des Kanals, an dem entlang das Gelände wieder durch eine Mauer gegen Blicke etwa von vorbeifahrenden Booten aus abgeriegelt war. Jeder Versuch, ihr auf irgendeine Weise beizukommen, schien sie nur noch immer höher wachsen zu lassen. Auch von den Eltern erhielt man keine Auskunft über das dahinter liegende Terrain, sie hatten sich dafür noch nie interessiert, oder wenn doch, war das schon so lange her, dass es ihnen ganz aus dem Gedächtnis geraten war. Warum auch sollte es drüben etwas anderes geben als das gleiche graue Alltagseinerlei wie diesseits? Die Kinder mochten sich damit jedoch nicht zufrieden geben, und so war die Mauer hervorragend geeignet, ihre Neugier, Phantasie und ihren Unternehmungsgeist aufs Schönste anzustacheln. Immer wieder einmal ergingen sie sich in Spekulationen darüber, und jedes machte sich ein eigenes charakteristisches Bild davon, was sich wohl dahinter verbergen mochte.

      2. Ballons

      Eines spätsommerlich frischen, schönwetterdunstigen Sonntagmorgens konnte man eine Kinderschar, barfüßig, in abgetragenen, nicht immer sehr sauberen Kleidern von hier aus in die nächste Querstraße einbiegen sehen. Manche, besonders die Kleinsten, hatten sichtbar noch den Schlaf in den Augen, andere waren schon hellwach und plapperten durcheinander, und mit ihrem Barfußgetrappel, ihrem Stimmengewirr und dem Bollern und Quietschen eines Leiterwagens, in dem ein Mädchen offenbar ein paar jüngere Geschwister nachzog - übrigens kavalierhaft unterstützt von einem etwa gleichaltrigen Jungen - waren sie die ersten, die die frühe Sonntagsruhe unterbrachen. Ihr Weg führte entlang monotoner Straßenzüge, rechts und links begrenzt von den ewig gleich sich dahinziehenden Außenmauern der Mietskasernen, durch deren Toreinfahrten man in ganze Fluchten von Höfen, Hinter- und Hinterhinterhöfen sehen konnte, und Fabrikgebäuden, die mit ihren schmiedeeisernen Werkstoren, verschnörkelten Schriftzügen des Firmennamens und geschwungenen Gesimsen viel aufwändiger dekoriert waren; vorbei an den aufgerissenen Erdgruben und stehengelassenen Gerätschaften sonntagsruhender Baustellen und an den inkongruent über, zwischen oder gar durch die Häuser sich zwängenden Hochbahnbrücken. Hie und da gesellten sich andere Kinder zu ihnen oder liefen in separaten Gruppen in die gleiche Richtung. Erwachsene waren erst zu sehen, als sie später durch andere, bürgerlichere Viertel zogen. Dort sah man dann saubere Sonntagskinder in Matrosenanzügen, Sonntagskleidchen, glänzend polierten Lackschuhen und bänderwehenden Strohhüten brav zwischen Vater und Mutter oder an der Hand ihrer Kinderfräuleins gehen oder sogar in Droschken vorüberrollen, begleitet von manchem Blick aus der Gruppe der Barfüßler, in dem Neid und Verachtung eine unnachahmliche Verbindung eingingen. Je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto öfter sah man vollbesetzte Omnibusse und Elektrische die Straßen entlang rumpeln. Auch die „Paradieskinder“ hätten sich den weiten Weg sicher gern mit einer Trambahnfahrt erleichtert, aber wer von ihnen überhaupt ein paar Groschen dabei hatte, sparte die lieber für eine Süßigkeit oder Limonade später am Tag auf. Die Größeren waren außerdem längst gewöhnt, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen, und die Kleinen mussten