Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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beiden mit einer ganz neuen Befangenheit voneinander.

      Beim Abendessen war Johannes sehr abwesend und gedankenverloren, so dass die Mutter gar kein Gespräch mehr über die anstehenden Ereignisse in Gang bringen konnte, und bei den Hausaufgaben blickte er immer wieder verträumt von seinem Heft auf, so dass es richtig spät wurde, bis er sich endlich schlafen legte.

      10. Gewonnen - verloren

      Was er geträumt hatte, das nahm das Dunkel dieser Nacht mit sich fort in die versteckten Winkel, in die es sich vor dem neuen Tag aus Stadt und Kammer und aus seinen sich öffnenden Augen zurückzog. Lediglich eines bisher nicht gekannten erfüllenden und süß beglückenden Gefühls war er sich halb bewusst. Warum er gerade heute mit so besondererer Vorfreude an die Schule dachte, konnte er sich gar nicht erklären, bis er sich, während er seine Morgensuppe löffelte, mit einem hellen Schrecken daran erinnerte, dass er dort ja Nomi wiedersehen würde. Vielleicht könnte er in der Pause mit ihr reden, oder könnte es so einrichten, dass sie gemeinsam nachhause gingen. Ganz sicher würde er gleich zu ihr gehen, wenn er von seinem entscheidenden Gespräch am Nachmittag zurück wäre, und ihr berichten, wie es ausgegangen wäre. Ob er sie wohl dazu würde überreden können, ihm wieder etwas vorzusingen?

      Bis Herr Mäuthis das Klassenzimmer betrat und den Unterricht begann, war Nomi noch nicht eingetroffen. Dass sie sich aber auch gerade heute verspäten musste! Ungläubig behielt Johannes die Tür im Auge, in der festen Erwartung, sie werde sich jederzeit noch einmal öffnen und Nomi abgehetzt, atemlos und scheu um Entschuldigung bittend zu ihrem Platz huschen. Doch nichts dergleichen geschah, und, auf eine ganz neue, tiefe Art enttäuscht und ernüchtert, so viel bedeutete ihm der Zauber der gestrigen Begegnung und der Wunsch nach dessen Fortsetzung, gab er sich schließlich Mühe, dem Unterricht seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Zwischen der Suche nach möglichen Erklärungen für Nomis Ausbleiben - sie konnte doch in den wenigen Stunden nicht so krank geworden sein? Es war ihr doch wohl nichts zugestoßen? Der Vater hatte ihr doch hoffentlich nicht für einmal so zugesetzt, dass sie nicht aus dem Haus gehen konnte? - und dem Lampenfieber angesichts dessen, was ihm am Nachmittag bevorstand, wurde es ihm jedoch schwer, mehr als nur Bruchstücke des behandelten Stoffes aufzuschnappen.

      Auch Karl wusste nicht, als er den in der Pause so beiläufig wie möglich danach fragte, warum Nomi heute nicht in der Schule war. Am Ende beruhigte er sich mit dem Gedanken, es werde bestimmt eine ganz harmlose Erklärung geben, wahrscheinlich habe der Vater sie nicht gehen lassen, weil sie irgendetwas für ihn erledigen sollte, oder vielleicht er selbst krank war und gepflegt werden wollte. Jedenfalls würde er sie später aufsuchen, und dann würde er ja erfahren, was los gewesen war.

      Als er sich irgendwann am Nachmittag auf dem Weg zurück nachhause fand - gerade hatte er sich an der letzten Straßenecke von Herrn Mäuthis verabschiedet - war es ihm, als wäre er wie die Figur aus dem Märchen vor Stunden in einen Fluss getaucht, hätte ihn unter Wasser durchschwommen, dabei aber ein ganzes Zeitalter in diesem von den am fremden Element sich brechenden Sonnenstrahlen fremd beleuchteten Reich dort unten verbracht und wäre nun erst, mit neuem, verwandeltem Blick auf seine alte Welt, am anderen Ufer wieder aufgetaucht. Gewandelt hatte sich die Färbung seiner Zukunft, die sich ihm bisher recht genau absehbar präsentiert hatte, jetzt, unter jenem Licht der vergangenen Stunden, jedoch ganz neu, hoffnungsvoll, dabei aber auch beunruhigend vor ihm lag. Mitgebracht von „dort unten“ hatte er die Zusage, er solle das Stipendium bekommen und also nach den großen Ferien auf ein Gymnasium gehen.

      Zwischen diesem Ein- und Wiederauftauchen lag das so gefürchtete Vorstellungsgespräch bei seinem künftigen Gönner in dessen Wohnhaus in einem der Villenviertel am Rande der Stadt, wohin sie, Herr Mäuthis und er, gemeinsam gegangen waren: Hastiges Mittagessen zuhause, Mutters Versuche, ihn ein bisschen fein zu machen mithilfe seines Sonntagsanzuges, den sie aus Sachen seines Vaters auf Zuwachs geschneidert hatte, und des nassen Kamms, beim Abschied unter letzten Ermahnungen und Ratschlägen noch schnell durch die Haare gezogen; die gründlich geputzten und polierten Schuhe, die er seit dem Ende der kalten Jahreszeit nicht mehr angehabt hatte und die ihm schon wieder zu klein gewordenen waren, hatte er kurz entschlossen wieder ausgezogen und in der Hand getragen. Die Straßenbahnfahrt, von Herrn Mäuthis spendiert, seine erste richtige, mit Fahrschein im Wageninneren, hatte sie polternd, schüttelnd, quietschend und klingelnd durch das betriebsame Gewimmel der Geschäftsstraßen und Plätze getragen, bis es in den reinen Wohnvierteln jenseits der Innenstadt wieder ruhiger wurde und die Bahn auf den schimmernd das Kopfsteinpflaster durchziehenden Schienen unter dem dämmrigen Tunnel der Baumwipfel fuhr. Der Gang durch das Viertel, das so vornehm-distanziert in mittäglicher Ruhe lag, die Häuser fast versteckt inmitten der Gärten mit ihren stattlichen Bäumen. Seine Aufregung, die ihm das Herz so lästig bis in den Hals hinauf schlagen ließ, dass er auf Mäuthis’ Versuche, ihm durch freundliche und ablenkende Konversation seine Angst zu nehmen, nur ungesprächig einsilbig reagieren konnte. Das Haus mit dem Namensschild „R. Wissmann, Fabrikant“, bei dem sein Lehrer schließlich stehen blieb und die Gartentür öffnete, und dessen Zusammenspiel von klaren, geraden Linien und runder Verspieltheit aus Türmchen, Erkern, Fensterbögen, dazu seine Einbettung in den üppigen, aber gepflegten Garten ihn mit einer Aura von Verlässlichkeit, Protektion und Respektabilität beeindruckte; drinnen dann die gleiche Harmonie aus kühler Reinlichkeit und Klarheit der hellen Wände, Steinfußböden und -treppen und der Wärme, Behaglichkeit und Üppigkeit dicker Läufer, Vorhänge und maßvoll verteilter Dekorationsgegenstände. Die kleine, die Anspannung etwas auflockernde Szene, als er bemerkte, gerade noch bevor Herr Mäuthis an der Haustür läutete, dass er seine Schuhe noch immer in der Hand statt an den Füßen trug, und sich lachend auf die Steinstufen setzte, um die Füße hineinzuzwängen. Die „Prüfung“ selbst, die dann doch keine gewesen war, die freundliche, wohlwollende, dabei fast höflich-respektvolle Art, mit der Herr Wissmann den zwölfjährigen Straßenbuben behandelte und ihm damit sehr bald, nachdem sie sein Arbeitszimmer betreten hatten, das Lampenfieber zu nehmen gewusst hatte. Ganz anders als befürchtet war dieses Gespräch verlaufen, denn statt Schulwissen abzuprüfen und mit Strenge und von oben herab Ermahnungen und Zurechtweisungen abzugeben, hatte er den Jungen ermuntert, frei und unverstellt über seine Lebensumstände, seine Familienverhältnisse, die Dinge, die ihn interessierten, ihm etwas bedeuteten oder Freude machten, über seine Lieblingsfächer und seine Berufswünsche zu erzählen. Bald hatte Johannes fast vergessen, mit wem er da sprach und worum es ging und ließ sich, wie es ihm so oft passierte, von seinen Begeisterungen hinreißen, redete frisch drauflos und brachte so all seine unbestimmten, zwischen realitätsbewusster Selbstbeschränkung und heimlichen Wunschphantasien, zwischen dem Ehrgeiz, größeren Wohlstand zu erreichen und „mitreden zu können“ einerseits und Fernweh, Neugier und Erkenntnissehnsucht andererseits pendelnden Vorstellungen zutage. Später dann die - wie es ihm schien - zäh sich hinziehenden Stunden, wartend, allein in einem Zimmer, das nach dem hinteren Garten zu lag, während Herr Wissmann sich mit Herrn Mäuthis über seine Entscheidung besprach: der angenehme, nicht zu große Raum, der hell wirkte, obwohl das Licht durch das Laub vor dem Fenster grünlich abgedämpft hereinfiel; die Esszimmermöbel aus dunklem, staubfrei poliertem Holz, denen mithilfe weißer Deckchen und Vasen mit großen bunten Sträußen die Wirkung von Schwere und behäbiger Düsternis genommen war; das große Stück Marmorkuchen - mit Schokoladenüberzug! - und die Tasse Kakao vor ihm auf dem Tisch, von dem schürzen- und häubchenbekleideten Dienstmädchen serviert, das ihnen die Haustür geöffnet und ihn später auf Geheiß ihres Herrn in dieses Zimmer gebracht hatte, seine Unfähigkeit, von der gastfreundlichen Bewirtung Gebrauch zu machen, weshalb ihm der Kuchen später beim Abschied sauber eingepackt mitgegeben worden war; hin- und hergehen im Zimmer, aus dem Fenster schauen, die Familienfotos an der Wand betrachten; seine Zweifel, ob er sich in dem gerade stattgefundenen Gespräch nicht doch als völlig unwürdig erwiesen hatte? Dann endlich zurück im Arbeitszimmer, die Zusage und dazu die Erläuterungen aller möglicher praktischer Details und Konsequenzen, die den Jungen im Moment nur verwirrten und überforderten, so vereinnahmt war er von dem Bewusstsein der Umwälzung, die da gerade mit seinem Leben geschah, und die seiner Meinung nach überflüssigen Ermahnungen - wie sollte er sich wohl nicht dankbar erweisen und nicht sein Bestes tun, um das in ihn gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen? Eine Ausnahme sollte mit ihm gemacht werden, ein Abweichen von dem üblichen Prinzip