Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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Weise mit sich selbst im Unreinen: Zwar sah er es als völlig in der Logik der Dinge an, dass sein bewunderter Held in dieser oder jeder anderen Weise ausgezeichnet wurde, blickte aber der - trotz Johannes’ anderslautenden Versprechungen - erwarteten Trennung vom Freund und Beschützer zu sehr mit eigensüchtiger Sorge und Trauer entgegen, als dass er sich einfach darüber hätte freuen können - und dafür schämte er sich dann wieder.

      Rudolph schließlich legte ein latent aggressives, neidgetriebenes Überlegenheitsgehabe an den Tag, und brachte es nicht fertig, auch nur eine Begegnung mit Johannes ohne Sticheleien und Spötteleien vorübergehen zu lassen.

      Der litt unter diesem Zustand, auch wenn er durch Herrn Mäuthis’ warnende Worte ja eigentlich darauf vorbereitet gewesen war. Es war ihm unbehaglich in seiner Haut und alles andere als einerlei, der Auslöser solch negativer Gefühle zu sein. Eigentlich hatte er sich selbst ganz wie immer benehmen wollen, um ihnen möglichst wenig Anlass für solche Ausgrenzungen zu bieten, aber das fiel ihm nun immer schwerer.

      Eines Morgens bat die Mutter ihn, da er heute etwas später Schule hatte, sich nach dem Zeitungsaustragen für sie in die Schlange vor der Freibank zu stellen, wo man zu bestimmten Zeiten Fleisch von minderer Qualität zu geringem Preis zu verkaufen pflegte. Sie versprach, so rechtzeitig von ihrer eigenen Erledigung zurück zu sein und ihn abzulösen, dass er noch pünktlich zur Schule käme.

      Eine Viertelstunde hatte er so schon gestanden, vor ihm vielleicht zehn Leute, hinter ihm eine sich zusehends verlängernde Schlange von Wartenden, die zumeist aus dem Stadtteil stammten und von denen er einige vom Sehen oder aus der Schule kannte und mit kurzem Kopfnicken grüßte. Manche unterhielten sich, tratschten, empörten sich über Teuerung und andere Unbill. Er selbst war müde und fröstelte leicht, es war ein grauer, nieselregnerischer Morgen, er zog sich unter seiner Mütze und hochgeschlagenem Jackenkragen in sich zurück und döste mit offenen Augen in die nass verschleierte Luft, auf die sich mit einem spiegelnden Film überziehenden Pflastersteine hin. Plötzlich sah er ein Paar Füße dicht neben ihn hintreten, die er gleich als Rudolphs erkannte, und blickte auf, als er in provokant beißendem Ton gegrüßt wurde: „Na, Herr Feiner-Pinkel, Herr Professor, erlauben, dass man sich zu Ihnen stellt? Oder ist man schon zu großartig, und können niederes Volk wie unsereins nicht in der Nähe dulden? Haben Euer Hochwohlgeboren etwas dagegen, dass meine Wenigkeit alleruntertänigst neben Euch wartet, um so etwas Zeit zu sparen?“ Johannes’ Stirn runzelte sich zusehends und die Augenbrauen zogen sich zusammen, während er so angeredet wurde, und, nachdem Rudolph endlich einen Punkt machte und Luft holte, schaute er ihn einen Moment lang so, kritisch, an, schüttelte dann den Kopf und gab zurück: „Oh, Mann, du bist ja echt noch blöder, als die Polizei erlaubt!“

      „Was?! Sag das noch mal! Herr oberschlauer Oberschüler, glaubst du, du hast die Klugheit allein gepachtet, oder wie?!“, und Rudolph versetzte dem Rivalen wütend einen Schubs vor die Brust. „Lass das!“, schubste der zurück, und aus Püffen und Gegenpüffen wurde im Handumdrehen ein erbittertes Ringen und Kämpfen. Sie hörten nichts von den mahnenden Zurufen der Umstehenden, zu aufgebracht waren jetzt beide in ihren angestauten Ressentiments, die sich endlich entluden in diesem atavistischen Jungenskräftemessen. In Johannes gab es zwar tief drinnen die ganze Zeit über den Gedanken, das sei jetzt genau das, was er hatte vermeiden wollen. Doch der war ebenso wirkungslos gegen diesen hilflosen Zorn, den die Wand von dümmlich-arrogantem Unverständnis in ihm auslöste, auf die er bei Rudolph und seinesgleichen ständig stieß, wie es seine alltäglichen Bemühungen überhaupt waren, seine neue Situation zu einer unaufgeregt hingenommenen Normalität statt zu einem Stein des Anstoßes werden zu lassen.

      Die beiden balgten sich erbittert, verbissen, schnaubend, bald ohne mehr noch wütende Worte gegeneinander auszustoßen; die Mützen waren längst in den nassen Rinnstein gerollt, während sie sich am Boden wälzten, sich die Arme verdrehten, wieder aufsprangen und sich sofort erneut angingen, sie traten nacheinander, nahmen sich in den Schwitzkasten, wanden sich wieder frei. Eine Weile blieb der Kampf unentschieden, mal lag der eine, mal der andere unten, aber nie lange genug, um Sieger und Verlierer zu bestimmen. Dann jedoch hatte Rudolph Johannes wieder einmal zu Fall gebracht, drückte ihn zu Boden und hatte Arme und Beine diesmal so fest im Schraubstock, dass der, müde gekämpft, nichts ausrichten konnte, und verlangte mit vor Kraftanstrengung gepresster Stimme: „Gib dich geschlagen! Los, gib schon zu, dass ich der Stärkere bin! Nimm das zurück, dass ich blöde bin!“, und wollte gerade ausholen, um ihm zum größeren Nachdruck seiner Forderungen mit geballter Faust zu bearbeiten, da wurde er von hinten an Jackenschoß und -kragen gepackt und so heftig geschüttelt, dass er vor Schreck seinen Griff fahren ließ; dann wurde er unsanft auf die Füße gestellt und noch mal kräftig geschüttelt und fing dann sogar noch eine Ohrfeige. „Schluss jetzt! Könnt ihr euch nicht benehmen? Wenn ihr raufen wollt, geht woanders hin, jedenfalls nicht vor meinem Laden! - Und du, steh schon auf!“, herrschte er Johannes an, der sich das nicht zweimal sagen ließ, schnell nach seiner und Rudolphs Mütze suchte und sich gesenkten Kopfes wieder in die Reihe stellte. Der Metzger ging kopfschüttelnd und mit drohender Handbewegung wieder ins Haus zurück.

      Rudolph, noch ganz außer Atem, trat erneut hinzu und zischte: „Aber gib zu, dass ich gewonnen hab! Wenn der Idiot nicht gekommen wär, hättest du keine Chance gehabt!“

      „Ja doch, ist ja gut“, gab dieser zurück, schon in versöhnungsbereitem Ton. „Trotzdem bist du ein blöder Kerl“, fügte er nach kurzer Pause hinzu. „Was redest du auch für einen ausgemachten Müll zusammen? Wieso sollte ich denn plötzlich zu fein sein für dich, oder sonst jemanden? Bloß weil ich ein bisschen Glück hatte, oder eher, weil ich mein Glück probieren darf, jedenfalls, was mir so vorkommt? Lasst mich doch einfach machen, wozu ich Lust hab, ist doch normal, dass jedem was anderes Spaß macht. Deswegen bilde ich mir doch nicht gleich sonst was ein, und da braucht ihr mir das auch nicht nachzusagen! Mensch, ist doch wahr!!“

      Das war so schnell aus ihm herausgesprudelt, dass Rudolph keine Chance zum streitenden Widerspruch geblieben war, und jetzt, als der andere geendet hatte und ihm tatsächlich Tränen in den Augen standen, war ihm auch die Lust dazu vergangen, besänftigt durch die Genugtuung, im Ringkampf der Überlegene gewesen zu sein und, wie Johannes‘ zwar trotzige, dann aber doch auch unterschwellig bittende Rede bewies, ein starkes Gefühl bei seinem Rivalen provoziert zu haben.

      Nach dieser Begebenheit entspannte sich das Verhältnis zwischen Johannes und seinen Freunden merklich und normalisierte sich einigermaßen. Rudolphs Aggressivität hatte sich Luft gemacht und sich dadurch beruhigt, zumal er sich einbilden konnte, der andere habe dabei in jeder Hinsicht den Kürzeren gezogen, was ihm das Einlenken und Versöhnen wie einen großzügigen Gnadenakt seinerseits erscheinen ließ. Und so, unter Rudolphs Einfluss, schaffte es bald auch der Rest, seinen „Sonderweg“ als gegeben hinzunehmen, sie gewöhnten sich an den Gedanken und stellten fest, dass man mit ihm ja doch dem gleichen Zeitvertreib nachgehen und auf ihn in gleicher Weise zählen konnte wie bisher.

      Die letzte Schulwoche rückte näher, die letzten Klassenarbeiten waren geschrieben, das eigentliche Pensum des Schuljahres erfüllt, und ein kleiner Vorgeschmack auf Ferienstimmung stellte sich auch in den Schulstunden bereits ein. Die Anforderungen entspannten sich, es wurden auch mal einfach Geschichten vorgelesen, Ratespiele gemacht, statt Turnunterricht ging man in den fast waldähnlichen großen Stadtpark und machte dort Wett- und Ballspiele. Der alte Lehrer Schultze wäre entsetzt gewesen und hätte den allgemeinen Zerfall von Zucht und Ordnung, den Untergang des Abend-, mindestens aber des Vaterlandes prophezeit, hätte er das mitbekommen. Herr Mäuthis aber war der Auffassung, am Ende eines so zufriedenstellend verlaufenen Schuljahres hätten sich die Kinder eine kleine Auflockerung und fröhliche Belohnung verdient, und das werde auf lange Sicht überhaupt nichts schaden.

      An einem Tag hatte er eine besondere „Haus“aufgabe mitgebracht: In Gruppen von je ungefähr zehn Kindern sollten sie bestimmte verschlüsselt bezeichnete Gebäude oder Denkmäler in der Stadt ausfindig machen und mithilfe von Wandgemälden, In- und Aufschriften, Plaketten und Ähnlichem, die mehr oder weniger versteckt an Mauern, Eingängen, Fassaden angebracht waren, eine Liste von Fragen beantworten, um ihre Ergebnisse am nächsten Tag ihm und dem Rest der Klasse zu präsentieren.

      Das war doch mal was anderes als die üblichen Rechenpäckchen, Aufsätze und