Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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Wiedersehen herbeiführen könnte. Am Ende war ja nicht einmal sicher, dass sie überhaupt noch in der Stadt war, es gab schließlich keinen Grund anzunehmen, dass sie nicht ganz weggezogen wären.

      Er blieb lange, lange sitzen, nicht zuletzt in der verrückten Hoffnung, Nomi werde doch plötzlich noch auftauchen...

      Als der innere Aufruhr in reine Niedergeschlagenheit ausgeklungen war, ging er endlich nach Hause. Jetzt fiel ihm auch ein, dass seine Mutter ja längst zurückgekehrt sein müsse und sich sicher schon Sorgen machte, warum er so lange ausblieb. Er sehnte sich nach der mütterlichen Liebe und Wärme, wenn er auch zum ersten Mal in seinem Leben vage spürte, dass der Trost, den sie ihm würde spenden können, nicht weit genug reichen werde.

      Dass er deprimiert war und geweint hatte, sah man ihm so sehr an, dass die Mutter schon glaubte, das Vorstellungsgespräch sei nicht gut ausgegangen, und beim besten Willen nicht ganz verhindern konnte, dass sich ein Gefühl der Erleichterung in ihr Bedauern für den Sohn mischte. Es brauchte einen guten Teil des Abends unter dem tickenden Küchenwecker, bis die Mutter alles erfahren, was der Tag gebracht und alles verstanden hatte, was den Jungen bewegte.

      „Groß wird er mir, der Hannes“, dachte sie betrübt, während sie ihn, doch immer noch wie die Mutter das Kind, den Arm um ihn gelegt, zu trösten suchte.

      Mit offenen Augen starrte Johannes in die Dunkelheit der Schlafkammer, nach wie vor damit beschäftigt, den Kampf der gewünschten gegen die vorgefundene Wirklichkeit auszufechten und mit der Niederlage der ersteren zu hadern. Die Freude, die er sich für heute versprochen hatte und die ihm unmittelbar vereitelt worden war, malte er sich nun umso schöner aus und umso bitterer wurde ihm die Enttäuschung: Wie er, an das gestrige Gespräch anknüpfend, zu Nomi gegangen wäre, um ihr gleich zu erzählen, dass sie soweit recht behalten habe und ihm das Stipendium tatsächlich zugesprochen worden sei; wie sich darüber ihr Gesicht aufgehellt hätte; und dann hätte sie ihm sicher seine Versagensängste ausgeredet, und sie hätten zusammen sich ausgedacht, wie alles werden würde. Das unglaubliche Stück Marmorkuchen fiel ihm wieder ein, das er dort bekommen und extra für sie, gleichsam als Unterpfand und greifbares Beweisstück, aufgehoben hatte; er hatte sich so darauf gefreut, es ihr, der immer Hungrigen, zu schenken, sah vor sich, wie sie zunächst bescheiden abgelehnt hätte und dann aber, vielleicht mithilfe einer Notlüge seinerseits, er habe selbst schon so ein Stück essen dürfen, sich hätte überreden lassen. Wie er sie dazu gebracht hätte, ihm wieder so ein schönes Zigeunerlied vorzusingen...

      Und weiter spann er, malte sich die Freundschaft aus, die zwischen ihnen beiden entstanden wäre - wie sie alles hätten miteinander teilen mögen, einander alles erzählen können, wie wunderbar sie sich, jeder mit seinen eigenen Stärken und Schwächen, ergänzt und geholfen hätten -, und er empfand diesen Entzug einer möglichen Zukunft, als hätte man ihm genommen, was er schon besessen hätte: ein ziehend schmerzender Mangel von etwas Erfüllendem, eine Leere, wo etwas Existenzielles sein sollte - sie fehlte ihm, als wären sie schon seit langen Jahren unzertrennliche Freunde gewesen.

      Ob eigentlich sie selbst wohl ebenso traurig darüber war, schon wieder weggerissen worden zu sein, oder ob es ihr längst gleichgültig war, wo und unter welchen Menschen sie lebte? Ob denn überhaupt auch ihr diese Begegnung mit ihm etwas Besonderes bedeutet hatte? Aber er dachte daran, wie isoliert und auf sich gestellt sie durch ihren Alltag gehen musste, daran, welch großen Unterschied schon allein in praktischen Dingen er gemacht hätte - hatte er sie nicht im Geiste schon immer wieder zuhause am Tisch mitessen, seine Mutter ihr mit Rat und Tat bei ihren Haushaltspflichten helfen oder sie beide gemeinsam an den Schulaufgaben sitzen sehen? Er dachte aber auch an den langen Blick, den sie getauscht und gar nicht anders gekonnt hatten - nein, es war schier unmöglich, dass nicht auch sie diese beginnende Freundschaft empfunden hatte!

      So wälzte er sich hellwach, die Gedankenmühle in seinem Kopf unablässig kreisend, und das Thema, das ihm in dieser Nacht ohnehin den Schlaf geraubt hätte, trat dabei ganz in den Hintergrund. Der Vorstellung von Latein- oder Griechischunterricht, höherer Mathematik, neuen Lehrern, neuen Schulkameraden stand er nun, angesichts von Nomis Verschwinden, merkwürdig distanziert, aber auch entmutigt und kraftlos gegenüber, wie wichtig es ihm auch bis vor so kurzem noch gewesen war. Ohne ihre freudige, freundschaftliche Anerkennung, ohne ihre Begleitung und Ermutigung schien ihm jede Anstrengung dafür sinnlos. Sie hatte an ihn und diesen seinen Weg geglaubt - und nun war sie nicht mehr da, und am liebsten hätte er sich in einen Winkel seines alten erwartbaren und unspektakulären Lebens verkrochen. Morgen würde er Herrn Mäuthis sagen, er habe es sich anders überlegt, er traue sich das doch nicht zu... Er seufzte tief auf und warf sich wieder auf die andere Seite - nein, bei der Vorstellung wurde er auch wieder nicht froh. Er konnte doch seinen Lehrer, der es so gut mit ihm meinte, nicht enttäuschen! Also schön, dann würde er es eben durchziehen! Aber die rechte Freude war nicht mehr dabei. - Nein, so war es wieder nicht richtig! Hatte er nicht gesagt, Nomi glaube an ihn? Und sollte er sie jetzt Lügen strafen? Ganz im Gegenteil: nun doch gerade! Auf eine nur diffus verstandene Art spürte er, dass er es für sie tun würde, egal, ob er sie je wiedersehen würde oder nicht. Mit Inbrunst schwor er sich, als Dienst an der Freundschaft, die das Licht der Welt nicht erblicken durfte, aber, das wäre ja noch schöner! im Verborgenen durchaus am Leben war und bleiben würde, werde er sich ins Zeug legen und Erfolg haben.

      Nun endlich begann er auch, von seinen eigenen Wünschen, seinem eigenen Kummer absehend, sich einfach Sorgen zu machen: Wo war sie jetzt, wie ging es ihr? War sie nicht nun wieder ganz schutz- und freundlos der Willkür, der trunksüchtigen, kriminellen Brutalität ihres Vaters ausgeliefert? Unruhig und über seine Hilflosigkeit verzweifelt drehte er sich von einer Seite auf die andere.

      Und doch würde er sie suchen! Er konnte doch nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen! Er musste doch bloß sich jeden Tag ein Viertel, oder wenigstens ein paar Straßenzüge vornehmen und es dabei möglichst logisch und systematisch anfangen, dann wäre er in ein paar Wochen durch - das musste doch zu schaffen sein! „Egal: Wenn sie die Stadt nicht ganz verlassen haben, dann finde ich sie auch!“

      Erst mit diesen beiden festen Vorsätzen kam er endlich so weit zur Ruhe, dass er doch noch einschlafen konnte.

      Am nächsten Tag in der Schule kreisten viele der Pausengespräche unter den Klassenkameraden um Nomis Verschwinden. Karl war sich wohltuend wichtig vorgekommen, eine Neuigkeit als selbst Betroffener zum Erzählen zu haben, und entsprechend genussvoll verbreitete er sich auch über das Unrecht, das seiner Familie hier zugefügt worden war. Besondere Würze an Spannung erhielt das Ganze noch durch das Gerücht, der Vater habe zuvor einen Einbruch oder einen Raub begangen und sei viel eher deshalb so Hals über Kopf aufgebrochen und nicht so sehr, um Gulachs um die ausstehende Miete zu prellen. Dabei hatte Nomi selbst nur ein paar vereinzelte Fürsprecher, die sie davor in Schutz nahmen, mit ihrem Vater in einen Topf geworfen zu werden, und die sie eher dafür bedauerten, an einen solchen Schurken gekettet zu sein. Die meisten hielten sie einfach für ihres Vaters Komplizin und beteiligten sich eifrig an Karls Empörung und Rudolphs inbrünstigen Schimpftiraden. Beide hatten ein offensichtliches Vergnügen an dieser vermeintlichen Bestätigung ihrer von Anfang an vertretenen Ansicht und triumphierten lautstark.

      Johannes bekam gleich noch seinen Teil ab, indem die beiden und noch eine Handvoll anderer nicht an Hohn und Spott für seine Parteilichkeit sparten.

      Agnes und Elsa waren es vor allem, die auf Nomis Seite waren und den Jungs Widerworte gaben. „Mir tut sie bloß leid“, sagte Agnes, „und außerdem kann man sich auch wirklich Sorgen machen, was mit ihr wird. Jetzt hat sie ja vielleicht überhaupt niemanden mehr in der Nähe, der ihr helfen würde, wenn’s mal ganz schlimm kommt!“ - „Und ich find’s einfach schade, dass sie nicht mehr da ist“, ließ Elsa sich hören. „Sie war irgendwie... irgendwie was Besonderes, finde ich.“

      Fritz hielt sich aus diesen Diskussionen ganz heraus. Er stand stumm und unglücklich dabei und schaute immer wieder verunsichert auf Johannes, besonders, als man dem eine besondere Zuneigung für das verschollene Mädchen nachsagte und sich darüber köstlich amüsierte. Er bewunderte ihn dafür, wie er sich gar nicht provozieren, aber ebenso wenig sich in seiner Meinung erschüttern ließ. Aber Fritz litt auch mehr denn je unter dem Gefühl der Eifersucht, das sich schon eine Weile in ihm breit gemacht hatte,