Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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erzähl ich es dir ja auch. Aber du kriegst doch selbst mit, wie die meisten anderen reden und tuscheln und feixen. Das ist immer und überall dasselbe. Solange sie sich nur über mich lustig machen, ist mir das gleich. Ich bin ja nun mal eben keine Zigeunerin“, wiederholte sie trotzig. „Aber ... aber meine Mutter, die ... die werfe ich denen nicht vor die Füße!“ Sie hatte Tränen in den Augen, als sie nun wieder nach draußen auf den Kanal schaute.

      „Hast du denn schon an vielen Orten gewohnt, bevor ihr hierher gezogen seid?“

      „Ach, unzählige, keine Ahnung wie viele!“

      „Und überall waren sie so ... so hässlich zu dir? So wie Rudolph zum Beispiel?“

      Sie nickte. „Du siehst, ich bin längst dran gewöhnt.“

      „Aber etwas verstehe ich nicht: Warum hast du denn eigentlich neulich dem Rudolph aus der Patsche geholfen? Du weißt schon, als du die beiden Kerle in die falsche Richtung geschickt hast, damit er ihnen entwischt? Das wollte ich schon lange fragen.“

      „Ach das. Hatte ich schon ganz vergessen. Woher weißt du denn davon?“

      „Ich war zufällig in der Nähe und hab alles gesehen. Da hast du doch glatt den gerettet, sozusagen, der dich am meisten und schlimmsten piesackt. Warum bloß?“

      Nomi sah kurz zur Seite, zuckte dann mit der Achsel und fragte zurück: „Und du? Was hättest du denn gemacht? Hättest du ihn etwa verraten?“

      „Hmmm. Nein“, antwortete Johannes. „Aber das ist doch auch was anderes. Wir sind ja sozusagen Freunde. Das kann man von dir und ihm ja wirklich nicht behaupten. Er ist schließlich dein größter Feind hier, und da hättest du die Gelegenheit gehabt, es ihm heimzuzahlen.“

      „Ach Gott, Feind... Na ja, Mühe gibt er sich ja...“, sagte sie lächelnd und zuckte wieder die Schultern: „...keine Ahnung - ich weiß auch nicht. Die hätten doch kein heiles Haar an ihm gelassen!“

      Im Grunde brauchte er auch gar keine Erklärung mehr dafür, es war mit einem Mal überhaupt nicht mehr so unbegreiflich, und er wechselte das Thema: „Wovon handelt denn dein Lied nun eigentlich?“

      „Na, wovon solche Lieder eben handeln: von der Liebe, von zweien, die sich suchen und nicht finden, von Herzweh, und so weiter. Mutter hat es mir beigebracht.“

      „Dann kannst du also diese Sprache richtig sprechen?“

      „Ja. Wenn wir allein waren, hat sie oft so mit mir gesprochen.“ Noch jede Menge schöner Lieder habe sie sie gelehrt, bunte, märchenhafte Geschichten erzählt und die Lehren, Werte, Regeln und Gesetze ihres Volkes erklärt, habe ihr berichtet, wie es früher, vor ihrer Heirat, gewesen war. Nomis Leben, so hart es auch damals schon sein mochte, war gut und rund und richtig gewesen, solange die Mutter noch dagewesen war; die Quelle alles dessen, was dem Mädchen Halt und Kraft gab, all ihrer Lebenswärme und undemonstrativen frühreifen Weisheit war diese Mutter, diese enge Mutter-Tochter-Liebe und die unausgesprochen hochgehaltene und hartnäckig verteidigte Treue zu ihr, das wurde aus allem, was und wie sie davon erzählte, spürbar.

      „Aber warum seid ihr denn eigentlich nicht bei ihren Leuten geblieben?“ wollte Johannes wissen, dem es um die Pferdewagen wirklich leid war.

      „Na, wegen meinem Vater.“

      „Also, an seiner Stelle wäre ich lieber mit denen rumgezogen als meine Frau ins normale Leben wegzuholen!“

      Er blickte den Wasserlauf entlang, auf dessen kleinen Wellen die Lichtreflexe der spätnachmittäglichen Sonne tanzten. Zwischen dem Ufergebüsch der nächsten Biegung glitt ein langgestrecktes, flaches Boot gemächlich aus dem Gesichtsfeld. Darüber schossen jauchzend und kreischend wilde Banden von Mauerseglern hin und her und warfen sich ausgelassen, tollkühn und vertrauensselig in das nach Westen zu wie durch hauchdünn ausgeschlagenes feinstes Gold hindurch immer gläsern-grünlicher, immer lichter, immer ätherischer durchscheinende Himmelsblau hinein. Von dorther hatte die sinkende Sonne in diesem Augenblick einen freien Durchlass gefunden geradewegs aus den Weiten des Himmels zwischen allen Hindernissen aus Gebirgen, Häusern, Bäumen hindurch, so dass das rötlich-gelbe Licht sich in Nomis schwarzem Haarschopf fing und ein überirdischer Strahlenkranz sie zu umgeben schien.

      Nach ein paar Sekunden Schweigen sagte Nomi: „Er hatte gar keine andere Wahl. Sie wollten ihn nicht mehr bei sich haben, haben ihn weggejagt aus der Sippe. Da ist Mutter mit ihm gegangen.“

      „Warum? Weil er keiner von ihnen war?“

      „Nein, er hatte wohl irgendwas angestellt, gegen ihre Gesetze verstoßen. Ich weiß das nicht so genau.“

      „Und ... und ist sie jetzt schon lange tot?“

      „Drei Jahre oder ein bisschen mehr. Das ist lang, oder? Trotzdem: manchmal glaub ich, ich kann mich besser an sie erinnern und an die Zeit, wo sie noch da war, als an alles, was seither gewesen ist; und jeden Tag wünsch ich sie mir zurück, immer, immer!“

      „Mein Vater ist schon ganz lange tot, da war ich nicht mal drei. Ich kann mich leider fast gar nicht erinnern.“ Er lächelte leicht bei dem Versuch, die vagen Bilder, die ihm geblieben waren, abzurufen. „Sehr groß muss er gewesen sein. Wenn er mich auf seinen Schultern hat reiten lassen, habe ich alles von ganz hoch oben betrachtet. Und bei uns auf der Kommode steht ein Foto von ihm, deshalb weiß ich, wie sein Gesicht war.“ Plötzlich lachte er: „Das würde sich doch prima ergänzen, denke ich grade: du und dein Vater und ich und meine Mutter - das wäre zusammen wieder eine komplette Familie.“

      „Bloß nicht!“ Nomi wehrte erschrocken ab. „Das wünschst du deiner Mutter nicht!“ Sie biss sich auf die Lippen und sah zur Seite, wie wenn sie die Worte bereute, sobald sie gesagt waren.

      „Na, war ja nur ein Scherz“, beschwichtigte er. „Ist er denn wirklich so schlimm, dein Vater?“

      Nomi schwieg.

      „Die Leute sagen furchtbare Sachen von ihm. Dass er dich ganz elend schlecht behandelt vor allem.“

      Mit abgewandtem Gesicht und in einem leisen, gepressten Ton sagte Nomi nur: „Er ist mein Vater!“, und es war deutlich, dass sie zu dem Thema nichts weiter zu sagen wünschte. Das war indessen schon eloquent genug, und Johannes spürte eine Auflehnung, eine Empörung in sich aufsteigen, und leistete im Stillen einen hochherzigen, ritterlichen Schwur, er werde von jetzt an ihr Beschützer sein und nicht mehr zulassen, dass ihr von irgendjemandem, auch nicht von ihrem Vater, ein Leid geschehe. Wie er das anstellen wollte, hatte er freilich keine Ahnung.

      „Trotzdem: dann wärst du ja meine Schwester. Und ... und das fänd ich richtig toll.“ Noch war er gerade Kind genug, um auf keinen anderen Gedanken zu kommen, wenn er auch undeutlich spürte, dass es nicht genau das traf, was er sich wünschte und was er empfand. „Ja, so einen Bruder könnt ich schon brauchen“, gab Nomi lachend zu.

      „Sag mal“, fing sie wieder an, „was war das damals eigentlich für ein Spiel, als ich ganz neu hier war - da seid ihr alle, die ganzen Kinder aus der Straße, dort drüben an der Mauer gewesen und irgendwie alle übereinander geklettert, und Fritz ist dann doch runtergefallen, weißt du noch?“

      „Oh je, und ob ich das noch weiß! Erinnere mich bloß nicht an diesen Tag!“ Und er erzählte ihr von seinem Missgeschick mit dem Buch.

      „Herr Mäuthis scheint ja große Stücke auf dich zu halten, nicht? Na, du bist ja auch der Beste in der Klasse.“ Sie lachte auf: „Ich bin immer noch dabei zu überlegen, ob ich die Frage richtig verstanden habe, da hast du schon die Antwort. Es ist schon genau richtig, dass du demnächst auf die höhere Schule gehst.“

      „Was?!? Woher hast du das denn schon?“

      „Rudolph hat das vor ein paar Tagen herumposaunt, als wir alle auf dem Nachhauseweg waren. Das konnte man gar nicht nicht hören. Er hatte wohl an der Tür gelauscht, als Mäuthis mit dir drüber gesprochen hat. - Stimmt es denn nicht?“

      „Na, jedenfalls ist es überhaupt nicht sicher. Morgen muss ich erst so eine Art Prüfung bestehen oder ein Vorstellungsgespräch bei jemandem,