Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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eher junge Männer auf, rannten auf Nomi zu und fragten sie etwas, beinahe ohne im Lauf innezuhalten. Johannes sah, wie sie geradewegs in die falsche Richtung wies, als wolle sie Rudolph helfen, seinen Verfolgern zu entkommen. Dann ging sie ruhig weiter ihres Weges. Mit offenem Mund blieb er stehen: Was der Junge ausgefressen hatte, um den Zorn dieser Kerle auf sich zu ziehen, wusste er natürlich nicht. Hätten sie ihn erwischt, dann wäre es ihm sicher schlecht ergangen, die hatten nicht so ausgesehen, als würden sie auf das zartere Alter ihres Gegners Rücksicht nehmen. Vielleicht hatte er ja auch etwas geklaut, und sie hätten ihn, außer ihn zu verprügeln, auch noch zur Polizei geschleppt. Jedenfalls wäre es für Nomi ein Leichtes gewesen, die beiden auf seine Fährte zu bringen. Stattdessen rettete sie ausgerechnet diesen ihren größten Feind und Peiniger vor wahrscheinlich sogar verdienter Unbill. Der hatte davon nicht einmal etwas bemerkt, so dass er ja glauben musste, er habe sein Davonkommen seiner eigenen Geschicklichkeit zu verdanken. Wenn in den nächsten Tagen Rudolph wieder mal seine Schikanen an dem Mädchen übte, ohne dass die ihn über ihre heimliche Wohltat aufklärte, war Johannes stark versucht, das für sie zu erledigen und es Rudolph unter die Nase zu reiben. Da er sich aber nicht sicher war, dass ihr das recht gewesen wäre, ließ er es bleiben, nahm sich aber fest vor, das eines Tages nachzuholen, wenn es ihm zu bunt würde.

      Unterdessen taten sich bei ihm selbst jedoch Dinge, die seine Welt gehörig in der Achse knirschen ließen, und das war durchaus kein Bremsgeräusch sondern das einer Beschleunigung und Richtungsänderung, die er sich nie hätte träumen lassen. Infolgedessen ging sein Puls in den letzten Tagen ständig schnell und aufgeregt, und oft schwindelte ihn, wenn er an die Eventualitäten dachte, die sich da anbahnten.

      Sein Lehrer hatte ihn doch allen Ernstes gefragt, ob er nicht versuchen wolle, auf eine höhere Schule zu wechseln! Er habe ihn jetzt seit den Sommerferien im Auge gehabt, seine Leistungen verfolgt und ihn auch sonst unauffällig auf Herz und Nieren geprüft, und sei zu dem Schluss gekommen, er habe das Zeug dazu. Was er davon halte?

      Johannes konnte zunächst einmal gar nichts halten, schon gar nicht einen solchen Gedanken in seinem Kopf. Er stammelte hilflos, dass das doch gar nicht ginge, so etwas sei doch gar nicht möglich, er sei doch... sei doch bloß..., und wusste sein Gefühl der Unvereinbarkeit dann doch nicht genauer zu bestimmen.

      Daraufhin empfahl ihm Herr Mäuthis, sich den Vorschlag bis zum nächsten Tag gründlich durch den Kopf gehen zu lassen und zunächst einmal ganz ohne Rücksicht auf etwaige Hinderungsgründe herauszufinden, ob er dazu überhaupt Lust hätte. Morgen würde man weiter darüber reden, man brauche gar nichts zu überstürzen.

      Als das Karussell in seinem Kopf endlich ein wenig langsamer fuhr, versuchte er sich auszumalen, was denn dieser Vorschlag eigentlich bedeuten würde. Und zwischen ängstlichem Zurückschrecken und dem Gefühl, aus Mangel an konkreter Information in viel zu vagen Spekulationen zu schwimmen, kamen immer stärker sein Wissensdurst zu Wort, seine Lust, mehr von Welt und Leben kennen zu lernen, sein Ehrgeiz, sich größere Spielräume zu erschließen. Und am nächsten Tag sagte er seinem Lehrer, dass, wenn so etwas überhaupt denkbar wäre, dann würde er es wirklich gerne versuchen.

      Nun wurde Herr Mäuthis konkreter: er könne zwar nicht versprechen, dass wirklich etwas daraus würde; aber es gebe Förderungsmöglichkeiten für begabte Schüler aus den armen Schichten, und selbstverständlich werde er, Mäuthis, alles tun, was in seiner Macht stehe, um Johannes bei der Beantragung eines solchen Stipendiums und, falls dies positiv ausginge, bei der Vorbereitung des Schulwechsels zu unterstützen. Jetzt solle dieser aber noch einmal neu über die Sache nachdenken und dabei berücksichtigen, dass es bestimmt nicht einfach werden würde.

      „Du wirst viel, sehr viel mehr für die Schule arbeiten müssen als jetzt. Hier ist dir ja alles mehr oder weniger zugeflogen. Aber die Anforderungen sind hier ja auch recht begrenzt, und dort gibt es erstens mehr Fächer als hier, zweitens haben die anderen Schüler schon einen großen Vorsprung, den du anfangs erst einmal zusätzlich aufholen müsstest. Ich glaube allerdings, dass du das schaffen könntest. Außerdem, wenn nicht, hättest du eigentlich nichts verloren, du hättest immer noch dieselben Möglichkeiten wie jetzt auch. Es wäre andererseits auch wieder nicht dasselbe: du hättest ein Scheitern zu verkraften, und gleichzeitig wärest du vielleicht mit den Dingen nicht mehr zufrieden, die dir jetzt noch völlig genügen würden.

      Und noch etwas müsstest du dir klarmachen: es würde auch nicht leicht für dich, was das Verhältnis zu deinen Kameraden angeht, das wirst du dir denken können: dort müsstest du damit rechnen, dass viele dich ablehnen, weil du arm bist und die anderen zumeist aus wohlhabenden Bürgerfamilien stammen; hier, unter den Kindern aus dem Viertel, würdest du höchstwahrscheinlich auch ausgegrenzt, würdest auch hier nicht mehr richtig dazugehören - ein Außenseiter wärest du also schließlich überall.“ Bei diesen Worten hatten beide unwillkürlich zu Nomis Pult hinübergeblickt.

      „Ich sage dir das alles nur“, fuhr Mäuthis fort, „damit dir so deutlich wie möglich ist, worauf du dich einließest, wenn du deine Entscheidung triffst.“

      Zum Schluss machte er Johannes aber noch einmal Mut: er traue ihm das uneingeschränkt zu, und dieser Weg würde ihm so viel mehr Möglichkeiten eröffnen, seine Fähigkeiten für sein Leben zu nutzen. – „Überleg dir also gut, ob du dir das alles zumuten möchtest. Und hab dabei bloß keine Angst, ich würde es dir übel nehmen, wenn du schließlich ‚nein‘ sagst. Denk allein daran, was für dich das Beste scheint. Nur vergiss nicht, wenn du ja sagst, musst du da nicht allein durch, du dürftest hundertprozentig auf mich zählen.“

      Damit entließ Mäuthis ihn in einen weiteren Tag der Schwindelgefühle. Ziellos lief er in der Gegend umher, kickte gedankenverloren Steine vor sich her, hielt nach seinen Freunden Ausschau; wenn er aber welche von weitem sah, wich er doch aus und mied das Zusammentreffen. - Würden die ihn wirklich nicht mehr mitmachen, nicht mehr an ihrem Leben teilhaben lassen, bloß weil er auf eine andere Schule ginge? Würden sie ihn auslachen, ihn verachten? Wären sie neidisch und gehässig? - Pah, sollten sie doch, die wären ja selber blöd! Er jedenfalls würde sein wie immer und ihnen gar keinen Grund geben, sich gegen ihn zu wenden!

      Am Abend erzählte er endlich auch seiner Mutter von dieser neuen Aussicht. Bis dahin hatte er sich schon entschlossen, dass all die Schwierigkeiten, vor denen sein Lehrer ihn gewarnt hatte, ihn nicht abschrecken sollten, eher gerade im Gegenteil!

      Seine Mutter erschrak nicht schlecht vor dem, was ihr Sohn ihr da unterbreitete. Des Vaters Wunsch nach einer guten Ausbildung für den Jungen in allen Ehren, aber darunter war doch wohl nicht mehr zu verstehen gewesen, als dass er regelmäßig und die vorgeschriebenen Jahre lang die Volksschule besuchen und möglichst gute Noten erzielen solle, um dann eine anständige Handwerkslehre machen zu können?

      Für den nächsten Nachmittag hatte Herr Mäuthis seinen Besuch bei der Mutter ankündigen lassen. Er kam, um ihr Einverständnis zu erbitten, das für das Vorhaben erforderlich sein würde, und sah gleich, dass er hier zuerst einmal starke Vorbehalte und große Ängste würde beschwichtigen müssen. Da mischten sich konkrete Einwände wie die Sorge vor finanzieller Überforderung mit diffusen Befürchtungen angesichts des völlig unbekannten Terrains, das sie, selbst denkbar schlecht ausgerüstet, betreten sollte; sicher auch davor, dass der Sohn ihr entfremdet, ihr abhandenkommen würde.

      Ihre materiellen Sorgen entkräftete er, indem er auch ihr die Möglichkeit eines Stipendiums auseinandersetzte. Man werde versuchen, nicht nur einen Freiplatz, wo lediglich kein Schulgeld bezahlt werden müsse, sondern ein volles Stipendium zu erhalten, wo zusätzlich auch eine Extraunterstützung für die weiteren nötigen Ausgaben wie Kleidung, Bücher, Hefte und solche Dinge bezahlt werden. Er habe sich schon einmal umgehört und Kontakte aufgenommen, bevor er das Thema überhaupt zur Sprache brachte, und könne sagen, es gebe mindestens eine Stelle, an der sie gute Aussichten hätten. Da müsse der Junge nur hingehen und sich persönlich vorstellen. Wenn der Gründer und Vorsitzende der Stiftung einen guten Eindruck gewinne, dann könne eigentlich fast nichts mehr passieren. Bei dem Vorgespräch habe der ein großes Interesse an Johannes’ „Fall“ gezeigt und ihm schon recht viel Hoffnung gemacht.

      Frau Reiser rückte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und sah immer noch nicht glücklicher aus. „Aber müssen muss ich nicht, oder,