Die verriegelte Tür hinter dem Paradies. Ein Roman frei nach Heinrich von Kleist. Karis Ziegler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karis Ziegler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742703859
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weiß ja nicht... dann muss er den ganzen Tag nur lernen und lernen, das ist doch auch nichts für ein Kind. Und wer weiß, was alles für seltsame Sachen sie ihm da beibringen wollen...“

      „Nein, natürlich sind Sie dazu nicht verpflichtet, sonst hätte es ja auch wenig Sinn, Sie überhaupt zu fragen“, gab Herr Mäuthis zu. „Aber sind Sie denn wirklich sicher, dass Sie ihrem Sohn diese Chance vorenthalten wollen? Ja natürlich, er wird viel arbeiten müssen, besonders am Anfang, damit er aufholt, was die anderen ihm schon voraushaben. Latein wird er ganz von vorne lernen müssen...“ Da machte Johannes große Augen - davon war noch gar nicht die Rede gewesen, und ein wenig verließ ihn bei dem Gedanken schon der Mut - „... aber ich hab ihm auch versprochen, dass ich ihm so viel helfen werde, wie ich kann, um ihm den Einstieg zu erleichtern. Wir werden die Ferien über jeden Tag arbeiten...“ - er sah zu Johannes hinüber und lächelte ihm aufmunternd zu, „Ja, ich weiß, davon habe ich noch gar nichts erzählt. Aber das werden wir auch noch hinkriegen, wenn alles andere klappt, oder?!“

      „Aber warum?“, schaltete die Mutter sich wieder ein. „Warum wollen Sie sich so viel Mühe machen? Und warum ausgerechnet mein Junge?“

      „Ja, warum?“, erwiderte Herr Mäuthis. „Vielleicht einfach, weil Ihr Sohn mich so sehr an mich selbst erinnert, auf eine Weise. - Das Handwerk meines Vaters hätte ich erlernen und sein kleines Geschäft weiterführen sollen, das wäre mein vorgezeichneter Weg gewesen. Aber da war immer dieser Wunsch, über das hinauszugehen, was sich von selbst verstanden hätte, weiterzukommen, in des Wortes doppelter Bedeutung, diese Neugier auf das, was wohl hinter dem Tellerrand liegen mochte. Und bei Johannes habe ich all das von Anfang an wiedererkannt. Natürlich hatte ich es mit Sicherheit leichter, hatte eine günstigere Ausgangsposition und weniger Hürden zu überwinden. Dafür aber sehe ich auch, dass seine Kräfte größer sind als meine je gewesen wären, und deswegen bin ich davon überzeugt, dass er es schaffen könnte. Und ich bringe das einfach nicht fertig, kann nicht schulterzuckend zusehen, wie da ein junges Leben mit gestutzten Flügeln auf allen Seiten von Mauern umstellt ist, an denen es sich den Schnabel blutig stößt, und wie seine hilflosen Sprünge in die Freiheit sich in dichten, dunklen, staubigen Vorhängen verfangen - lassen Sie uns ihm doch Schwingen bauen für sein Sehnen - sie benutzen und fliegen muss er dann ohnehin selbst!“

      Frau Reiser hatte kaum etwas von dem verstanden, was er da alles gesagt hatte, aber sie hatte gesehen, wie er sich in Begeisterung und Leidenschaft redete, und sie hatte Johannes gesehen, der mit leuchtenden Augen zugehört hatte und sie jetzt bittend ansah. Und sie hatte herausgehört, wie viel dieser Mann, für sie eine absolute Respektsperson, von ihrem Jungen hielt, und das war sowieso der sicherste Weg, sie zu gewinnen. Sie seufzte resigniert, „Ach, dass auch dein Vater nicht mehr da ist! Wie soll denn ich bloß wissen, was richtig ist?!“

      „Aber der war doch immer so für Schule und Lernen und so, das hast du doch selbst immer erzählt!“

      „Ja, schon, aber wer denkt denn gleich an so etwas! Aber wenn dein Lehrer so sehr überzeugt ist, werde ich mich am Ende doch nicht dagegenstellen.“

      „Sein Vater wäre einfach stolz auf ihn gewesen“, sagte Herr Mäuthis, „da bin ich mir sicher. Und es kann ja ihm und Ihnen nichts passieren: haben wir Erfolg, und kommt er gut klar, haben alle gewonnen. Geht es schief, macht er dort weiter, wo er jetzt steht.“

      Am Ende hatten die vereinten Überredungskünste von Schüler und Lehrer schließlich erreicht, dass letzterer doch noch die von der Mutter unterschriebene Einwilligung zu dem Stipendienantrag und dem Antrag auf Zulassung zum Gymnasium mitnehmen konnte. Am nächsten Tag sollte Johannes dann mit ihm zu dem potentiellen Wohltäter gehen, um, so gut er konnte, selbst für seine Sache zu plädieren.

      Nachdem Mäuthis gegangen war, standen Mutter und Sohn einander gegenüber und sahen sich eine ganze Weile lang stumm an. Die eine versuchte, eine aufkommende Panik zu unterdrücken und den Impuls, hinterherzustürzen und das Papier wieder zurückzuverlangen. Der andere war dagegen wie betäubt von dem Lauf, den die Dinge nahmen. Er konnte kaum fassen, dass dies alles wirklich, in der echten wahren Wirklichkeit, mit ihm geschehe, dass es nicht nur ein Traum, ein Spiel sei; solange das noch nicht richtig bei ihm angekommen war, konnte er auch noch keine der zu erwartenden Reaktionen zeigen: Vorfreude, Furcht, Aufregung, alles dies war noch von einer Art Überrumpelungsbenommenheit in Schach gehalten.

      „Was hab ich da nur getan?!“ fing die Mutter plötzlich an zu flüstern. „Kann denn das überhaupt gut gehen? ...Sag schon, Hannes, hab ich das Richtige getan?“

      „Ja doch, Mutter, ja! Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut, wirst schon sehen!“ Plötzlich fing er an zu lachen. „Pass auf, wenn ich dann ganz reich und ... berühmt bin, dann bau ich dir das schönste Schloss und kauf dir die schönsten Kleider, und du brauchst nie mehr zu rackern und zu schuften und zu sparen, und wir haben immer genug zu essen, und ich bin ein wichtiger Mann, und du bist ganz stolz auf mich...“ Während er so bramarbasierte, kam ihm selbst das alles immer unwahrscheinlicher vor, und er musste wieder und wieder lachen.

      Die Mutter sank inzwischen ganz kraftlos auf die Bank und schüttelte den Kopf. „Also, was du dir da alles zusammenphantasierst!“, warf sie dazwischen.

      „Na, und wenn schon! Dann wird’s halt kein Schloss, und ich nicht berühmt, ist doch auch egal. Es kann doch aber nichts wirklich Schlimmes passieren. Wovor sollten wir uns denn eigentlich fürchten?“

      „Ich weiß auch nicht. Mir wär am liebsten, wenn alles so ist und so bleibt, wie ich’s kenne, alles andere macht mir einfach bange.“

      „Und vielleicht kommt es ja am Ende gar nicht dazu. Wenn morgen dieser Vorsitzende, oder was er nun ist, findet, dass ich so ein Stipendium nicht verdiene, dann bleibt ja sowieso alles beim Alten.“

      Sie aber sah dem Sohn schon die ersten Flügelspitzen wachsen, sah ihn als zukünftigen „feinen Herrn“ seiner Mutter, „die mal grade eben lesen und schreiben konnte“, in Scham den Rücken kehren und zum Absprung, zum weiten, freien Flug – weg von ihr - ansetzen, was er wiederum unter Protest und hoch und heiligem „großem Ehrenwort!“ weit von sich wies.

      So trösteten, ermutigten die beiden sich gegenseitig, eine Art gemeinsames Pfeifen im Dunkeln, bis die Mutter sich seufzend aufraffte, um sich an ihre Arbeit zu machen.

      Jetzt hielt es Johannes nicht länger drinnen, und er rannte hinaus auf einen seiner ziellos-unruhigen Streifzüge. Angetrieben von einem übersteigerten, aber ungerichteten Impuls stürmte er durch die Straßen, blind für alles um ihn her, während vor seinem inneren Auge Bild um Bild aufschien. Da sah er sich einer Gruppe geschniegelter Jungen in blitzsauberen Matrosenanzügen gegenüber, die ihn skeptisch, verächtlich, hochmütig von oben bis unten musterten und sich dann kaltschultrig abwandten; sah sich über Büchern voller unentzifferbarer Hieroglyphen schwitzen, verlegen stammelnd, weil er die Lektion nicht verstanden hatte, hörte Hohngelächter um sich und blickte in ein böses, ungeduldiges Lehrergesicht; zum Trost und Mutmachen stellte er sich schnell das Gegenteil vor: eine Lehrerfrage steht im Raum, unwissendes Schweigen der ganzen Klasse, er allein meldet sich, gibt die richtige Antwort, erhält unwillig bewundernde Blicke von den Mitschülern und ein aufmunterndes Lob des Lehrers. Er erinnerte sich wieder der Honoratiorenrunde, deren Gesprächen er damals beim Maskenfest zugehört hatte und an die neidvoll-ehrgeizigen Wünsche, die das bei ihm geweckt hatte. Dabei schien aus der gleichen Erinnerung heraus der vage Eindruck eines seltsam freundlich zusprechenden weißen Maskenlächelns aus unwahrscheinlicher Bläue auf und verstärkte noch das Gefühl der herzklopfenden, hoffnungsfrohen Erregung, das ihn durch die Straßen trieb.

      Wohin würde das alles führen? Würden ihm wirklich ganz neue Türen offen stehen? Was würde er wohl aus seinem Leben machen können mit dieser Chance, oder das Leben aus ihm? Halb angedachte Pläne, gute Vorsätze und Phantasien von Reichtum und Ansehen drängten einander abwechselnd aus seinen Gedanken, und erst, als er nach einer guten Weile ganz ungeplant wieder in seine Straße zurückgelangt war, außer Atem und müde gelaufen, ohne die geringste Vorstellung, wo alles er herumgekommen war in diesen letzten ein, zwei Stunden, da kamen mit der körperlichen Erschöpfung auch die Gedankenturbulenzen allmählich zur Ruhe. Plötzlich fiel ihm wieder